Franz Essl: "Ich sehe große Verantwortung bei der Politik"

Gäbe es eine ordentliche Klimapolitik, gäbe es auch keine Notwendigkeit, sich auf der Straße festzukleben, sagt Franz Essl, Wissenschaftler des Jahres 2022. Im Interview erklärt der Umweltforscher, warum er die Klimaaktivisten unterstützt.

von Franz Essl, österreichischer Wissenschafter des Jahres 2022 © Bild: IMAGO/SEPA.Media

Sie sind einer von etwa 40 Wissenschaftlern, die sich mit den Klimaaktivisten der "Letzten Generation" solidarisiert haben. Warum dieser Schritt?
Ich verstehe ihn als Solidaritätsbekundung mit den Anliegen der Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten. Ihre Aktivitäten sind ein Ausdruck großer Besorgnis, und sie versuchen daher, gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu erregen. Mir ist klar, dass Proteste wie Straßenblockaden auch Irritationen erzeugen können. Man muss sich natürlich immer gut überlegen, welche Mittel man anwendet, um auch politischen Handlungswillen zu erzeugen. Diese Abwägung ist schwierig. Aber ich trage die übergeordneten Motive der Aktivisten mit. Gäbe es eine angemessene Klimapolitik, gäbe es diese Notwendigkeit auch nicht.

Sind diese Aktionen kontraproduktiv, weil sie Teile der Bevölkerung gegen die Klimabewegung aufbringen?
Das ist tatsächlich eine wichtige Frage, und ich muss gestehen, ich habe keine klare Antwort darauf. Das lässt sich derzeit wahrscheinlich auch gar nicht so leicht beantworten. Historisch gesehen gibt es Beispiele, die in beide Richtungen gehen. Die Erkämpfung des Frauenwahlrechts war auch durchaus disruptiv und hat viel Ablehnung hervorgerufen, war aber rückblickend betrachtet ein wesentlicher Schritt. Ich wünsche und hoffe, dass es in diesem Fall auch so sein wird.

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Wann ist es historisch in die falsche Richtung gegangen?
Die Entwicklung ist nicht direkt vergleichbar, aber in den 1970er-Jahren hat es eine kleine Minderheit gegeben, die sich ausgehend von der erfolgreichen 68er-Bewegung radikalisiert hat. Das war, wie gesagt, eine kleine Splittergruppe. Aber es ist schon wesentlich, die Form des Protests so zu wählen, dass er legitim bleibt.

Sehen Sie Radikalisierungstendenzen in der Klimabewegung?
Ich sehe eine große Verantwortung bei der Politik. Denn die Pariser Klimaziele wurden damals ja nur beschlossen, weil es auf höchster politischer Ebene einen Konsens darüber gibt, dass alles zu tun ist, um den gefährlichen Klimawandel zu vermeiden. Wenn endlich auch entsprechendes politisches Handeln erkennbar wird, sehe ich wenig Gefahr für eine Radikalisierung. Wenn das nicht eintritt, kann es aber natürlich sein, dass es in die falsche Richtung geht.

Franz Essl, österreichischer Wissenschafter des Jahres 2022
© IMAGO/SEPA.Media Franz Essl
Der Biodiversitätsforscher ist am Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien tätig und forscht zur weltweiten Verbreitung gebietsfremder Arten und zum Verlust der Artenvielfalt. Er zählt zu den meistzitierten Wissenschaftlern in Österreich. Essl wurde vom Klub der Bildungs-und Wissenschaftsjournalisten zum Wissenschaftler des Jahres 2022 gekürt, eine Auszeichnung für exzellente Wissenschaftsvermittlung.

Viele Wissenschaftler warnen seit vielen Jahren und Jahrzehnten vor dem Klimawandel, scheinbar ohne großen Erfolg. Stößt die herkömmliche Art der Wissenschaftskommunikation an ihre Grenzen?
Das Klimathema ist in den vergangenen Jahren politisch und gesellschaftlich deutlich breiter geworden ist. Ich glaube, das verändert auch die Art der Kommunikation. Die bisher übliche Form der Wissenschaftskommunikation, nämlich auf Basis von Fakten Einsichten in die Gesellschaft zu tragen und damit auch gewisse Schlussfolgerungen zu verbinden, ist weiterhin wichtig. Es kommen aber andere Formen, auf das Thema aufmerksam zu machen, dazu. Demonstrationen und Aktionen, wie jene, die wir in den vergangenen Monaten gesehen haben. Ich glaube aber nicht, dass das eine das andere obsolet macht.

Bewegt sich die Klimawissenschaft in Richtung Aktivismus?
Es gibt viele Umweltforschende, die bereit sind, aufgrund der Dringlichkeit der Situation deutlichere Maßnahmen zu setzen als früher. Das bedeutet dann vielleicht Elemente, die näher am Aktivismus sind. Man muss sich als Wissenschaftler aber immer darüber im Klaren sein, welche Rolle man einnehmen möchte. Es ist wichtig, bei gesellschaftlich bedeutenden Themen den Austausch mit der Gesellschaft zu suchen, aber auch zu wissen, wo man seine persönlichen Grenzen ziehen möchte. Es kann nämlich passieren, dass man nicht mehr ausschließlich in der Rolle als Wissenschaftler wahrgenommen wird, wenn man sich stark positioniert. Diese Gratwanderung ist nicht ganz leicht.

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Ist es grundsätzlich legitim, dass Wissenschaftler so deutlich Position beziehen?
Ich halte es für legitim in einer Situation, in der die Beobachtungen, die man als Umweltwissenschaftler macht, sehr eindeutig und besorgniserregend sind. Hier in der Rolle eines beobachtenden und beschreibenden Wissenschaftlers zu verharren, ohne die Gesellschaft über existenzielle Risiken zu informieren, hielte ich für keine ausreichende Beschreibung des Forschens.

» Ich halte es für wichtig, eine positive Vision der Veränderung zu vermitteln «

Mit Alarmismus verschrecke man die Menschen nur, heißt es oft. Umgekehrt fördere zu positive Kommunikation über die Klimakrise das Gefühl, es sei eh alles nicht so schlimm. Wie sehen Sie dieses Dilemma?
Es braucht letztlich von beiden Elementen etwas. Ich halte es aber für wichtig, eine positive Vision der Veränderung zu vermitteln und Lösungswege aufzuzeigen. Und die gibt es auch. Es gibt zwar nicht die eine, einzige Antwort, aber mit mehreren Schritten, zum Beispiel in der Verkehrspolitik, der Besteuerung fossiler Brennstoffe und der Flächenwidmung, kommen wir weit.

"Die Welt, wie wir sie kannten, existiert nicht mehr." Diese drastische Einschätzung hört man in Ihren Vorträgen. Was meinen Sie damit genau?
Wir Menschen haben in den vergangenen wenigen Jahrzehnten das Ökosystem Erde mit einer Geschwindigkeit verändert, die beispiellos ist. Die Bilder von heiler, intakter Natur, die wir noch im Kopf haben, entsprechen nicht mehr dem typischen Zustand der Erde. Viele Landschaften haben sich komplett geändert. Nicht auf einmal, sondern über Jahrzehnte. Global führt das zu einer Zerstörung sehr vieler Lebensräume. Ein Bild, das ich häufig verwende, weil es sehr anschaulich ist: Menschen und ihre Nutztiere machen mehr als 95 Prozent des globalen Gewichts der großen Säugetiere auf der Erde aus, die restlichen fünf Prozent teilen sich alle anderen Tierarten. Das zeigt sehr deutlich, wie wir Menschen die Erde überformt haben.

»Ich kann den Klimawandel nur begrenzen, wenn ich auch die Umweltzerstörung begrenze«

Ihr Spezialgebiet ist die Biodiversität. Wie hängen Artenvielfalt und Klimawandel zusammen?
Es sind zwei Seiten derselben Medaille, weil die Ursachen dieser Krisenphänomene dieselben sind. Nämlich, dass wir als Menschen einen übergroßen Fußabdruck haben, der sich aus einem massiv steigenden globalen Konsum zusammensetzt, verschärft durch starkes Bevölkerungswachstum. Dadurch hat sich einerseits der Flächen- und allgemeine Ressourcenbedarf vervielfacht, andererseits haben wir ein Problem mit den anfallenden Abfallstoffen, vor allem mit dem Abfallstoff Treibhausgase. Es gibt noch einen Zusammenhang: Etwa ein Viertel der globalen Treibhausgas-Emissionen stammt nicht aus Verbrennung fossiler Energie, sondern aus der Zerstörung der Natur. Brandrodungen von Wäldern oder das Entwässern von Feuchtgebieten führen dazu, dass diese Kohlenstoffvorräte freigesetzt werden. Das heißt im Umkehrschluss: Ich kann den Klimawandel nur begrenzen, wenn ich auch die Umweltzerstörung begrenze.

Anteil der Biomasse aller landlebenden Säugetiere
© News.at Quelle: Wikipedia

Sie sind in Oberösterreich aufgewachsen und haben als Kind viel Zeit im Freien verbracht. Wie hat sich die Natur in Ihrer Heimatregion in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Ich bin in der Nähe von Steyr aufgewachsen, auf dem Land, umgeben von Ackerbauflächen. Das war auch schon in den 1980er-Jahren, also in meiner Kindheit, eine Agrarlandschaft.

Aber die Restflächen, die für die Artenvielfalt sehr wertvoll sind, gehen dort - wie überall in Österreich - stark zurück. Blumenwiesen, der Bach mit seinen Gehölzstreifen oder die letzten kleinen Feuchtwiesen sind nahezu verschwunden, weil es für die Landwirte zu wenig Anreize gibt, sie weiter zu bewahren. Meine Eltern haben einen Bauernhof. In meiner Kindheit haben ungefähr zehn Schwalbenpaare am Haus gebrütet. Heute brüten nur mehr ein bis zwei Paare. Dieser enorme Rückgang ist kein Einzelfall, sondern entspricht einem Trend. Der Brutvogelbestand in der österreichischen Kulturlandschaft ist in den vergangenen 20 Jahren um 40 Prozent zurückgegangen.

Wo führt das alles hin, wenn man nichts dagegen tut?
Auch in einer sehr modernen Gesellschaft wie der unseren sind wir von intakten Ökosystemen abhängig. Sie sind das grüne Fundament unserer Gesellschaft. Die Nahrungsmittel stammen aus der Natur. Für den Schutz vor Hochwässern und Lawinen ist intakte Natur wichtig. Auch unsere Kulturpflanzen müssen irgendwie bestäubt werden, und das wird durch den Rückgang der Insekten immer fraglicher. Der Klimawandel bedroht viele dieser Systeme zusätzlich. Wenn man diese Tendenzen gemeinsam betrachtet und annimmt, dass die Entwicklung weitergeht wie bisher, dann ist klar, dass irgendwann viele dieser Leistungen nicht mehr im ausreichenden Ausmaß zur Verfügung stehen. Das sind gravierend negative Aussichten.

Das war jetzt das Alarmistische, gibt es auch einen frohen Teil der Botschaft?
Man kann etwas tun. Es wäre ganz wichtig, das ausstehende Klimaschutzgesetz in Österreich zu beschließen und umzusetzen. Sowie den schon angefangenen Pfad der Besteuerung von fossiler Energie sukzessive auszubauen und die dabei anfallenden Steuereinnahmen so in der Gesellschaft zu verteilen, dass nachhaltige, energiearme Produktions- und Lebensweisen gefördert werden. Für mich bedeutet das auch klare Änderungen in der Verkehrspolitik, auch hier gibt es ja schon erste gute Entscheidungen, Stichwort Klimaticket und Stopp von einzelnen Straßenprojekten. In der Biodiversitätspolitik wäre es wichtig, dass sich naturgemäßes Wirtschaften für Land- und Forstwirte deutlich mehr lohnt als jetzt. Wer Arten schützt und Lebensräume erhält, für den muss sich das finanziell auch auszahlen.

Das alles sollte aber eher schnell als langsam passieren, nehme ich an?
Das sollte zumindest schnell begonnen werden, wenn auch nicht abrupt. Solche Prozesse müssen planbar sein. Viele Firmen orientieren sich an Rahmenbedingungen. Wenn die bekannt sind und ein politischer Wille zur Umsetzung erkennbar ist, dann löst das ja auch Innovationsschübe und damit kompatible Entscheidungen aus. Das ist natürlich alles nicht einfach, aber Politik besteht häufig darin, Entscheidungen zu treffen, die auf Widerstände stoßen, und diese Widerstände dann zu überwinden. Diesen politischen Mut würde ich mir eigentlich schon erwarten.

Sie haben in Ihrer Arbeit täglich die negativen Auswirkungen der Klima- und Biodiversitätskrise vor Augen. Erliegt man manchmal der Versuchung, zu verzweifeln?
Ich bin sehr besorgt, aber nicht verzweifelt. Weil ich durchaus positive Veränderungen sehe, auch wenn sie leider nicht die notwendige Dimension und Geschwindigkeit haben. Aber ich glaube, dass Veränderungen manchmal eine überraschende Dynamik bekommen können und rasche Änderungen tatsächlich möglich sind.