Flucht nach/aus Wien

Vertreiben oder Retten in unterschiedlichen Zeiten

von Geflüchtete Kinder aus Wien suchten 1938 Schutz in England vor dem NS-Regime. Ein Flüchtlingskind weint bei seiner Ankunft in Horwck. © Bild: imago stock&people

Aufnahme, Abweisung und Abschiebung von Flüchtlingen gleichen heute einem verbalen Ballspiel zwischen politischen Parteien und Gruppierungen mit demonstrativ aufgetragener "Menschlichkeit" oder "Unmenschlichkeit". Es wird vor zu vielen Asylbewerbern gewarnt, die Erleichterungen der Zuwanderung gefordert, für oder gegen Abschiebung demonstriert, die Verfremdung befürchtet oder die Vielfalt als Symbol einer modernen Demokratie willkommen geheißen.

Doch es gab auch andere Zeiten. In den 1930er-Jahren versuchten rassisch und politisch Verfolgte, Österreich zu verlassen. Wer zu wenig Geld für ein Visum hatte, keine Verwandten im Ausland, die mit finanzieller Verantwortung garantierten, war auf Frauen und Männer angewiesen, die einfach handelten, ohne lange über die Konsequenzen nachzudenken. In diesen Zeiten hatte die Bereitschaft, zu helfen, kein Parteibuch, keine Ideologie und keine Religion. Es war Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit, eine seltene, oft lebensgefährliche Kombination von Eigenschaften, die auch meine Eltern rettete.

Schweigen der Eltern

Als ich 16 Jahre alt war, konnte ich das Schweigen meiner Eltern nicht mehr länger ertragen. Jeder Frage nach der Vergangenheit wichen sie aus, erklärten, das seien schwierige Zeiten gewesen, sie seien froh, dass es vorbei sei und sie jetzt einen normalen Alltag leben könnten. Meine Mutter sagte, die Gegenwart sei wichtig, das Vergangene eine qualvolle Belastung, über die sie lieber nicht sprechen möchte. Mein Vater wich jeder Frage aus und reagierte eher unwirsch auf mein Nachfragen, bis ich es aufgab.

Ich versuchte einen anderen Weg, erklärte meinen Eltern, wir hätten im Unterrichtsfach Geschichte die Aufgabe, eine Familiengeschichte zu schreiben. Keine Einzelheiten, einfach nur, wo unsere Eltern aufwuchsen, die Großeltern herkamen, in welche Schulen sie gingen und welche Berufe sie erlernt hätten. Beide gaben mir zögernd ein paar Dokumente, Geburts- und Heiratsurkunde, Schulzeugnisse und alte Reisepässe. Dann machte ich mich auf den Weg in die Familiengeschichte.

Ich fand das Abschlusszeugnis meiner Mutter der High School in Falmouth, einer Hafenstadt in Cornwall (UK), aus dem Jahre 1940, schrieb an die Schule, ob es Unterlagen über eine Adresse meiner Mutter geben würde, und bekam Antwort mit der Anschrift. Sie lebte bei einer Familie Holdich. Auch ihnen schrieb ich, und sie antworteten, dass meine Mutter von 1938 bis 1940 bei ihnen gewohnt hätte. Als 16-jähriges Mädchen sei sie aus Prag gekommen, und da die Familie Holdich eine gleichaltrige Tochter hatte, dachten sie, es wäre eine gute Idee, meine Mutter aufzunehmen. Sie sei bis zum Abschluss der High School in Falmouth geblieben und dann nach London gezogen. Ich fragte sie, ob ich in den Sommerferien zu einem Besuch kommen könnte. Sie waren begeistert.

Leben in Prag

Die Familie meiner Mutter lebte 1938 in Prag. Sie hatten die österreichische Staatsbürgerschaft und verbrachten abwechselnd ein Jahr in Wien und dann wieder ein Jahr in Prag. Der Vater starb kurz vor Beginn des Krieges. Meine Großmutter schickte meine Mutter mit nur 16 Jahren alleine nach London und versprach, nachzukommen. Sie kam nie nach.

In dem alten Pass, den mir meine Mutter für mein Projekt gegeben hatte, lag ein gefaltetes Blatt Papier. Es war ein Taufschein mit einem Datum kurz nach der Geburt meiner Mutter. Auf meine Frage, was das zu bedeuten hätte, gab sie mir keine Antwort. Ein Jahr später, zu Beginn der Sommerferien, nahm ich den Zug von Wien nach Prag - ich wollte die Reise so beginnen wie meine Mutter -, von Prag nach London und weiter nach Falmouth. Dort schlief ich im gleichen Zimmer bei der Familie Holdich wie einst meine Mutter. Sie waren übrigens Quäker und sahen es als ihre Pflicht, zu helfen.

Während der Zeit in Falmouth erfuhr ich mehr über meine Mutter als in den Jahren zuvor. Eine Geschichte dominierte meine Erinnerungen, die mich auch später immer wieder beschäftigte. Der Taufschein, den ich im Pass meiner Mutter fand, war von einem Priester in Prag gefälscht worden. Das Dokument ermöglichte ihr das Visum für die Reise durch Deutschland und Belgien bis England.

Belgischer Ausweis

In den Unterlagen meines Vaters fand ich einen Ausweis, der 1939 in Brüssel ausgestellt worden war. In einem Kuvert ein Foto mit drei jungen Männern. In der Mitte mein Vater. Links von ihm erkannte ich einen Freund meiner Eltern. Ich fand seine Adresse im Wiener Telefonbuch und besuchte ihn an einem Samstag nach der Schule, überraschte ihn einfach.

Ja, erzählte er, das Bild sei in Belgien aufgenommen worden. Alle drei hätten sie versucht, kurz nach dem Einmarsch der Deutschen aus Wien nach Belgien zu fliehen und dann weiter nach England. Sie waren enge Freunde, wohnten alle im zweiten Wiener Bezirk, hätten niemandem von der geplanten Flucht erzählt, auch nicht ihren Familien. Eines Morgens packten sie jeder einen Rucksack mit Lebensmitteln, nahmen den Zug nach Aachen und planten, dann weiter über die Grenze nach Belgien zu fahren. Mein Vater ließ seine Eltern und seine jüngere Schwester zurück.

Am Bahnhof der Grenzstation wartete bereits die Polizei. Jemand im Zug musste sie gemeldet haben. Sie verbachten mehrere Tage in einem Gefängnis nahe der Grenze und rechneten damit, in ein Konzentrationslager deportiert zu werden.

Während einer Nacht weckte sie ein Offizier und befahl ihnen, mitzukommen. Er fuhr mit seinem Auto in den Wald, der an Belgien grenzte, befahl ihnen, auszusteigen, und erklärte, wie sie nach Belgien kommen könnten, ohne von den Grenzwachen erwischt zu werden. Er riet ihnen, sich bei der Jüdischen Gemeinde in Brüssel zu melden. Während der Sommerferien nach meiner Englandreise fuhr ich nach Brüssel und suchte im Archiv der Jüdischen Gemeinde in Brüssel nach meinem Vater. Ich fand seinen Namen, den Tag der Ankunft und den Tag der Abreise.

Helfer und Verräter

Zwischen März 1938 und Jänner 1939 flohen etwa 65.000 Menschen aus Österreich, die von den Nationalsozialisten aufgrund der Rassengesetze verfolgt wurden. Davon schafften es 20.000 wegen der Einreiserestriktionen als "Illegale" auf oft komplizierten und gefährlichen Wegen ins Ausland. Tausende Kinder und Jugendliche wurden in sogenannten "Kindertransporten" in Sicherheit gebracht. Meist schickten sie ihre Eltern alleine weg. England etwa nahm etwa 8.000 Kinder und Jugendliche auf.

Insgesamt verliessen in den 1930er-Jahren 130.000 Österreicher und Österreicherinnen ihre Heimat, Sie flohen in 85 verschiedene Länder. Die wichtigsten waren Großbritannien, mit etwa 31.000, die USA mit 30.000 und Palästina mit 15.000. Zahlreiche Flüchtlinge verdankten ihr Überleben dem Mut und dem Einsatz selbstloser Männer und Frauen. Der Schweizer Polizeihauptmann Paul Grüninger zum Beispiel setzte sich über die Anweisung hinweg, Reisenden ohne Visum die Einreise zu verweigern, und nahm mehrere Hundert Flüchtlinge in die Schweiz auf. Er wurde dafür aus dem Dienst entlassen.

Volksfeinde

Helfen und Retten hatten damals eine andere Bedeutung. Frauen und Männer riskierten das eigene und das Leben ihrer Angehörigen, wurden zum Tode oder zu Gefängnis verurteilt, degradiert oder aus dem Dienst entlassen. Im Gegensatz zu heute hatte diese Form der Menschlichkeit keinen "Wert" in der Gesellschaft. Im Gegenteil, wurden Vorschriften und Gesetze verletzt, reagierte die Mehrheit als barbarisches Kollektiv mit Verachtung und Ächtung. Die Helfer galten als Volksfeinde, denunziert und verraten von Nachbarn, Kollegen, Freunden, in machen Fällen von den eigenen Kindern, die alle nach diesen Schandtaten geehrt und belohnt wurden.

Die Grundlage meines Daseins basiert auf dem Mut zweier Menschen -eines Offiziers und Priesters -, die sich nicht an Vorschriften hielten und Verfolgung und Tod riskierten. Solche Erfahrungen wird man so schnell nicht los. Jedes von der Mehrheit akzeptiert und eingeforderte gesellschaftlich "korrekte" Verhalten ist mir bis heute verdächtig.