Brigitte Bierlein: "Das war ein
kleiner Schock für mich"

Als Alexander Van der Bellen Brigitte Bierlein fragte, ob sie Bundeskanzlerin werden möchte, war ihre erste Reaktion: "Das kann ich nicht." Ob sie ein Nein bereut hätte? "Wahrscheinlich schon"

von Erste Frau im Amt - Brigitte Bierlein: "Das war ein
kleiner Schock für mich" © Bild: News/Ricardo Herrgott

Brigitte Bierlein zählt nicht zu jenen Menschen, die zur Jahreswende gute Vorsätze für sich selbst oder gar Karriereziele formulieren. Doch hätte man sie in der Silvesternacht 2018/19 gefragt, was dieses Jahr so bringen wird, hätte die Juristin eine klare Vorstellung gehabt. "Ich war Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes und habe gewusst, dass das mein letztes aktives Jahr in diesem Amt sein wird. Daher habe ich mir schon überlegt, wie ich meinen Abschied gestalten werde. Mein Jahr war durch die Sessionstermine im Gerichtshof getaktet, meine Urlaubspläne habe ich daran angepasst. Es waren ohnehin nur ein paar wenige Tage geplant. Die habe ich dann nicht konsumiert. Denn es kam eben ganz anders." Brigitte Bierlein setzte zu einem ganz besonderen Karrieresprung an.

"Anders" hieß nämlich: Am Abend des 17. Mai bekam Bierlein, die gerade beim Heurigen war, von einer Freundin das aufs Handy geschickt, was als "Ibiza-Video" österreichische Zeitgeschichte schreiben sollte. "Eine Bombe", schrieb die Absenderin dazu. Bierlein konnte das Video nicht öffnen, sah nur das Foto Heinz-Christian Straches im Schlabber-T-Shirt. "Ich hab mir erst nicht viel dabei gedacht. Später hab ich das Video dann gesehen und mir war klar: Das ist in der Tat eine Bombe. Es kann nichts so bleiben, wie es ist."

»Ich habe mir schon gedacht, der Bundespräsident wird mit mir nicht über das Wetter sprechen wollen«

Die FPÖ-Regierungsmannschaft verließ ihre Ämter, das Parlament wählte kurz darauf den Rest der Regierung ab. Am Christi-Himmelfahrt-Tag Ende Mai läutete Bierleins Handy. Bundespräsident Alexander Van der Bellen wollte sie treffen. "Da habe ich mir schon gedacht, er wird mit mir nicht über das Wetter sprechen wollen", erzählt Brigitte Bierlein trocken. Als sie "auf Umwegen, damit mich niemand sieht", in die Hofburg eilte, rechnete sie noch mit der Frage, ob sie vielleicht Justizministerin werden wolle. Es kam das Angebot, Kanzlerin zu werden. "Das war ein kleiner Schock für mich. Ich hab nur gesagt, ich kann das nicht."

Angebote, die nur einmal kommen

Doch warum Selbstzweifel? Immerhin war die Juristin im Verlauf ihrer Karriere schon in anderen Ämtern "die erste Frau" in der Geschichte: erste Präsidentin der Staatsanwältevereinigung, erste Generalanwältin der Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof. "Da habe ich nicht lange überlegt. Das waren vor allem juristische Tätigkeiten. Ich hab mir gedacht, ich kenne das Geschäft, weiß, wie man dort arbeitet und was man von mir erwartet." Sehr überrascht war Bierlein hingegen, erzählt sie, als 2003 ein anderer Anruf kam. "Das war an einem Sonntag, meinem letzten Urlaubstag, aus Kreta kommend, der Koffer noch auf dem Laufband. Ich wurde gefragt, ob ich mich nicht als Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs bewerben möchte. Ich habe zuerst gedacht, der Anruf ist ein Fake." Die Bewerbungsfrist lief noch bis Montag, "ich konnte mich mit niemandem besprechen, kannte die Kolleginnen und Kollegen zum Teil gar nicht. Ich habe mir überlegt: So eine Möglichkeit bekommt man im Leben sehr selten. Wenn ich nicht Ja sage, werde ich es wahrscheinlich bereuen und sagen: hätt ich doch."

Bierlein rückte an die Spitze des Höchstgerichts auf, wieder als erste Frau - und es ging sich noch ein zweites Überraschungsangebot in ihrem Leben aus. Das der Bundeskanzlerin. Ob sie es auch bereut hätte, wenn sie bei ihrem ersten "Ich kann das nicht" geblieben wäre? "Wahrscheinlich schon."

So oder so: ein spannendes Jahr

Doch selbst wenn die türkis-blaue Regierung nicht gescheitert wäre, hätte 2019 für die Verfassungsrichterin ein brisantes Jahr werden können. Einige zentrale Vorhaben des Kabinetts Kurz I landeten auf den Tischen der Höchstrichter. Einiges wurde in den letzten Tagen zumindest teilweise für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben, etwa die Reform der Mindestsicherung und das Überwachungspaket. Einiges steht noch auf der Tagesordnung, wie die Abschaffung des Karfreitags. Manches ließen die Verfassungsrichter allerdings auch gelten: etwa die Sozialversicherungsreform. "Einige dieser Fälle habe ich selbst noch zugeteilt in meiner Funktion als Präsidentin. Dann war allerdings schon mein unvorhergesehener Abgang. Aber es war mir klar, dass unter der Vielzahl der Fälle verfassungsrechtlich besonders spannende, sensible und nicht einfach zu lösende sind."

Wobei, das betont Bierlein, auch schon frühere Regierungen mit ihren Reformen vor dem VfGH landeten. "Wir haben immer wieder weitreichende Fälle", sagt sie und hält inne: "Ich sage immer noch wir." Ob sie immer noch "mitfiebert", wenn die Entscheidungen fallen? "Ja, schon. Ich halte mich natürlich strikt an das Amtsgeheimnis, aber als die Fälle eingelangt sind, habe ich mir gedacht, dass es da oder dort Probleme mit der Verfassungskonformität geben könnte. Als Juristin denke ich schon noch mit. Zum Teil schlägt mein Herz noch dort."

»So eine Möglichkeite bekommt man im Leben sehr selten. Wenn ich nicht Ja sage, werde ich es wahrscheinlich bereuen«

Auch abseits der juristischen Fälle beobachtete Bierlein den politischen Alltag - nehmen die Höchstrichter doch für sich in Anspruch, die "Hüter" der Verfassung zu sein. Dass blaue Minister die Europäische Menschenrechtskonvention, die in Österreich im Verfassungsrang steht, infrage stellten, beurteilt Bierlein rückblickend: "Diskussion muss in einer Demokratie immer gestattet sein. Es kommt auf den Ton und die Absicht dahinter an. Äußerungen von Parteipolitikern in Wahlzeiten kann man nicht immer mit den Maßstäben eines Verfassungsrichters messen - wichtig ist, dass die Verfassung eingehalten wird."

Parteipolitische, ja sogar tagespolitische Äußerungen haben sich Bierlein und ihr Ministerkabinett strikt versagt. Das habe den Start der Regierung sogar erleichtert, sagt die Kanzlerin. "Wir waren ja nicht wirklich eingespielt, auch wenn alle hervorragende Expertinnen und Experten sind und wir uns wirklich gut verstehen, was wahrscheinlich leichter ist in einer nicht parteipolitisch besetzten Regierung. Wir geben beispielsweise kaum etwas für Werbung aus, haben sehr schmale Kabinette." Und doch will Bierlein dem Eindruck entgegenwirken, diese Regierung hätte "nur" verwaltet: "Wir haben viele Verordnungen auf den Weg gebracht, auch durchaus nachhaltige, wie die neuen Lehrberufe. Wir haben auch verschiedene Gesetze in Begutachtung gesendet. Stillstand hat es nicht gegeben. Aber es ist natürlich weniger geschehen als in einer üblichen Regierung." Man wolle die kommende Regierung weder inhaltlich präjudizieren (etwa beim Klimaschutz) noch budgetär belasten. Dafür, so fügt Bierlein hinzu, habe in den vergangenen Monaten ohnehin das Parlament gesorgt. "Im freien Spiel der Kräfte wurden sehr viele und sehr kostenintensive Gesetze auf den Weg gebracht. Ich will nicht sagen, dass das alles Wahlzuckerln waren, aber doch auch. Das wollten wir bewusst nicht tun."

Viel länger als in den Jänner hinein könnten Bierlein und die Bundesregierung diese Zurückhaltung allerdings nicht aufrechterhalten. Es stehen Entscheidungen, etwa über ihre Nachfolge am VfGH, an, und solche nicht zu treffen, sei ganz und gar nicht die Art der Spitzenjuristin, erzählen Weggefährten. Wohl auch ein Grund, dass Bierlein hofft, der Ruhestand, der für Ende dieses Jahres geplant war, möge nun wirklich kommen. Erlebt hat sie als Kanzlerin genug. Sie hat sich Nächte in Brüssel um die Ohren geschlagen, in denen "Jean-Claude Juncker noch um halb drei Uhr früh zu Scherzen aufgelegt war und Merkel noch am Punkt diskutiert hat". Sie hat Militärhundewelpen geherzt und eine japanische Prinzessin begrüßt. Sie hat sich an die öffentliche Aufmerksamkeit gewöhnt, "das gehört irgendwie dazu", und die etwaigen Aufregungen der sozialen Medien ignoriert. Und sie hat die arbeitsintensiven letzten Monate als "Dienst am Staat empfunden. Wir, meine Kolleginnen und Kollegen in der Regierung und ich, haben uns immer als Staatsdiener gesehen. Man muss dem Staat auch hilfreich sein, wenn er in einer schwierigen Situation ist."

Was sich Brigitte Bierlein für 2020 vornimmt? "Zuerst einmal Freizeit zu haben. Das ist etwas, worauf ich mich wirklich freue. Wenn es sich ausgeht, möchte ich Ski fahren gehen."

Nicht nur sie hofft also auf eine Regierung vor der Schneeschmelze.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 51+52/19