Schirach: "Dann sind wir verloren"

Im Gerichtsdrama "Terror" lässt Ferdinand von Schirach das Publikum über Schuld oder Freispruch abstimmen. Das Interview zur Premiere in den Kammerspielen.

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Ferdinand von Schirach - Schirach: "Dann sind wir verloren"

Ihr Stück wurde in 68 Theatern in 15 Ländern auf verschiedenen Kontinenten gezeigt. In Japan und in China gab es fast ausschließlich Schuldsprüche, in den USA und Australien ausschließlich Freisprüche. Wie erklären Sie sich das?
Fast überall auf der Welt ist das Abstimmungsergebnis 60:40, das heißt 60 % der Zuschauer stimmen für einen Freispruch, 40 % für eine Verurteilung. Spontan würde ja fast jeder sagen, es sei richtig, wenige Menschen zu opfern, um viele zu retten. Dass sich dennoch so viele Zuschauer im Laufe des Stücks von den Argumenten der Staatsanwältin überzeugen lassen, ist erstaunlich. Noch interessanter ist, dass es scheinbar eine tiefe Überzeugung der Menschen gibt, die vor dem Recht liegt. In Venezuela zum Beispiel, einem armen Land, das am Rande der Diktatur steht und das man zurzeit kaum einen Rechtsstaat nennen kann, stimmen die Zuschauer genauso ab wie in Zürich oder München.

Im Band „Die Herzlichkeit der Vernunft“ schreiben Sie: „Trotz des Terrors leben wir in Europa heute in der freiesten und friedlichsten Gesellschaft, die es je gab.“ Wie kann das sein, wenn Grenzen geschlossen werden und jeder jeden über Facebook, Twitter und andere soziale Medien denunzieren kann?
Sie haben völlig recht, es ist oft scheußlich, was in den sozialen Medien passiert und welche Kommentare unter den Texten auf den Nachrichtenportalen der Zeitungen stehen. Der amerikanische Präsident scheint mittlerweile via Twitter zu regieren, er hat Millionen Follower - der Schriftsteller Jonathan Franzen bezeichnete Twitter auch deshalb als Instrument kleiner und großer Diktatoren. Aber trotzdem: wir leben friedlicher als jemals zuvor in Europa. Denken Sie nur an den ersten und zweiten Weltkrieg, denken Sie an die Jahrhunderte dauernden Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich, an die Kriege auf dem Balkan, an die Verwüstungen im dreißigjährigen Krieg, an die Verfolgung und Ermordung von Menschen aus den absurdesten Gründen. Heute erklären die Verfassungen der freien Länder, niemand dürfe wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen, benachteiligt oder bevorzugt werden. Das Bundesverfassungsgericht entschied vor ein paar Tagen, dass es in Zukunft einen dritten Geschlechtseintrag im Geburtenregister geben soll, um es intersexuellen Menschen zu ermöglichen, ihre geschlechtliche Identität positiv eintragen zu lassen. Diese Freiheiten, diese Arten der Selbstentfaltung, diese Möglichkeiten unseres Strebens nach Glück gab es niemals zuvor in dieser Welt. Unsere Schwierigkeiten mit den sozialen Medien liegen woanders: Unsere Welt wird immer komplexer, aber wir möchten einfache Erklärungen, wir sehnen uns nach begreifbaren Wahrheiten. Populistische Politiker und Parteien gaukeln uns vor, es gebe sie tatsächlich und in den sozialen Netzwerken bestärken sich die Menschen dann gegenseitig in diesem Unsinn.

Was halten Sie davon, dass Julian Pölsler das Stück nur mit Frauen besetzt?
Mir gefällt die Idee sehr gut und ich bin gespannt, ob die Zuschauer dadurch Argumente anders wahrnehmen.

»Osama Bin Laden als Mandant hätte mich mehr interessiert«

Würden Sie selbst einen Terroristen, einen Massenmörder wie die von Paris oder vom Berliner Weihnachtsmarkt verteidigen? Weshalb (nicht)?
Genau das ist die Aufgabe eines Strafverteidigers, sonst funktioniert ein Strafverfahren, sonst funktioniert der Rechtsstaat nicht. Aber mich persönlich interessieren solche Verfahren als Verteidiger nicht. Die Schuld eines Menschen, der in einer freien Gesellschaft aus politischen Motiven mordet, wiegt schwer, aber meist sind es doch sehr einfache Geister, die dazu verführt werden. Osama Bin Laden als Mandant hätte mich mehr interessiert.

Verstehen Sie Karl Lagerfelds Argument: „Wir können nicht Millionen Juden ermordet haben und Millionen ihrer größten Feinde ins Land lassen“?
Der unabhängige Expertenkreis Antisemitismus der deutschen Bundesregierung erklärte, dass das Internet und die soziale Medien zu zentralen Verbreitungsinstrumenten von Hassbotschaften und antisemitischer Hetze geworden sind. Aber dieser Bericht stellt auch klar, dass gerade nicht die Gruppe der Muslime deren Hauptverursacher sind, sondern die rechtsextremen Lager. Natürlich, es muss jetzt sehr sorgfältig beobachtet werden, wie sich muslimische Verbände, islamische Prediger und Moscheegemeinden verhalten. Aber undifferenzierte Äußerungen helfen da wenig - im Gegenteil, sie stützen die Jahrmarktsrohheit der Populisten, ihr abstoßendes Geschrei und ihren rückwärtsgewandten Nationalismus.

»Theater und Literatur haben andere Aufgaben als Politik und Justiz«

Ihr Stück ist praktizierte direkte Demokratie, deren massiver Ausbau z. B. in Österreich von der FPÖ gefordert wird. Wo ist da die Grenze? Kann und soll man über Materien wie das Grundgesetz abstimmen lassen?
Aber nein, das Stück ist überhaupt keine praktizierte direkte Demokratie, gegen die ich ja ganz bin. Ich habe das bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele und in «Die Herzlichkeit der Vernunft» gesagt: Theater und Literatur haben andere Aufgaben als Politik und Justiz. Im Theater begegnen wir uns selbst, unseren Reflexen, Gefühlen, Gedanken. Wir ringen mit uns, sind hin- und hergerissen, wir streiten, zweifeln, verwerfen und suchen nach der richtigen Lösung. Das Theater wird so zu einem republikanischen Forum, die »res publica«, die öffent­liche Sache, wird verhandelt. Die Abstimmung im Stück dient der Anregung, nicht mehr und nicht weniger. Ich habe erlebt, wie Zuschauer nach der Aufführung nicht zum Essen gingen, sondern im Foyer blieben und weiter miteinander diskutierten. Jeder wusste natürlich, dass er nicht wirklich über Schuld eines Menschen entschieden hatte. Aber alle redeten über den Staat, über unsere Gesellschaft und unsere Zukunft, die Verfassung wurde plötzlich lebendig. Die Sprache, das Theater, die Bücher gehören uns, wir müssen sie verteidigen gegen Lügen, Phrasen und Worthülsen. Albert Camus sagte 1957: »Die Kunst ist in meinen Augen kein einsiedlerisches Vergnügen. Sie ist ein Mittel, die größtmögliche Zahl von Menschen anzurühren.« Ich glaube, sie kann das noch immer. Und vielleicht, gerade heute, in einer Zeit, in der unsere Welt einzustürzen droht, muss sie es auch. Wenn es funktioniert, kann das Theater wieder eine Relevanz bekommen, die es verloren hat. Das Theater war immer ideal für diese Dis­kus­sio­nen.

Kann es eine Situation geben, in der eine Volksabstimmung über die Todesstrafe gerechtfertigt wäre? Kann die Todesstrafe in irgendeiner Situation gerechtfertigt sein? Und wie begegnen Sie als Jurist und Mensch solchen Wünschen?
Nein, eine solche Situation darf es nie geben. Viele glauben, heute ließe sich der Bürger nicht von Emotionen leiten, sondern von dem, was gerecht und vernünftig ist. Volksentscheide würden also zu richtigen Ergebnissen führen. Ich fürchte, die Wirklichkeit ist weit davon entfernt. Social Bots, also kleine Programme, die so tun, als seien sie Menschen, sind selbstständig in der digitalen Welt unterwegs. Sie sind leicht zu programmieren, innerhalb von Sekunden können sie tausende Kommentare schreiben und so die Stimmung im Internet verändern. Sie wurden beim Brexit, in der Ukraine und im amerikanischen Wahlkampf eingesetzt. Nach einer Studie der Universität Oxford, soll etwa jeder dritte Follower von Clinton und Trump ein solcher Social Bot gewesen sein. Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag erklärt in einer Studie, Menschen, die mit Social Bots kommunizieren, würden diese als wirkliche Personen wahrnehmen. Die meisten 18- bis 29-Jährigen bevorzugen bereits heute die so genannten Sozialen Medien, um sich über das Tagesgeschehen zu informieren. 2016 gaben in Deutschland 57 Prozent der Facebook-Nutzer an, sie würden sich hauptsächlich bei ihren Facebook-Freunden über die Politik informieren. Wir wissen heute, dass den englischen Wählern ganz überwiegend nicht klar war, welche Folgen der Brexit hat. Bei anderen Fragestellungen wird es nicht einfacher werden. Wenn am Tag nach dem Sexualmord an einem Kind über die Wiedereinführung der Todesstrafe abgestimmt würde - die Mehrheit der Menschen wäre sicher dafür. Oder denken Sie an unsere Geschichte - was tun, wenn die Demokraten einen Tyrannen wählen? Wann soll eine Sachentscheidung über eine Mehrheitsentscheidung gestellt werden? Wann muss sie es? Oder zählt Ethik nichts gegen den Bürgerwillen? Und, falls doch, wer soll bestimmen, was diese Ethik ist? Die eigentliche Frage ist, was noch hilft, wenn die Mehrheit sich, wie so oft in der Geschichte, wieder für das Falsche, für das Furchtbare und Dunkle entscheidet?

»Es ist töricht, zu glauben, Zivilisation, Kultur oder Bildung würde uns retten«

Es ist töricht, zu glauben, Zivilisation, Kultur oder Bildung würde uns retten. Noch nie konnte Literatur, Musik oder Kunst den Volkswillen aufhalten. Aber vielleicht kann uns etwas anderes schützen: Als sich unser Bewusstsein entwickelte, sprach ja nichts dafür, dass wir einmal etwas anderes tun würden, als unsere Vorfahren, die Affenmenschen. Wäre es nach den Regeln der Natur gegangen, hätten wir unsere erweiterten Fähigkeiten nur dazu benutzt, die Schwächeren zu töten. Die Mehrheit hätte immer weiter die Minderheit ausgerottet. Aber wir taten etwas anderes. Wir gaben uns selbst Gesetze, wir erschufen eine Ethik, die nicht den Stärkeren bevorzugt, sondern den Schwächeren schützt. Vor 3.000 Jahren hat der Perserkönig Kyros die Sklaven befreit, er erklärte zum ersten Mal, alle Menschen dürften ihre Religion frei wählen, sie seien trotz unterschiedlicher Herkunft gleich zu behandeln. Kyros Gesetze wurden auf einen Tonzylinder geschrieben und heute stehen sie in den ersten vier Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Oft genug verlieren wir ja, immer wieder fallen wir zurück ins Dumpfe und Tierische. Aber die Magna Carta, die Erklärung der Bürgerrechte, die Bill of Rights - das sind unsere Siege über uns selbst. Für sie gab es kein Vorbild, nichts deutete in der Natur darauf hin und genau das ist es, was uns im eigentlichen, im höchsten Sinn menschlich macht: die Achtung vor unserem Nebenmenschen. Wenn wir heute wieder bereit sind, das aufzugeben - weil manchen eine absolute direkte Demokratie einfacher oder gerechter erscheinen mag - sind wir verloren. Und das ist keine Übertreibung, wir sehen es jeden Tag. Der Volkszorn ist unberechenbar, er ist wild und brutal und kann jederzeit aufgestachelt werden, eine kleine Kränkung reicht dafür aus. In der Türkei wurden vor ein paar Wochen niederländische Flaggen verbrannt und Orangen zerstochen, weil türkische Politiker dort keinen Wahlkampf führen durften. Das mag albern erscheinen, aber gemeint waren ja nicht Flaggen oder Orangen, sondern das Land und die Menschen. Natürlich stimmt es: wir werden nicht immer von Weisen regiert. Aber so, wie das Ziel der Rechtsprechung nicht Gerechtigkeit, sondern Rechtssicherheit ist, ist das Prinzip unseres Parlamentarismus nicht die Herrschaft der Besten, sondern die Möglichkeit, Regierungen friedlich wieder abzuwählen. Dagegen sind Volksentscheide, wie der deutsche Bundespräsident Theodor Heuss einmal sagte, eine «Prämie für jeden Demagogen». Unser einziger sicherer Halt sind die Verfassungen der freien Länder. Auch wenn es langweilig klingt: nur ihre komplizierten Regeln, nur ihre Ausgewogenheit und Langsamkeit, nur das, was die Amerikaner «checks and balances» nennen, ordnen unsere schwankenden Gefühle, sie lehnen Wut und Rache als Ratgeber ab, sie achten den Schwächeren und am Ende sind sie es, die uns vor uns selbst schützen.

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Schirach und der Regisseur Alexander Kluge veröffentlichten soeben den Gesprächsband "Die Herzlichkeit der Vernunft" über Gerechtigkeit, Terror und soziale Medien als Gefahr

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