"Nichts wird so bleiben, wie es war?"

Schert sich noch irgendjemand um die EU? Wie ein Post-Corona-Europa aussehen sollte, beschreibt Europa-Spezialistin Ulrike Guérot. Ein Auszug aus ihrem aktuellen Buch "Nichts wird so bleiben wie es war? Europa nach der Krise"

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Europa - "Nichts wird so bleiben, wie es war?"
Ulrike Guérot, Jahrgang 1964, ist eine der arriviertesten Europa-Spezialistinnen im deutschen Sprachraum. Die Politikwissenschaftlerin und Publizistin ist u.a. Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems, Gründerin des European Democracy Lab (EDL). In ihrem populären ersten Sachbuch legt sie schonungslos dar, warum das Prinzip EU gescheitert, Europa aber dennoch quicklebendig ist. Im Herbst 2019 wurde Ulrike Guérot mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring ausgezeichnet.

Im Folgenden lesen Sie zwei Kapitel aus dem Buch "Nichts wird so bleiben wie es war? Europa nach der Krise"* von Ulrike Guérot sowie ihre Forderungen an die EU

© Molden Verlag

Was will die EU nach Corona und will sie genug?

Nichts wird bleiben, wie es war? Wird jetzt alles anders? Stabilisierung der EU oder institutioneller Fortschritt? Genau dies war, man erinnert sich, zu Beginn der Krise im März 2020 auch die Scheidelinie der Diskussion, als von italienischer oder auch portugiesischer Seite die prompte Forderung nach „Corona-Bonds“ aufkam: unmöglich! Temporäre Hilfe ja, damit niemandem etwas passiert, schallte es aus dem Norden. Aber auf keinen Fall dürfe die Corona-Krise zum Vorwand für strukturelle Reformen genommen werden, für einen europäischen Systemwechsel, konkret: für den Einstig in eine Haftungsgemeinschaft. Dabei ging es bei den Diskussionen in den ersten Krisenwochen nie um eine Vergemeinschaftung von Altschulden, sondern nur um gemeinsame Anleihen in der Zukunft, d. h. um Zinsgleichheit bei der Neuaufnahme von Schulden. Überhaupt: Europa, zumindest das Europa, auf das wir heute stolz sind – der Binnenmarkt, der Euro –, war letztlich nie etwas anderes als ein permanenter Systemwechsel. Ihn außer Kraft zu setzen hieße gleichsam, den Wirkungsmechanismus Europas zu beerdigen, Europa sein Lebenselixier zu nehmen. Diese Aversion gegen Vergemeinschaftung, auf die man einst so stolz war, wo kommt sie her? Wo führt sie hin? Und ist sie der eigentliche Sargnagel der EU?

»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«

Immerhin hat die EU aus der letzten Bankenkrise gelernt, dass mit Sparen allein buchstäblich kein Staat zu machen ist und auch sonst nicht viel Gutes entsteht. Jetzt wird Geld ausgegeben, was das Zeug hält. Aber daraus allein entsteht noch keine europäische Gemeinschaft, wenn eben keine neuen Strukturen geschaffen, keine neuen Weichen gestellt, keine neuen Institutionen begründet werden. Wo keine Institutionen, da keine administrativen Reflexe, da keine europäischen Gewohnheiten, keine Macht, keine Souveränität. Politischen Zugriff gibt es immer nur auf das, was institutionell geregelt ist. Wer ein solidarisches Europa wünscht, muss für ein souveränes Europa sorgen. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Soll Europa über den nächsten Ausnahmezustand gemeinsam entscheiden, muss es zuvor institutionell handlungsfähig gemacht werden.

Was also müsste jetzt institutionalisiert werden? Ein Pandemie-Zentrum? Eine europäische Gesundheitsbehörde? Oder, wie während der Krise fix ersonnen, auch ein europäisches Kurzarbeitergeld (SURE), um den wirtschaftlichen Schock gemeinsam abzufedern und Europa nicht in Länder bzw. Volkswirtschaften zu unterteilen, die sich ein Kurzarbeitergeld leisten können, und andere, die das nicht können?

Alle diese Fragen liegen nicht erst seit Corona auf dem europäischen Tisch und alle sind hart umkämpft. Es geht, wie seit eh und je in der Geschichte der europäischen Integration, wieder darum, welche Solidarität scheibchenweise institutionalisiert wird, damit nicht beliebig ist, dass geholfen
wird. Sondern europäische Verpflichtung!

Wer ist das Wir?

Wer sich im Juni 2020 durch die europäischen Nachrichtenprogramme zappte, konnte die subtile Renationalisierung des Diskurses und das Hochschwappen klassischer Vorurteile mit den eigenen Ohren vermessen. Ein französisches Nous und ein deutsches Wir. Die „Sparsamen Vier“ mittendrin, der vermeintlich
prassende Süden. Gerade die Franzosen, das ist natürlich ein Tabu, aber es wird trotzdem darüber gesprochen, leiden wieder unter einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber Deutschland: Weniger Tote, größerer Rettungsschirm, wie machen die das nur? Die Schweden haben es anders gemacht.
Die Italiener haben es schlecht gemacht. Kränkungen sind Treiber von Politik. Im französischen Feuilleton zirkulierte während Corona ein altes französisches Buch La crise allemande de la pensée française, die deutsche Krise im französischen Denken, ein Buch der Zwischenkriegszeit, das analysiert, dass in der Zeit zwischen 1870 und 1914 vor allem Minderwertigkeitskomplexe und Kränkungen kriegsvorbereitend, kriegstreibend wirkten. Mit dem Denken fängt es immer an: Was soll dieses Buch 2020 im französischen Feuilleton? Nach 70 Jahren erfolgreicher europäischer Integration?

»Die schreckliche Erfahrung der Corona-Krise war genau jene Nicht-Normalität Europas!«

Wenn Corona der Moment hätte sein können, ein europäisches Wir zu schaffen, dann wurde er bisher nicht genutzt. Wir alle sind nicht aus der nationalen Spur gekommen, von der Emmanuel Macron in einem Interview in der „Financial Times“ im Mai 2020 sagte, sie sei die „natürliche Form“. Sondern tiefer in ihr versunken. Wieso aber ist der Nationalstaat noch die natürliche Form, wenn wir seit 70 Jahren ein politisches Projekt Europa auf diesem Kontinent zusammen betreiben? Heißt Europa im Kern nicht das Ende der nationalen Vergleiche? Wie viel politische Arbeit und Energie wird es jetzt wieder kosten, genau diese aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen, nämlich die beschämende, unreflektierte Schnelligkeit, mit der wieder auf nationale Rhetorik umgestellt wurde, als sei dies ein normaler Akt nach 70 Jahren Integration, als seien die Menschen jenseits der Grenze nicht auch Europäer*innen? Europa, immer noch nicht normal?

Die schreckliche Erfahrung der Corona-Krise war genau jene Nicht-Normalität Europas! Die Leichtigkeit, mit der mühsam Errungenes auf einmal verspielt war. Wie schnell es ging und möglicherweise wiederkommt. Wo doch auf der anderen Seite der Grenze auch mit dem Euro bezahlt wird und selbstverständlich erwartet wird, dass die Rumän*innen in Österreich oder Deutschland den Spargel stechen und die Schweine zerteilen und die Zitronen aus Spanien kommen. Sind die europäischen Bürger*innen womöglich die großen Verlierer der Corona-Krise? Oder können gerade sie jetzt zu den Akteuren eines anderen Europa werden? Konsequenterweise steht die Forderung nach politischer und rechtlicher Gleichheit der europäischen Bürger*innen derzeit hoch im Kurs in Brüsseler Papieren:
Der prinzipiell gleiche Anspruch auf Versorgung, auch im Gesundheitsbereich, im Pandemie-Fall darf nicht durch nationale Grenzen durchbrochen werden.

»Jeder ist sich längst selbst der Nächste«

Europa den Bürger*innen, die Bürger*innen zuerst, das ist der jetzt mit aller Kraft und in letzter Minute versuchte europäische Wumms. Kann es gelingen oder kommt es zu spät? Niemand hat eine Antwort! Aber niemand kann leugnen, dass seit langem ein Run auf die Umgehung der europäischen Rechtsgemeinschaft eingesetzt hat: Die Briten sind bald raus aus den sozialen und ökologischen Binnenmarktregeln, der europäische Osten verabschiedet sich zunehmen aus dem werteliberalen Spektrum (Abtreibung, gleichgeschlechtliche Partnerschaft, Queer-Politik) europäischer Politiken, selbst das deutsche Bundesverfassungsgericht will den EuGH nicht ohne weiteres als übergeordnet akzeptieren. Die EU als Rechtsgemeinschaft? Vergleichbar einem bei weitem nicht vollendeten Gobelin-Teppich. Wenn aber die EU ihrem Wesen nach nichts ist als eine Rechtsgemeinschaft, was passiert dann gerade in Europa? Und wie lange wollen wir leugnen, dass es passiert? Europa, das heißt eben nicht in erster Linie, die gleichen Werte zu teilen, sondern die gleichen Rechte zu haben. Und die erodieren langsam. Jeder ist sich längst selbst der Nächste.

Ulrike Guérots Forderungen an die EU

  • Die europäischen Proto-Staatsbürgerschaft, die alle europäischen Bürger*innen überall auf dem europäischen Territorium gleiche Rechte und Pflichten gibt. Dies könnte man konkret dadurch auf den Weg bringen, dass von einem Stichtag an – etwa 1. Januar 2025 – alle europäischen Bürger*innen eine European Citizen Card ausgehändigt bekommen.
  • Die Schaffung einer politischen Autorität, die ein substanzielles Eurozonen-Budget (mindestens 30 % des europäischen BIP) verwaltet, die alle Maßnahmen zur Stabilisierung des Euros ergreifen und die gemeinsame Anleihen, sofern die der Her- und Sicherstellung öffentlicher Güter in Europa dienen, vergemeinschaften kann, um Zinsgleichheit für die europäischen Staaten herzustellen und Zinskonkurrenz zu unterbinden. Damit würde ein liquider gesamteuropäischer Anleihemarkt zunächst der Eurozone geschaffen.
  • Eine gemeinsame europäische Außengrenze, die durch eine einheitliche Asyl- und Migrationspolitik als Ganzes bewirtschaftet und gemeinsam überwacht wird, bei der nicht nur die Staaten mit den betroffenen Außengrenzen die Lasten tragen.
  • Ein europäisches Außenamt, das für die gesamt zeuropäische Außenpolitik zuständig zeichnet, und dem eine europäische Armee mit einer einheitlichen, europäischen Kommandostruktur zur Seite gestellt wird.
  • Direkte europäische Steuereinnahmen, deren Kontrolle und budgetäre Überwachung einem souveränen Europäischen Parlament unterstellt werden.

Buchpräsentation und Diskussion

Ulrike Guérot im Gespräch mit Franz Fischler "Nichts wird so bleiben, wie es war? Europa nach der Krise"
Dienstag, 22. September 2020 Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog | Armbrustergasse 15 | 1190 Wien Anmeldung unter www.kreisky-forum.org

Ulrike Guérot, langjährige Europa-Expertin geht mit dem ehemaligen österreichischen EU-Kommissar und versierten Europapolitiker Franz Fischler der Frage nach, wie ein #PostCoronaEuropa aussehen sollte. Und spricht mit ihm über ihr neues Buch.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. News.at macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Kommentare

Wieso auch? Das größte Verbrechen an Westeuropa seit Bestehen dank Merkel und Co! Unterwanderung und Kriminalität ohne Ende! Die europ. Urbevölkerung wird langsam ausgerottet!

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