Wir haben keine Flüchtlingskrise,
wir haben eine Fernsehkrise

Landeshauptmann Kompatscher über Südtirols Autonomie, den Brenner und Norbert Hofer

von Arno Kompatscher © Bild: Ian Ehm

Der Brexit ist durch, die Briten wollen los von Brüssel. Denken Sie da auch an ein Los von Rom?
Die Euroskeptiker haben gewonnen. Das ist schlecht für Großbritannien, Europa und Südtirol. Wenn die völkerrechtlichen Voraussetzungen gegeben wären, wäre eine Eigenständigkeit nach dem Muster der mehrsprachigen Schweiz oder die Zugehörigkeit zu Österreich vorstellbar. Allerdings wären solche Szenarien im geltenden Rechtsystem nur mit Zustimmung Roms möglich und das ist alles andere als realistisch.

FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hat bei einer Veranstaltung in Bozen das Selbstbestimmungsrecht Südtirols gefordert. Geben Sie ihm Recht?
Die Südtiroler haben dieses Selbstbestimmungsrecht schon. Denn dieses Recht ist ein unveräußerbares Recht aller Völker im Sinne der UN-Charta. Das ist aber nicht mit einem unmittelbaren Recht gleichzusetzen, jederzeit einen eigenen Staat zu gründen, Grenzen zu verschieben oder eine Sezession durchzuführen. Die Forderung Straches und Hofers ist deshalb sehr populistisch und zeugt eher von Unkenntnis des Völkerrechts.

Was wollen die Südtiroler selbst? Die Unabhängigkeit, die Autonomie, zurück zu Österreich?
Wenn es die realpolitischen und rechtlichen Voraussetzungen dazu gäbe – wie gesagt, würde das im geltenden System die Zustimmung Italiens voraussetzen – würde sich wohl eine Mehrheit der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung sowohl für die Option eines eigenen Staates als auch für jene, zurück zu Österreich, aussprechen. Bei den Italienern in Südtirol würde sich das wohl umgekehrt verhalten, auch wenn ihnen Minderheitenschutzinstrumente zugesichert würden. Das Szenario ist aber wegen der fehlenden Zustimmung Italiens ohnehin völlig unrealistisch. Wir tun sehr gut daran, den bisher äußerst erfolgreichen Weg der Autonomie weiter zu gehen und die europäische Perspektive einer Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino noch stärker ins Auge zu fassen.

Geht es Südtirol so schlecht in Italien?
Südtirol geht es relativ gut, das belegen die Wirtschaftsdaten. Wir haben eine Arbeitslosigkeit von 3,8 Prozent im Sinken und bewegen uns auf 3,5 Prozent zu, also die Vollbeschäftigung. Das geht einher mit einer positiven Konjunktur. Der Export hat in den vergangenen acht Quartalen kräftig angezogen, zuletzt hatten wir ein Plus von acht Prozent. Wir haben vor allem eine gesicherte kulturelle Identität, Sprache, Schule, Vereinswesen, Traditionen.

Arno Kompatscher
© Ian Ehm

Ist Südtirol nicht schon fast ein kleiner Staat im Staat? Zumindest viele Italiener haben das Gefühl.
Wir haben Finanzautonomie, das heißt, die Steuereinnahmen bleiben zu 100 Prozent im Land, zehn Prozent überweisen wir dann dem Staat um dessen Kosten für Justiz, Polizeiwesen, Fiskus, Post, Außenpolitik, Verteidigung zu decken und weitere 476 Mio. als Beitrag zur Tilgung der Staatschulden, alles andere verwalten wir selbst.

Wieso ist dieses Volk dann so unzufrieden?
Das hängt mit der ständigen Sorge zusammen, dass die Autonomie wieder vom traditionell zentralistischen Staat Italien in Frage gestellt werden könnte. Insbesondere, weil Italien in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten ist. Das führt bei einigen zur Sorge, „mit einem sinkenden Boot“ unterzugehen. Die Frage ist also zuletzt zunehmend weniger volkstumspolitisch als vielmehr ökonomisch argumentiert worden. Alles was schlecht geht, wird dann gerne Rom zugeschrieben, das ist ähnlich wie in anderen Staaten mit Brüssel.

Sie kennen und können gut mit dem italienischen Premierminister Matteo Renzi. Wird da auch gestritten?
Man streitet mitunter auch recht heftig, wenn es um die Verfassungsreform und die Autonomie geht. Aber Renzi hat immer wieder das Bewusstsein deutlich gemacht, dass Südtirols Autonomie eine besondere ist, weil sie die Erfüllung einer völkerrechtlichen Verpflichtung gegenüber dem Staat Österreich darstellt.

Also brauchen die Leute keine Angst haben.
Das bedeutet nicht, dass es auf der Umsetzungsebene nicht immer wieder Versuche gibt, unsere Autonomie zu schmälern. Zuletzt gab es Schwierigkeiten bei der Finanzregelung. Mario Monti hat mit seiner Regierung 2012 in die Südtiroler Kassen gegriffen, um den Staatshaushalt zu sanieren. So etwas geht jetzt nicht mehr. Das wurde zwischen Matteo Renzi und mir neu vereinbart und anschließend nicht nur im Autonomiestatut verankert sondern in einem Briefwechsel Renzi-Faymann auch völkerrechtlich abgesichert.

Arno Kompatscher
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Wie lange bleibt der Brenner noch offen?
Derzeit braucht es keine Sondermaßnahmen am Brenner. Wir haben seit vielen Monaten trilaterale Grenzkontrollen unter Beteiligung italienischer, österreichischer und bayerischer Grenzkräfte. Italien hat seinerseits die Kontrollen intensiviert, so dass es kaum noch Übertritte gibt. Das funktioniert, und wir haben das Abkommen für weitere zwei Monate verlängert.

Rechnen Sie damit, dass in den nächsten Wochen ein Grenzzaun errichtet werden könnte?
Ich gehe nicht davon aus, weil das unverhältnismäßig wäre. Die EU hat immer darauf hingewiesen, dass solche Maßnahmen dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit folgen müssen.

Österreich scheint größere Angst zu haben.
Österreich hat 2015 rund 90.000 Asylwerber aufgenommen, das muss eine Volkswirtschaft erst stemmen und die notwendige Integrationsleistung ist eine enorme Herausforderung. So lange die europäische Solidarität nicht klar ist, im Sinne einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge auf ganz Europa und solange die Sicherung der Außengrenzen nicht funktioniert, ist Österreichs Position verständlich. Der Brenner ist für uns aber ein Symbol, zuerst der ungerechten Trennung, jetzt eines der europäischen Einigung und der daraus folgenden Möglichkeit, nationalistisches Denken und dessen Folgen zu überwinden. Deshalb haben wir darauf auch sehr sensibel reagiert. Wir sind gefordert, alles zu tun, um eine Schließung vermeiden.

Fühlen Sie sich da als Südtiroler nicht im Stich gelassen?
Nein, im Stich gelassen fühle ich mich nicht. Ich versuche diesbezüglich seit Monaten zwischen Rom und Wien zu vermitteln. Es ist nun - auch durch unsere Vermittlung - gelungen, ein Einvernehmen über die Kontrolltätigkeiten zu erzielen und die Situation am Brenner ist derzeit absolut ruhig.

Wie solidarisch ist Südtirol selbst, eine der reichsten Regionen Italiens?
Die Asylwerber sind in Italien im Verhältnis auf die Bevölkerung auf alle Regionen aufgeteilt Wir haben derzeit 1000 Asylwerber, es kommen in den nächsten Wochen 700 hinzu, bei einer Bevölkerung von 520.000.

Wie reagiert die Bevölkerung?
Wir haben eine ähnliche Diskussion wie in Österreich und Deutschland. Wir haben allesamt die Fernsehbilder aus österreichischem und deutschem Fernsehen gesehen. Und plötzlich haben viele Südtiroler gemeint, wir hätten ebenfalls eine große Flüchtlingskrise. Im Grund hat es sich bei uns völlig anders dargestellt. Wir haben derzeit einen Bruchteil dessen, was im Schnitt auf Österreich zugekommen ist. Trotzdem haben die Leute Sorgen und Ängste. Statt einer Flüchtlingskrise hatten wir bisher aber eher eine Fernsehkrise. Wenn es der internationalen Staatengemeinschaft aber nicht gelingt, das Schlepperwesen und die Flüchtlingsursachen nachhaltig und wirksam zu bekämpfen, kann sich das auch bei uns ändern.

Arno Kompatscher
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Sie haben im Vorfeld des österreichischen Präsidentenwahlkampfs dezidiert gegen den Bundespräsidentschaftskandidaten der FPÖ Norbert Hofer Stellung bezogen. Warum?
Ich habe mich gegen das Parteiprogramm des Kandidaten ausgesprochen und gesagt: Ich fände es bedenklich, wenn die Wertevorstellungen dieser Partei in die Hofburg einziehen.

Anders gefragt: Sind Sie jetzt erleichtert?
Dem FPÖ-Programm liegt ein stark nationalstaatliches, antieuropäisches und auch nationalistisches Denken zugrunde. Nationalismus hat genau zu der Katastrophe geführt, die das Leid der Südtiroler im 20. Jahrhundert geführt hat, nämlich die Unrechtgrenze am Brenner, Nationalisierungspolitik durch Faschismus und Nachkriegsitalien. Hingegen der europäische Gedanke mit einem Europa ohne Grenzen abseits der Nationalismen, und dem Gedanken der Zusammenarbeit hat Südtirol zu dem gemacht, was es heute ist.

Jüngst gab es ein Volksbegehren zur öffentlichen Führung samt Ausbau des Bozner Flughafens. Sie sprachen sich dafür aus und haben verloren. Denkt man sich da als Politiker: Ich hätte vielleicht nicht so klar für etwas eintreten sollen?
Nein. Die Bürger honorieren das sehr wohl, wenn man klar Stellung bezieht. Ich habe das Volksbegehren vor den Landtagswahlen versprochen und mich daran gehalten. Wir werden das Ergebnis respektieren. Persönlich bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass ein funktionierender Regionalflughafen mit gewissen Grenzen ein Mehrwert für Südtirol als Tourismusdestination wäre.

Ist es in der repräsentativen Demokratie schlau, das Volk bei großen Infrastrukturfragen abstimmen zu lassen?
Der Flughafen Bozen hatte eine spezielle Vorgeschichte, welche die Volksbefragung notwendig gemacht hat. Grundsätzlich ist für solche Entscheidungen aber die repräsentative Demokratie da. Wir Politiker werden dafür gewählt, dass wir unser Programm Punkt für Punkt abarbeiten. Aber das heißt nicht, dass die Bürger außen vor bleiben müssen. Beim Brennerbasistunnel gab es umfangreiche Bürgerbeteiligungsverfahren und Umweltverträglichkeitsprüfungen. Deshalb gab es bei uns auch nicht die großen Proteste, wir sprechen immer hin von der derzeit größten Baustelle Europas, wichtig ist, dass man sich an den Plan hält und die Leute miteinbindet, das hat auch das Beispiel St.-Gotthard-Tunnel gezeigt. So wird Politik glaubwürdig.

Arno Kompatscher
© Ian Ehm

Den österreichischen Bundeskanzler Christian Kern haben einige gefragt, warum er sich "das antut". Würden Sie sich den Job des Landeshauptmannes noch einmal "antun"?
Natürlich fragt man sich das auch manchmal, aber es überwiegt dann doch die Freude über die erreichten Ziele. Auch weil ich mit einer gewissen Unbescheidenheit sagen kann, dass wir als Landesregierung und unsere Mitstreiter in Rom in den vergangenen zweieinhalb Jahren Dinge zuwege gebracht haben, die uns fast niemand zugetraut hätte und die wir uns fast nicht getraut haben, ins Wahlprogramm zu schreiben, und doch sind sie gelungen, etwa die Senkung von Steuern bei gleichzeitiger Neuordnung der Wirtschaftsförderung oder die neue Finanzregelung mit Rom.

Das heißt, stellen Sie sich in eineinhalb Jahren wieder der Wahl?
Das entscheide ich unmittelbar vor den nächsten Wahlen.

Wo sehen Sie Südtirol in zehn Jahren?
Ich hoffe, Südtirol ist in zehn Jahren noch mehr als heute ein selbstständiges, bodenständiges und zugleich offenes Land, das stolz auf seine Tradition ist und gleichzeitig ein kleines Europa in Europa ist, eine Brücke zwischen Norden und Süden.

Mit eigenem Pass?
Ein eigener Pass ist dafür nicht unbedingt notwendig.

Die FPÖ fordert immer wieder die Doppelstaatsbürgerschaft für die Südtiroler. Sind Sie dafür?
Derzeit gibt es im österreichischen Nationalrat keine Mehrheit dafür. Bezogen auf Südtirol wären mögliche Nebenwirkungen zu berücksichtigen. Was ist, wenn das ganz wenige beantragen? Wird das dann so gewertet, dass sich die Südtiroler inzwischen als Italiener fühlen? Das wäre sicher kein erwünschter Effekt. Man müsste auch fragen: Wer dürfte diese Doppelstaatsbürgerschaft beantragen. Sind da die Südtiroler aller Volksgruppen gemeint, auch die Italiener in Südtirol? Oder alle Nachfahren der ehemaligen österreichischen Staatsbürger? Braucht es dann einen Ahnenpass? Nachdem die völkerrechtliche Schutzfunktion Österreichs die Südtiroler insgesamt und nicht die Einzelpersonen betrifft, bringt ein Doppelpass diesbezüglich keinen Mehrwert. Welchen Mehrwert hätte die Doppelstaatsbürgerschaft dann, außer der Bestätigung der bekannten Tatsache, dass wir eine österreichische Minderheit in Italien sind? Deshalb ist diese Frage mit entsprechender Behutsamkeit anzugehen. Es ist aber natürlich ein tolles Thema für Populisten.

Kommentare

Testor melden

Solche Politiker, wie Kompatscher einer ist, haben wir leider in Österreich nicht. Unsere Populisten aller Schattierungen könnten von ihm viel lernen.

Henry Knuddi
Henry Knuddi melden

stimmt vollkommen - heute spielt sich die politik in den medien ab...für deden punkt und komma eine pressekonferenz - früher war es so dass man pressekonferenz nach fertigstellung machte - das ganze wurde von USA direkt übernommen

neusiedlersee melden


So schlimm ist es nicht in Ö., Testor. Wir haben Kurz, Doskozil+Brandstetter. Im Gegensatz zu Spindelegger, Klug+Bandion, der Schrecklichen, ein Sprung nach vorne zu Reputation, Intellekt+Bildung.
Sie haben jedoch recht, dass so manche von Kompatscher lernen könnten, vor allem rechtzeitig zu schweigen. Etwa mit saudummen Bemerkungen zu Südtirol.

Henry Knuddi
Henry Knuddi melden

hofer will krieg gegen italien? auf das legt er doch an - wenns um südtirol geht, dann wäre dort der hofer+fpö nicht mal im landtag

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