So denkt das moderne, junge Russland

Der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko nimmt in seinem neuen Roman "Die Jagd" die perfiden Machenschaften eines russischen Oligarchen aufs Korn. Im Interview spricht er über Drohungen, denen er als Journalist in Russland ausgesetzt war, und über sein freiwilliges Exil im Westen.

von So denkt das moderne, junge Russland © Bild: Lukas Lienhard/ Diogenes Verlag

"Wenn Sie wissen wollen, was das moderne, junge Russland denkt, lesen Sie Sasha Filipenko." Diese Empfehlung stammt von keiner geringeren als der russischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. In der Tat: Filipenkos dritter Roman, "Die Jagd"(Diogenes, 23 Euro), ist ein sardonisch-luzides Meisterwerk, am Puls Russlands und seiner Heimat Belarus. Die Story: Der Enthüllungsjournalist Quint legt sich mit dem russischen Oligarchen Slawin an, der sich dadurch in seinen politischen Ambitionen behindert fühlt. Da Quint sich nicht beirren lässt und weiter kritische Berichterstattungen verfasst, sinnt Slawin auf Rache. Es beginnt eine Hetzjagd mit fatalen Folgen.

Sasha Filipenko, 37, wurde in Minsk geboren. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor und Fernsehmoderator. Seine Bücher sind in Russland und Belarus verboten. Seit einiger Zeit lebt und arbeitet er im Westen. Im Zoom-Interview erlebten wir einen aufgeräumten, ja heiteren Sasha Filipenko. Das Interview wurde von seiner Übersetzerin Ruth Altenhofer gedolmetscht.

"Die Grundlagen des Romans "Die Jagd "sind persönliche Erlebnisse und Erfahrungen meiner Kollegen, von denen jeder für die Ausübung unseres Berufes schon einmal im Fadenkreuz stand", sagten Sie. Können Sie ein Beispiel für die Repressalien geben, denen Sie ausgesetzt waren, als Sie als Journalist arbeiteten?
Sie meinen Angriffe, so wie ich sie im Buch beschrieben habe?

Ja, ob man versucht hat, Sie - wie ihren Protagonisten Anton Quint -mit lauter Musik, die Tag und Nacht in der Nebenwohnung abgespielt wurde, zu vertreiben? Oder anderen Arten von psychischem oder physischem Terror?
Ich bin einmal beim Einparken vor dem Haus von einem Mann angegriffen worden. Er hatte mich wohl abgepasst und fing an, mich wüst zu beschimpfen. Eines der Schimpfwörter war "liberal". Daraufhin habe ich die Polizei gerufen. Und er hat tatsächlich gewartet, bis sie eintraf. Das fand ich wirklich sehr seltsam. Ich habe eine Zeitlang in Russland beim unabhängigen TV-Sender Doschd gearbeitet. Dabei war ich natürlich sehr exponiert und angreifbar. So habe ich viele Hass-Mails in den sozialen Netzwerken bekommen und auch meine Erfahrungen mit der Zensur machen müssen. Wenn man auf dem Bildschirm ist, dann erkennen einen die Leute auch auf der Straße. Man begegnet auch mal Putinisten, und die geben einem schon mit ihrer Mimik zu verstehen, was sie von einem halten. Einmal hat mich einer in einem Sportclub erkannt und mich als "stinkenden Liberasten" bezeichnet. In der Sauna hat er sich dann demonstrativ über die ganze Sitzbank gelegt, damit ich mich ja nicht neben ihn setzen kann. Sie sehen: Es gibt furchterregende Arten von Hetze, aber auch sehr komische.

Sie stehen, wie Sie sagen, mit zwei Ländern in Konflikt: mit Ihrer Heimat Belarus und mit Russland.
Ja, und in Belarus ist der Druck auf kritische Journalisten in den letzten Monaten viel stärker geworden. Man steht dort unter Androhung von Haftstrafen. Ermittler kommen in die Wohnung, machen Hausdurchsuchungen und befragen die Mitbewohner.

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Seit einiger Zeit leben Sie im Westen -in Deutschland, den Niederlanden, in der Schweiz. Sie wechseln oft Ihren Aufenthaltsort. Sind Sie vor Lukaschenko und Putin auf der Flucht?
Ich bin in einer freiwilligen Emigration. Ich habe nicht offiziell um Asyl angesucht. Das ist mir in der Schweiz angeboten worden. Das habe ich aber deshalb nicht angenommen, weil auch meine Frau und mein Sohn dann nicht mehr nach Russland einreisen könnten, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Ich bin belarussischer Staatsbürger und werde eigentlich vom Regime in Belarus verfolgt. Seit über einem Jahr war ich nicht mehr dort, und seit einem Jahr auch nicht mehr in Russland, weil Russland nach Belarus ausliefert. Mein nächstes Buch handelt von einem Krematoriums-Chef im Moskau der 30er-Jahre. Wenn das veröffentlicht ist, wird wohl auch das Interesse Russlands an meiner Person größer werden.

Sprechen wir in diesem Zusammenhang kurz über Alexei Nawalny. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Nawalny nach Russland zurück ging, obwohl man ihn dort in Putins Auftrag mit Gift töten wollte?
Es gibt einen wesentlich Unterschied zwischen einem Schriftsteller und einem Politiker. Nawalny ist Politiker. Dass er nach Russland zurückgekehrt ist, war ein politischer Akt. Das war ein Teil seiner langfristigen Strategie. Das heißt, wenn er wieder frei ist und Putin endlich weg, dann wird er der erste Mensch in Russland sein, mit dem der Westen sich an den Verhandlungstisch setzen wird. Genauso, wie es damals mit Jelzin war. Der Westen hat bereits mit Jelzin verhandelt, obwohl Gorbatschow noch Staatschef war.

Wollen Sie wieder nach Belarus zurück?
Was mich betrifft: Ich bin kein Politiker, sondern Schriftsteller. Meine Aufgabe ist das Schreiben. Wenn ich nach Belarus zurückkehren würde, könnte ich nicht mehr schreiben. Da säße ich höchstwahrscheinlich im Gefängnis, genau wie viele andere Schriftsteller und Philosophen. Das würde meine Arbeit extrem behindern. Diesen Essay über Putin ("Das Rätsel Putin", siehe S. 28), der kürzlich in "Welt" und in "Le Monde" erschienen ist, könnte ich nie aus dem Gefängnis herausschleusen. Ich finde es also viel wichtiger, in Freiheit zu schreiben, als dort im Gefängnis zu sitzen. Hinzu kommt noch, dass die russische Gesellschaft, wie ich finde, sehr apathisch ist. Sie hat es am liebsten, wenn alles so bleibt, wie es ist. Die russische Öffentlichkeit hat auf die Rückkehr Nawalnys auch sehr schwach reagiert. Es gab zwar Menschen, die für ihn auf die Straße gegangen sind, aber das waren zu wenige.

Sie legen sich in Ihren Romanen und Texten mit den Diktatoren in Russland und Belarus an. Dazu gehört Mut. Was treibt Sie an, diesen risikoreichen Weg zu gehen?

Wenn man selbst in Gefahr ist, spürt man sie seltsamerweise gar nicht so deutlich. Dieses Gefühl beschreibe ich auch in "Die Jagd". Mein Protagonist Anton Quint glaubt sehr lange, dass die wirklich schlimmen Dinge eigentlich immer nur den anderen passieren. Abgesehen davon: Mit dem, was ich schreibe, übertrete ich keine Gesetze. Ich mache nichts Falsches und nichts Schlechtes. Ich bin eher wie ein Fotograf, der in seiner Arbeit die Dinge, die um ihn herum passieren, registriert und dokumentiert. Ich betrachte meine Arbeit auch gar nicht als Kritik. Ich fühle mich eher wie ein Reporter, der berichtet, was er sieht.

Haben Sie schon immer so geschrieben?
Ja, und ich fände es sehr merkwürdig, wenn ich plötzlich damit aufhören würde, mich auf diese Art und Weise zu äußern. Ich habe viele Freunde, die in Belarus im Gefängnis sitzen, und außerdem sind Hunderttausende Menschen aus Belarus geflüchtet, da kann ich nicht plötzlich den Bleistift hinschmeißen. Für mich als Belarusse wird auch immer relevanter, was Russland macht, weil immer klarer wird: Wenn Putin nicht Lukaschenko den Rücken stärken würde, wäre sein Regime schon längst am Ende. Und natürlich kümmere ich mich um meine Sicherheit. Mehr kann ich nicht tun. (Lacht.) Mit Polizeischutz herumzulaufen, wäre sicher übertrieben. Eigentlich habe ich nicht das Gefühl, dass ich in Gefahr bin, weil ich doch das Richtige tue.

Darum scheren sich Diktatoren meistens nicht.
Und trotzdem: Wir müssen diese Diktaturen einfach bekämpfen! Denn das ist ein Problem, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Auch die Angst geben wir weiter. Wenn ich diese Despoten also nicht bekämpfe, dann muss mein Sohn denselben Kampf noch einmal kämpfen.

Wie äußert sich diese Angst?
Da kann ich Ihnen ein Beispiel geben: Ich war die letzten Monate in Amsterdam. Dort gab es eine Protestaktion von Museumsmitarbeitern, die darauf aufmerksam machten, dass in Holland im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie der Lockdown zwar für Friseure, Restaurants und Clubs aufgehoben wurde, nicht aber für Museen. Deswegen haben die Museumsmitarbeiter dann Frisöre und Sportclubs in die Ausstellungssäle eingeladen, um zu zeigen, wie absurd dieses Verbot eigentlich ist. Da habe ich mich -nur ganz kurz -bei dem Gedanken ertappt: Die trauen sich aber was! Haben die denn keine Angst, dass die Polizei kommt und sie für diese Protestaktion eingesperrt werden? Obwohl ich mich viel freier als meine Landsleute bewegen kann, steckt also noch immer diese innere Angst in mir, die mit der Situation im Museum eigentlich nichts zu tun hat. Und das, obwohl ich schon so lange nicht in Belarus war. Gegen diese Angst will ich ganz bewusst ankämpfen. Ich möchte einfach, dass mein Sohn ohne diese Angst aufwächst. Und dass die kommenden Generationen endlich in Freiheit leben können.

In "Die Jagd" schreiben Sie: "Es gibt keine echten Nachrichten, nur Ereignisse, die in Auftrag gegeben werden. Wenn die einen anfangen, Druck zu machen, schließen sich andere sofort an." Woher kommt diese Geilheit der Menschen, die an der Macht sind, und deren Mitläufer, anderen Menschen, die nicht ihrer Meinung sind, schaden zu wollen?
Weil ihre einzige Aufgabe darin besteht, diese Macht zu erhalten. Und das möglichst lange. Das ist ihr einziges Ziel. Alles andere interessiert sie nicht. Es liegt nicht im Interesse der Staatsmacht, das Leben der Menschen zu verbessern. Putin ist jetzt 22 Jahre an der Macht. Kein einziges Mal hat er an Debatten mit Kandidaten anderer Parteien teilgenommen. Es interessiert ihn nicht. Er kennt keine Dialoge. Er kann seine Politik nur aus einer Position der Stärke heraus betreiben. Stellen Sie sich einmal vor, dass Merkel oder Scholz Kanzler geworden wären, ohne Debatten mit anderen Politikern zu führen.

In Quints Bibliothek stehen viele russische Schriftsteller, allerdings weder Dostojewski noch Tolstoi oder Puschkin. Sind diese Klassiker nicht mehr relevant bei den modernen, jungen Russen?
Die russischen Schriftsteller, die ich im Buch genannt habe, haben alle unter enormem Druck gestanden, fast alle sind entweder umgebracht worden oder haben Selbstmord begangen. Wenn man als Leser diesen gemeinsamen Nenner als Leser erkennt, dann spürt man schon, dass Quints Leben kein gutes Ende nehmen wird. Die Autoren, die ich zitiere, stehen also im Kontext der Geschichte, die ich im Buch erzähle. Dostojewski und Puschkin sind natürlich auch heute noch relevant. In meinem nächsten Buch arbeitet der Protagonist eine Zeitlang als Taxifahrer. Jemand steigt in sein Taxi und versucht, ihn für den Geheimdienst anzuwerben. Dieser Fahrgast spricht viel über Dostojewski. Und darüber, was Dostojewski alles falsch gemacht hat, dass er zu tief in der menschlichen Seele gräbt. Manchmal sollte man einfach aufhören, zu graben. Und einen Strich darunter machen.

Letzte Frage: Können Sie sich selbst in vier Worten beschreiben?
(Denkt lange nach.) Ich glaube nicht. Das kann meine Frau besser.