Jugend ohne Gewissen

Junge Muslime gelten als besonders anfällig für extremistische Ideen. Auf der Suche nach Perspektiven geraten sie in die Fänge radikaler Islamisten. Ein Filmprojekt zeigt, wie Jugendliche erreicht werden können, bevor es zu spät ist.

von Extremismus - Jugend ohne Gewissen © Bild: Ricardo Herrgott

Sie zerrten ihn aus dem Haus seiner Eltern, pferchten ihn gemeinsam mit Dutzenden anderen in einen dunklen Raum, peitschten ihn aus, bis er blutete, und schlugen so fest auf ihn ein, dass sein Arm brach. "Sie" - die Männer mit den schwarzen Masken, Folterknechte des Islamischen Staates. "Ihn" - den 14-jährigen Burschen aus der syrischen Stadt Rakka, damals noch Hochburg der radikalislamistischen Terrororganisation.

Wenn der heute 17-jährige Salim über jene Zeit im Kerker der Dschihadisten spricht, wird seine Stimme ganz leise und monoton. Sein Gesicht zeigt keinerlei Regung. Es wirkt beinahe so, als würde er sich selbst nicht zuhören, wenn er redet.

Zwölf Tage verbrachte Salim, der in Wirklichkeit ganz anders heißt, in einer Folterzelle des IS. "Mir kam es vor wie 30 Jahre", sagt er heute. Zwölf Tage, in denen er mitansehen musste, wie ein Bub vor den Augen seines Vaters zu Tode geprügelt wurde. Zwölf Tage, in denen er sich sicher war, dass er sie nicht überleben würde. Sein Vergehen: Er rauchte eine Zigarette, was für die Gotteskrieger "haram", also "verboten" ist.

Heute lebt Salim in Wien und ist einer von zwölf Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die beim Filmprojekt "Echte Helden sind anders" mitgemacht haben. Dabei drehten sie gemeinsam mit Profis drei Kurzfilme gegen Extremismus, Rassismus und Sexismus. Ihr Appell: Echte Helden helfen Schwächeren und erniedrigen sie nicht. Und: Junge Menschen sollen sich nicht von der Propaganda der Islamisten täuschen lassen. "Wir wollen dem Videomaterial der radikalen Gruppen etwas entgegensetzen und Jugendliche erreichen, die extremistische Gedanken haben", sagt Projektleiter Mahir Yildiz.

Ohne Perspektiven

Dabei kommen die zwölf Jugendlichen selbst aus jenem Milieu, das anfällig für Radikalisierung ist. Laut einer Studie des Soziologen Kenan Güngör, auf deren Basis das Projekt entwickelt wurde, sind vor allem junge Muslime mit Migrationshintergrund gefährdet, die auf der Suche nach Perspektiven, Bezugspersonen und einfachen Antworten in einer komplizierten Welt sind. Und so absurd es klingt: Selbst die Opfer von Islamisten -so wie Salim - sind nicht vor deren Ideologien gefeit. Laut der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) kann Folter Extremisten produzieren, da sie die schwarz-weiße Welteinteilung in Gut und Böse plausibler macht. Das bestätigt der deutsche Psychologe Ahmad Mansour, der als Jugendlicher selbst in radikal-islamistische Kreise abzurutschen drohte: "Folter schafft eine psychologische Auffälligkeit und diese wiederum begünstigt die Radikalisierung."

Faszination IS

Salim hingegen kann nichts mit radikalen Ansichten anfangen. Er sei froh, in Europa zu sein, weit weg von Krieg und Gewalt. Umso befremdlicher für ihn, dass es Österreicher gibt, die sich in Syrien dem IS angeschlossen haben. So wie sein ehemaliger Schulkollege. Der gebürtige Afghane lebte knapp zehn Jahre in Österreich und war fasziniert vom Islamischen Staat. "Er hat mich immer gefragt, wie es in Syrien ausschaut, und ich habe ihm gesagt, dass er dazu nur die Nachrichten schauen muss." Er sei überzeugt gewesen, dass es dort besser wäre. "Aber es ist umgekehrt." Bald darauf war der Schulkollege weg. "Ich habe gehört, dass er nach Syrien gefahren ist. Wahrscheinlich ist er sofort gestorben", meint Salim. Insgesamt 300 Menschen aus Österreich haben es ihm laut Innenministerium gleichgetan und sind zum IS aufgebrochen. 100 davon sind mittlerweile zurückgekehrt.

Diese Menschen von ihren Überzeugungen abzubringen, sei Soziologe Güngör zufolge nicht mehr möglich. "Wir konzentrieren uns immer auf die bereits Radikalisierten. Aber die können wir nicht mehr erreichen. Deshalb müssen wir uns um jene kümmern, die sich in diesem Dunstkreis bewegen und anfangen, Gefallen an religiös begründeter Ungleichheit zu finden." Laut seiner Studie aus dem Jahr 2016 sind 27 Prozent der befragten muslimischen Jugendlichen in Wiens Jugendeinrichtungen latent radikalisierungsgefährdet. "Das heißt, sie hegen starke Sympathien für Gewalt und Dschihadismus und sind dem Westen gegenüber feindlich eingestellt", erklärt er. Die Ursachen dafür müsse man auf drei Ebenen suchen, wie der Psychologe Mansour sagt: "Da ist zum einen die psychische Ebene. Also Probleme in der Familie, Mobbing oder die Suche nach dem Sinn. Dann die soziologische Ebene, man möchte einer Elite angehören. Das geht automatisch mit der Abwertung anderer einher. Und dann die ideologisch-theologische Ebene, also das Islamverständnis, das von Gehorsam, Angstpädagogik, der Verteufelung des Lebens, der Orientierung am Jenseits und der Selbstwahrnehmung als Opfer geprägt ist." In diesem Weltbild seien Muslime die Opfer und der Westen, die Amerikaner, die Juden und die Medien die Täter. Für Terrorgruppen ein leichtes Spiel: "Denn sie sagen:'Wir kämpfen dagegen'", sagt Mansour, der im Zuge seiner Beratungsarbeit zu radikalisierten Jugendlichen mit Hunderten Biografien zu tun hatte.

Salim will kein Opfer sein. Er will mit seiner Geschichte warnen. "Die Leute sollen wissen, wie es in Syrien zugeht." Nachdem ihn ein IS-Richter nach zwölf Tagen Martyrium unerwartet freisprach, warfen ihn seine Peiniger auf einer Autobahn aus dem Fahrzeug. Zu Fuß rettete er sich in das Geschäft seines Onkels in Rakka. Salims erste Worte an ihn: "Kann ich mich bei dir waschen? Ich bin voller Blut." 24 Stunden später brach er mit seiner Familie in die Türkei auf. Von dort aus begann die Reise nach Österreich. Zuerst mit dem Boot nach Griechenland, dann auf der Balkanroute bis nach Wien. Zwei Jahre ist Salim nun hier. Seine Mutter weiß bis heute nicht, was in jenen zwölf Tagen geschah. Immer wieder fragt sie nach. Aber er gibt ihr keine Antwort. "Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht."

Schauriger Rollentausch

Seine Geschichte diente auch als Vorlage für einen der drei Kurzfilme im Projekt "Echte Helden sind anders", das vom Bundeskanzleramt gefördert wurde. In dem Werk mit dem Titel "Haram" spielt er aber nicht sich selbst, sondern paradoxerweise einen IS-Kämpfer. Die anderen beiden Filme, "Du basst nich" und "Click live", thematisieren Vorurteile und Mobbing.

Projektleiter Mahir Yildiz war wichtig, die Jugendlichen von Anfang einzubinden - von der Entwicklung der Ideen über das Schreiben des Drehbuchs bis hin zum Schauspielen. Die dabei erlernten Kompetenzen sollen auch ihr Identitätsbild stärken. "Sie sollen erkennen, dass sie noch viel mehr sind, als das, worauf sie oft reduziert werden -etwa auf ihre Religion", so der 37-jährige Filmemacher. Denn laut Psychologe Mansour können Diskriminierungserfahrungen die Radikalisierung zwar nicht auslösen, aber verstärken. Sie bestätigen die Opferrolle. Die zwölf Jugendlichen zwischen 14 und 26 Jahren sollen aber auch lernen, wie sie Videos im Netz richtig einordnen. Radikalisierung findet laut der Beratungsstelle Extremismus fast immer im Internet statt. Das hängt mit dem Medienverhalten dieser Generation zusammen. Salim bestätigt, dass in seinem Freundeskreis keiner Zeitung liest, "wir schauen alle Videos".

Das wissen die Extremisten und vermitteln online, was ihrer Meinung nach der wahre Islam ist, wie ein Held zu sein hat und dass Gewalt etwas Gutes ist. Yildiz: "Die Extremisten stecken Millionen in ihre Medienabteilung, um die Menschen zu erreichen. Die Videos sind professionell gemacht und voller Hollywood-Effekte. Sie behaupten, dass alle anderen Medien lügen und nur sie die Wahrheit kennen. Den Jugendlichen muss bewusst gemacht werden, wie sie arbeiten."

Leichtgläubige Opfer

Um zu verdeutlichen, wie weit manipulierte Inhalte verbreitet sind, hat er den Burschen und Mädchen zwei Fotos gezeigt: eines von CNN, auf dem ein US-Soldat einem knienden Iraker Wasser gibt, das andere vom katarischen Sender Al Jazeera, auf dem derselbe Soldat dem Iraker eine Waffe an den Kopf hält. "Diese Jugendlichen haben keine Medienkompetenz. Deshalb sind sie den Extremisten ausgeliefert", sagt Experte Güngör. Sie müssten lernen zu hinterfragen, wer Videos zu welchem Zweck macht. Und man müsse ihnen alternative Weltanschauungen anbieten, "deshalb auch das Filmprojekt".

Doch derlei Projekte sind rar gesät. Die Initiative Derad und die Beratungsstelle Extremismus etwa greifen erst, wenn sich Jugendliche bereits einer extremistischen Organisation angeschlossen haben oder im Gefängnis sitzen. "Das ist aber Anti-Terror-Arbeit und keine Prävention mehr", erklärt Kenan Güngör. Wichtig sei es, die Jugendlichen abzufangen, bevor es so weit kommt. Sie zu erreichen, wenn sie anfangen, Gefallen an solchen Ideologien zu finden. "Über diese Gruppe reden wir zu wenig." Neben der Verbesserung der Medienkompetenz plädiert er auch für Präventionsmaßnahmen an Schulen sowie in der Community-Arbeit mit den Eltern. "Es gibt nicht den Königsweg. Aber wir müssen auf allen Ebenen ansetzen."

Der deutsche Psychologe Mansour schlägt in dieselbe Kerbe. Seiner Meinung nach brauche es ein flächendeckendes Angebot, am besten eine EU-Strategie. "Wir müssen diese Jugendlichen abholen, bevor es die Salafisten und Terroristen machen."

Die Gefahr bleibt

Der Erwartung, dass durch den Zerfall des Islamischen Staates auch weniger Jugendliche in Europa mit diesem Gedankengut sympathisieren, erteilen die beiden Experten eine Absage. "Die Ideologien sind ja nach wie vor da", meint Soziologe Güngör. Psychologe Mansour geht sogar vom Gegenteil aus: "Die Szene in Europa wird definitiv größer." Das begründet er einerseits damit, dass der IS seine Anhänger nicht mehr nach Syrien und in den Irak holen will. "Sie sollen direkt in Europa angreifen." Und andererseits brauche es für Terroranschläge keine Strukturen mehr. "Die letzten Attentäter waren nicht einmal in Kontakt mit der Terrorgruppe."

Nun, da Salim seine Geschichte erzählt hat, will er mit dem Thema abschließen. Die Filme von "Echte Helden sind anders" sind abgedreht und online gegangen. Er will nicht mehr an Syrien zurückdenken. Auch dort leben will er nie wieder. "Syrien wird für mich immer mit diesen zwölf Tagen verbunden sein." Das Thema Film hingegen hat ihn nachhaltig gefesselt. Er überlegt, einen eigenen Youtube-Kanal zu machen. Und später einmal Schauspieler zu werden. Oder Apotheker. Angesichts seiner unglaublichen Geschichte scheint nichts mehr unmöglich.

Der ursprüngliche Beitrag erschien in der Printausgabe von News (Nr. 15/2018)