Teamwork ohne Chefetage

Ein Echtzeitlabor für die Praxis der Zukunft

Arbeiten ohne Chef und Hierarchie – klingt nach Utopie? Im 23. Wiener Gemeindebezirk ist das seit fünf Jahren Wirklichkeit.

von Firmenportrait - Teamwork ohne Chefetage © Bild: Tele Hase

Bei dem Technologieunternehmen Tele Haase bestimmen die 85 Mitarbeiter selbst ihr Gehalt und die Urlaubszeit. Ob lieber daheim von der Couch aus gearbeitet wird, teilen sich die Arbeitnehmer ebenfalls selbst ein. Selbst Kündigungen werden von den Mitarbeitern ausgesprochen. Auch in viele operative Prozesse sind die zwei Geschäftsführer nur mehr marginal eingebunden. Die Folge? Das Geschäft läuft.

„Christoph Haase und ich wollten eine Firma haben, in die wir beide wieder gerne arbeiten gehen können, ein Unternehmen der Zukunft“, erzählt der CEO bei Tele Haase, Markus Stelzmann. Konkret bedeutet das für die Unternehmer sinnhafte Arbeiten und Aufgaben für jeden, Hausverstand statt „umständlichem Businessblabla“ und vor allem Verantwortung da, wo sie tatsächlich benötigt wird – bei den Mitarbeitern.

»Gerade am Anfang sind wir oft auf die Nase gefallen.«

Tele Haase ist damit ein Unternehmen der neuen Generation, das neue, zukunftsweisende Wege geht, Arbeit zu organisieren. 2017 wurde es dafür mit dem New Work Award ausgezeichnet. Unter Neuer Arbeit, also New Work, versteht man ein Arbeitsmodell, das nicht Profit, sondern die Bedürfnisse des Menschen in den Vordergrund stellt. Der Begriff wurde Mitte der 80er vom Philosophen Frithjof Bergmann begründet.

Das Unternehmen der Zukunft

2013 entschied sich Haase, dem die Firma zu einem Drittel gehört, das mehr als 50 Jahre alte Familienunternehmen dahingehend umzukrempeln und völlig neu zu erfinden – gemeinsam mit allen Mitarbeitern. Das gestaltete sich allerdings schwieriger als gedacht. „Gerade am Anfang sind wir oft auf die Nase gefallen“, erinnert sich Stelzmann: „Fehlende Erfahrung und das absolut Neue ließen viel Platz für Fehlinterpretation zu. Sei es bei neuen Mitarbeitern, die sich selbstverwirklichen wollten, bis hin zum Aushalten von demokratischen Regeln.“ Heute hat jeder Mitarbeiter die Chance sich aktiv im Unternehmen einzubringen. Dadurch ist die Gefahr gering, ausgenützt zu werden. „Es kann aber sicher nicht vollständig ausgeschlossen werden. Keine Organisation der Welt wird das leisten können, da es immer unterschiedliche Sichtweisen geben wird“, sagt Stelzmann weiter.

Bei dem auf Zeit- und Überwachungsrelais spezialisierten Technologieunternehmen wird aber der Diskurs und die Entscheidungsfindung gefördert und nicht der verordnete Konsens. So wurde das Management beispielsweise komplett durch Gremien ersetzt. Die Mitarbeiter treffen sich in Arbeitskreisen und ebenjenen Gremien, um demokratisch Entscheidungen zu treffen. Die Kreise repräsentieren dabei die jeweiligen Kompetenzbereiche. Die Vertreter der einzelnen Gruppen werden ebenfalls demokratisch gewählt und können gleichzeitig jederzeit wieder abgewählt werden.

„Was das Unternehmen agil macht, kostet auch viel Kraft“

Damit das funktionieren kann, braucht es Mitarbeiter, die mit dieser Transparenz und der damit verbundenen (Selbst)verantwortung auch umgehen können. Das mussten die Mitarbeiter erst lernen: „Erst wenn man Verantwortung hat, weiß man, was es bedeutet. Regeln müssen permanent erstellt und dann wieder adaptiert werden“, so Stelzmann, der sich heute vielmehr als operativer Regisseur der Smart Factory sieht.

Das fordert die Mitarbeiter und auch ihn. Veränderung ist kein einfacher Prozess: „Sicher, gerne würde auch ich mal mit einem Assistenten vor der Tür nicht auf ‚Alles‘ reagieren müssen und auch die Mitarbeiter würden sicher gern einfach mal ‚nur‘ ihren Job machen. Es birgt aber auch viel schöpferische Kraft für jeden Einzelnen“, lenkt Stelzmann ein. Überhaupt sei es laut dem selbsternannten Regisseur ein bisschen wie beim Sport – mit der Zeit wird es besser. Klar ist aber auch, dass es für ein solches Konzept die richtigen Mitarbeiter braucht. Konfliktscheue täten sich bei Tele Haase schwer.

© Tele Haase Die Tele Haase-Regie Markus Stelzmann und Christoph Haase

An den richtigen Leuten scheint es aber nicht zu mangeln. Seit 2015 stellt die Firma ihr Know-How und ihre Ressourcen daher auch für diverse Start-ups zur Verfügung. Stelzmann: „Wir wollen die offene sich selbststeuernde Organisation. Deshalb müssen wir auf allen Ebenen voneinander lernen. Wir möchten uns von dem Spirit der Start-ups inspirieren lassen und bieten Ihnen die Möglichkeit bei uns Ihre Idee im industriellen Umfeld umzusetzen.“ Was sie selbst noch nicht können, lernen sie so in Kooperation mit anderen – es ist ein Geben und Nehmen, das aber „einen gewissen Mindset bei den Menschen voraussetzt“, wie Stelzmann erzählt.

Außerdem arbeitet die Firma direkt mit HTL, FH und Uni zusammen. So sind sie stets mitten im Diskurs. Was ihnen gefällt, fließt in weiterer direkt in ihre Prozesse ein. Bald soll auch eine Schule für Neues Arbeiten und Digitalisierung entstehen. Markus Stelzmann fasst es so zusammen: „Plötzlich kann neben innovativen Industrieprodukten, unserem Kerngeschäft, Innovation überall entstehen!“ Der typische „nine to five“-Arbeitstag sei dafür nicht nötig. Schlussendlich ist es der Gestaltungswille und das Vertrauen der Mitarbeiter in die Vision der Geschäftsführer, die eine Umsetzung positiv gelingen lassen und eine Verbesserung für die Arbeitssituation aller bringen.