Erneuerin der Kinderliteratur: Seit Lindgren
werden Kinderbücher als Literatur gesehen

Beeinflusste deutschsprachige Autoren massgeblich Vorwurf anfangs: Kinder in den Selbstmord zu treiben

Sie ist nicht nur die mit Abstand beliebteste Kinderbuchautorin der Welt, sondern auch diejenige, die die Kinderliteratur am nachhaltigsten verändert und eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Orchideenform der Literaturwissenschaft angeregt hat: Astrid Lindgren, die heute ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte, wurde an der Universität Växjö in Schweden sogar ein eigener Lehrstuhl gewidmet.

Die deutsche Skandinavistin und Lindgren-Forscherin Astrid Surmatz war die erste Gastprofessorin "zu Ehren von Astrid Lindgren" und veröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel über und mit der Autorin. "Ihre große Bedeutung liegt in der Erneuerung der Kinderliteratur", erklärte Surmatz gegenüber der APA. "Ihr Einfluss auf maßgebliche Autoren auch im deutschen Sprachraum ist unumstritten."

Vor allem nach 1945 hätten Lindgrens Werke die Entwicklung der Kinderliteratur insgesamt stark geprägt. "Der hohe Status ihrer Bücher hat auch zu einer Statusanhebung der Kinderliteratur allgemein geführt. Seitdem werden Kinderbücher als Literatur gelesen und wahrgenommen", so Surmatz. Geschafft habe Lindgren das vor allem durch ihre außergewöhnliche "Eleganz, Offenheit und Bandbreite ihres Schreibens", am meisten aber darin "dass sie das Kind und sein Recht auf Entfaltung zentral stellt." Ohne erhobenen Zeigefinger anspruchsvoll zu schreiben und dabei Kinder als eigenständige Wesen ernst zu nehmen, seien Kategorien, die für das Kinderbuch vorher so nicht gegolten hätten.

War ihrer Zeit voraus
"Lindgren hat viele Tabus der Kinderliteratur gebrochen", erklärte auch Kathrin Wexberg von der Studien- und Beratungsstelle für Kinder und Jugendliteratur in Wien (STUBE) im APA-Gespräch. Als "komplett anderer Typus von Kind" wurden Figuren wie Pippi und Ronja vor allem durch Lindgrens revolutionäre "antiautoritäre" Pädagogik berühmt, mit der sie ihrer Zeit weit voraus war - und auf viel Widerspruch stieß. Gerade im deutschsprachigen Raum seien Lindgrens Bücher auf massive Vorbehalte getroffen, wie Wexberg erzählte. Bei seinem Erscheinen wurde in einem deutschen Gutachten "dieses Pippi-Buch entschieden abgelehnt", aber auch Lindgrens ernsteren Geschichten, wie den "Brüdern Löwenherz" schlug heftige Kritik entgegen. So warf man der Autorin vor, Kinder mit einer Geschichte, die zu großen Teilen im Leben nach dem Tod spielt, "in den Selbstmord zu treiben".

Für Wexberg machen aber gerade auch die unbekannteren, dunkleren und dramatischen Bücher wie "Mio, mein Mio", die sich von der Idylle Bullerbüs verabschieden und sich sich Fragen über Gewalt, Tod und Loslösung von den Eltern stellen, "vom Kindbild her Mut", weshalb sie von der STUBE auch heute noch jederzeit mit Empfehlungen versehen werden. "Die Figuren leben Kinderrechte beispielhaft vor", betonte Wexberg. Vor allem - aber eben nicht nur - das Recht, das zu machen, was lustig ist. "Innerhalb des heutigen Leistungsdenkens in der Kindererziehung ist diese Message wichtiger denn je."

Film- und Hörspieladaptionen
Dass diese Message immer noch ankommt, ist laut Astrid Surmatz auch den vielen gelungenen Adaptionen der Bücher zu verdanken, bei denen Lindgren zu Lebenszeiten selbst immer ihre Hände im Spiel hatte. Zur großen Bekanntheit von Figuren wie Pippi, Ronja oder den Bullerbü-Kindern haben die zahlreichen Verarbeitungen in Film und Hörspiel maßgeblich beigetragen, die Darsteller sind heute meist unzertrennlich mit den Figuren verbunden. "Kinder kombinieren die verschiedenen Umsetzungen problemlos zu einem Gesamtkunstwerk", ist sich Surmatz sicher. Auch deshalb könne man davon ausgehen, dass Lindgrens Werk auch noch die nächsten 100 Jahre in seinen vielfältigen Formen überleben und unterhalten wird.

(apa/red)