"Müssen das Beste aus halben Mitteln machen"

Bildungsminister Heinz Faßmann weiß: In Österreich gibt es acht Millionen Schulexperten und Meinungen. Er spricht über lange Ferien, neugierige Kinder, ängstliche Eltern und schlechte Mathe-Noten. Und warum er trotz 136 Maßnahmen im Regierungsprogramm an die Schule glaubt.

von Politik - "Müssen das Beste aus halben Mitteln machen" © Bild: News/Matt Observe

Herr Minister, woran werden Kinder oder Eltern bemerken, dass Sie Minister sind - und nicht jemand anderer?
Mein Agieren zielt nicht darauf ab, dass man bemerkt, dass ich jetzt Minister bin. Eher sollen die Eltern mit dem System in Österreich zufrieden sein und sagen: "Meine Kinder haben etwas gelernt. Die Schulzeit ist vorbei, da bin ich nicht unglücklich darüber", sagen dann die Eltern, "aber unter dem Strich waren es gewinnbringende Jahre für meine Kinder."

Derzeit sind Eltern aber eher verschreckt, wenn sie hören, dass viele Kinder am Ende der Schulzeit nicht sinnerfassend lesen können.
Als Familienvater kann ich diese Ängste gar nicht teilen. Wir haben ein grundsätzlich gut aufgestelltes Schulsystem. Es muss ja irgendeine Ursache haben, dass Österreich als armes Land nach dem Zweiten Weltkrieg einen solchen Aufstieg erlebt hat. Fünftreichstes Land der EU, zehntreichstes weltweit -und unsere Ölvorkommen sind mehr als bescheiden. Also ist es das humane Kapital, das den Reichtum dieses Landes ausmacht.

Warum dann diese Unzufriedenheit mit der Schule?
Ich kann sie nicht ganz nachvollziehen. Da wird viel an Erwartungen, die man an die Kinder hat, hineinprojiziert. Und dann ist Schule natürlich etwas, das jeder erlebt hat. Und jeder gibt Kommentare ab.

So wie die acht Millionen Fußballtrainer hierzulande?
Ich wollte dieses Bonmot jetzt nicht verwenden, aber es ist so. Das macht die Debatte auch nicht leichter. Jeder hat etwas, wo er oder sie überzeugt ist, das muss realisiert werden, dann wird alles besser.

Den Eindruck hat man auch vom Bildungskapitel im Regierungsprogramm. Neun Seiten voller Stehsätze. Wo ist da der rote Faden?
Es gibt 136 Maßnahmen, die sich nur auf die Schule beziehen. Schule soll leistungsorientiert sein, vielleicht leistungsorientierter werden. Sie soll eine Differenziertheit aufweisen von Schultypen und Arten, um auf differenzierte Talente und Bildungserwartungen eingehen zu können. Und sie soll auch vergleichbare Bewertungen liefern, sodass die Anbindung an den Arbeitsmarkt eine leichtere wird.

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Warum müssen Kinder messbar sein? Ständig winken Tests. Die Unberechenbarkeit, die Kindern innewohnt, bleibt auf der Strecke.
Ich habe volle Sympathie für das, was Sie sagen. Schule muss natürlich die Neugier erhalten oder sogar noch mehr erzeugen. Aber ich muss einen Zusatz machen: Die Schule vergibt am Ende als staatliche Institution eine Zertifizierung. Sie garantiert für etwas. Da muss sie genau sein, damit sie nicht das Falsche garantiert.

Aber sogar die Universitäten misstrauen der Zertifizierung Zentralmatura und machen Eingangstests.
Da muss ich korrigieren. Mit der Matura hat man die allgemeine Hochschulreife. Die Unis versuchen, einen Reflexionsprozess zu verstärken: Bin ich geeignet für das Studium X oder Y? Für eine beschränkte Anzahl an Studienplätzen muss man irgendein Kriterium haben. Das kann man nicht nach der Körpergröße machen oder nach dem Eigentum der Eltern, sondern nach fachspezifischen Qualifikationen.

Was wird anders durch die Deutschförderklassen für Kinder, die nicht gut Deutsch sprechen? Schuldirektorinnen sagen uns: nicht viel.
Ich habe nie behauptet, dass es das große Andere ist. Wir haben die Deutschförderung weiterentwickelt, systematischer gemacht, einen Lehrplan unterlegt, den es bisher nicht gegeben hat. Und wir haben eine semesterweise Übertrittsmöglichkeit in den Regelschulbetrieb geschaffen. Dass es grundsätzlich nichts Neues ist, dass man Kinder, die keine Kompetenz in der Unterrichtssprache haben, erst einmal fit für den Regelunterricht macht, ist schon klar. Es bringt ja nichts, sie einfach so -ohne Kenntnisse -in die Mehrheitsgesellschaft hineinzuwerfen und zu sagen: Schaut, dass ihr nicht untergeht. Das halte ich für eine nicht sehr konsequente politische Maßnahme.

Sie haben die Streichung von Budgetmitteln für die Integration damit gerechtfertigt, dass weniger Flüchtende kommen. In Wien soll es aber Schulklassen mit über 90 Prozent Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache geben. Brauchen die keine Integrationsmittel?
Ich möchte darauf hinweisen, dass hinter jeder Klage oft eine ökonomische Rationalität steht. Die Aussage, dass wir einen bestimmten Prozentsatz an Kindern haben, die nichtdeutscher Muttersprache sind, heißt ja nicht, dass diese Kinder kein Deutsch können.

Das wird aber im Wahlkampf ganz anders verwendet.
Ganz anders! Aber es wird einmal so und einmal so verwendet. Dahinter steckt oft die Überlegung: Wie kann man mehr Ressourcen bekommen? Leider zeigt die Statistik, die nach der Muttersprache fragt, nicht, wie es um die Deutschkenntnisse bestellt ist. Sonst würde es heißen: türkische Muttersprache, ausgezeichnete Deutschkenntnisse. Damit wäre das Rufen nach zusätzlichen Mitteln delegitimiert.

Soll das heißen, Brennpunktschulen sind oft keine?
Wien hat eine spezifische Problematik. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Eine hohe Zuwanderung, und oft ist diese eine nicht immer sehr qualifizierte. Aber dass dagegen nicht mit eigenen Mitteln viel getan werden könnte, stelle ich auch in Abrede.

Wie sollen Eltern, die ihre Kinder nicht in Brennpunktschulen schicken wollen, vom Gegenteil überzeugt werden, um eine bessere Durchmischung zu schaffen?
Das ist ein Punkt: Schulsegregation ist in der Regel viel höher als die Wohnsegregation. Das wird hervorgerufen durch Eltern, die meinen: "Meine Kinder lernen nichts in dieser Schule." Um das zu lenken und die Eltern zu motivieren, ihre Kinder dort zu lassen, müsste man solche Schulen vielleicht besser ausstatten. Ein schönerer Computerraum würde manche vielleicht motivieren, ihre Kinder drinnen zu lassen. Motivieren bedeutet aber, Geld in die Hand zu nehmen. Motivieren heißt, manchmal Ressourcen eher dort hineinzustecken als anderswohin. Das heißt aber in erster Linie die eigenen Ressourcen, nicht immer die des Bundes.

Sie waren früher der Integrationsberater von Sebastian Kurz. Wie viele Ihrer Vorschläge können Sie denn nun umsetzen?
Mit Sicherheit ist die Zahl der umsetzbaren Vorschläge kleiner als die der Vorschläge.

Und welcher Vorschlag war Ihnen besonders wichtig?
Die Deutschförderklassen haben wir in vielen Integrationsberichten gefordert, und man hat das immer mit einer Debatte über Ghettoklassen sehr schnell abgehandelt.

Und das Kopftuchverbot in Kindergarten und Volksschule?
Es soll Mädchen vor Diskriminierung schützen. Junge Mädchen müssen in ihrer Entwicklung frei sein. Ich weiß, dass das ein sehr komplexes und sensibles Thema ist. Wir werden bis zum Sommer ein entsprechendes Gesetz ausarbeiten.

Erwarten uns im Bildungsbereich Überraschungen?
Nein, nur kleinere. Die Neue Mittelschule ist sicher etwas, wo wir weiterkommen müssen.

Im Regierungsprogramm ist vorgesehen, dass es grundsätzlich Noten geben soll. Gleichzeitig bleibt es salonfähig, dass Erwachsene mit schlechten Mathe-Noten prahlen. Wäre da nicht eher ein Kulturwandel nötig?
Da haben Sie schon recht. Mich überrascht das immer sehr. Ich war immer stolz auf meine Noten.

Sie hatten vermutlich gute.
Ja. Aber ich war dennoch stolz. Ich glaube, dass diese Form von standardisiertem Feedback gar nicht unwichtig ist. Das wollen Kinder auch wissen: Wo stehe ich eigentlich in meiner Gruppe? Wettbewerb ist nicht immer etwas Schlechtes, sondern durchaus Leistungstimulierendes.

Apropos Leistung: Wann kommt die im Regierungsprogramm ebenfalls angekündigte leistungsorientierte Bezahlung der Lehrer?
Es soll eine Feedback-Kultur sein, und die soll auch bestimmte Konsequenzen haben. Aber ich glaube nicht, dass hier dezidiert eine Kopplung ans Einkommen gemeint ist, denn das ist etwas Schwieriges. Es gibt viele Berufsgruppen, die keine leistungs-oder feedbackgekoppelte Bezahlung haben. Auch ein Minister hat ein fixes Gehalt und keines, das von der Sympathie der Wählerinnen und Wähler abhängig ist.

Oder von der Zahl der Gesetze.
Das ist die Schwierigkeit. Die Lehrerinnen und Lehrer sollen das Gefühl haben, wenn ich etwas Gutes mache, einen interessanten Unterricht für interessierte Kinder, gibt es Feedback. Das muss nicht monetär sein. Es kann durch die Schulverwaltung zum Ausdruck gebracht werden: "Wir sind mit Ihrer Leistung zufrieden."

Und wie sieht es mit der Ferienregelung aus? Oder dem ständigen Unterricht am Nachmittag? Das sind heilige Kühe.
Eine Schulstunde ist bekanntlich keine Arbeitsstunde. Wenn man mit einer Lehrerin verheiratet ist, so wie ich, weiß man, was geht. Vorbereitung, Nachbereitung -ein Schularbeitsfach zu haben, ist ein unglaublicher Korrekturaufwand. Glauben Sie mir, da gehen viel Zeit und viele Wochenenden drauf.

Und die Ferien? Könnten Sie sich vorstellen, dass man die Regelung in Frage stellt?
Ja, der Ankerpunkt sind die Herbstferien. Wir werden das den Schulpartnern vorlegen. Man muss schauen, was herauskommt. Ist der Osterdienstag notwendig oder der Dienstag nach Pfingsten? Es gibt viele Vorschläge in diesem Bereich.

Sie sind auch für die Kindergärten zuständig. Hier stehen zwei Forderungen im Raum: das verpflichtende zweite Kindergartenjahr und die universitäre Ausbildung der Pädagoginnen.
Beides sollte realisiert werden. Mir wäre es am liebsten, wenn Kinder ohne große Startnachteile -und zwar Kinder mit und ohne Migrationshintergrund -und ohne Berücksichtigung der sozialen Herkunft in die Schule kommen. Da könnte eine vorschulische, frühkindliche Bildung durchaus etwas bewirken. Und damit es vernünftig gemacht wird, braucht es auch entsprechend ausgebildete Elementarpädagoginnen.

Besteht da nicht die Gefahr, dass diese nach dem Studium lieber eine Schullaufbahn einschlagen?
Nein. Das gleicht sich schon aus. Wir können jetzt nicht so eine exakte Bildungsplanung halten. Denn die Menschen halten sich in der Regel nicht an die Planung, sondern gehen dann woanders hin.

Das ist ja auch ihr Recht.
Das ist ihr Recht. Und wir leben in einem liberalen Staat, und ich bin ein liberaler Minister. Ich würde da nicht die großen Probleme sehen. Aber man muss anfangen, denn das geht nur Schritt für Schritt. Das zweite verpflichtende Kindergartenjahr kostet abermals Geld. Dahin gibt es eine Konstante: die finanzielle Bedeckbarkeit muss gegeben sein.

Mehr Geld gibt es für die Unis. Werden wir uns bald mit Harvard messen können?
Da muss ich auch wieder fair sein

...weil wir uns nicht vergleichen wollen?
Ich schon. Aber Austria Wien kann sich auch nicht mit Real Madrid messen. Natürlich ist das auch eine Frage des Geldes. An Harvard fließt mehr Geld als an alle österreichischen Hochschuleinrichtungen zusammen. Wir sind ein bisschen mit Franz Grillparzer "auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben", wie es in "König Ottokars Glück und Ende" heißt. Aber wir müssen das Beste aus den halben Mitteln machen.

Zur Person: Der Düsseldorfer lebt seit seinem Geografiestudium in Wien und ist seit 24 Jahren österreichischer Staatsbürger. Nach Stationen an verschiedenen Universitäten war der Professor Vizerektor der Uni Wien. Seit 2010 berät er zudem die Regierung in Integrationsfragen. 2017 wurde Faßmann Bildungsminister. Der 62-Jährige ist mit einer Lehrerin verheiratet und hat einen Sohn und eine Tochter.

Das Interview erschien ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 14/2018)