Erich Neuwirth: "Die Warnsignale hätte man hören können"

Der Statistikprofessor Erich Neuwirth erstellt seit Beginn der Pandemie Analysen, die öffentliche Stellen nicht zur Verfügung stellen. Ein Gespräch über die aktuellen Fallzahlen, Wissenschaftsskepsis in Österreich und die Untätigkeit der Politik

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Erich Neuwirth: "Die Warnsignale hätte man hören können" © Bild: Ricardo Herrgott/News

Seit 13. März 2020 veröffentlicht der emeritierte Statistikprofessor Erich Neuwirth täglich Covid-Analysen. Sterbefallstatistiken, Inzidenzen und Fallzahlen, Impfquoten, Daten, die man auf offiziellen Seiten so nicht findet. Begonnen habe das alles aus innerfamiliärem Antrieb, erzählt Neuwirth: "Ich wollte die Situation in Österreich und in Deutschland, wo mein Sohn mit Familie lebt, vergleichen können und habe mir ein paar Daten zusammengesucht. Das ist dann gewachsen."

Rund eine halbe Stunde am Tag sei er damit beschäftigt, sagt Neuwirth, "wenn alles gut geht. Es passieren aber immer wieder Dinge, die mehrere Stunden Reparaturarbeit benötigen. Zum Beispiel: Bisher hat man etwas im Excel-Format bekommen, jetzt plötzlich als CSV-Datei. Es sind nur zwei Zeilen Code zu ändern. Aber die muss man erst einmal finden. Diese Zeit fehlt mir dann bei der Interpretationsarbeit."

Seit zwei Monaten ist Erich Neuwirth auch im Covid-Beraterstab von Wiens Bürgermeister Michael Ludwig.

Wann war denn der Punkt, an dem Sie an Ihren Zahlen gesehen haben, dass da etwas schiefgeht?
Wir hatten ab dem Sommer immer wieder kurze exponentielle Phasen. Wenn dabei in einer Woche die Inzidenz von zehn auf 20 steigt, fällt das nicht besonders auf. Aber wenn diese Phasen mit Ruhepausen immer wieder auftreten, sollte man gewarnt sein. Covid überrascht uns immer wieder, Prognosen sind wahnsinnig schwierig. Aber die Warnsignale hätte man hören können. Die politische Aussage "Für die Geimpften ist es jetzt vorbei" war eine der schlimmsten, die wir in diesem Jahr gehört haben. Weil wir wissen, dass die Impfung viele Risiken dramatisch reduziert, aber sie nicht auf null setzt. Wir haben derzeit eine Zunahmerate der Inzidenz von 60 Prozent pro Woche. Das ist schlimm. Im Vorjahr hatten wir eine ähnliche Entwicklung auf niedrigeren Niveau, aber zu diesem Zeitpunkt schon eine Woche Lockdown.

»Die Impfung reduziert viele Risiken, setzt sie aber nicht auf Null«

Die Politiker behaupten jetzt gerne, diese Entwicklung sei überraschend gekommen. Das stimmt also nicht?
Natürlich nicht. Viele Experten haben vielleicht nicht vorhergesagt, es wird genau zu diesem bestimmten Zeitpunkt so schlimm werden. Aber sie haben alle gesagt, es ist definitiv nicht vorbei. Für mich ein Auslöser, mehr nachzudenken, war das R0. Vereinfacht gesagt, die Zahl, die ein Infizierter ansteckt, wenn das Virus in freier Wildbahn kursiert. Das ist bei der Deltavariante mindestens doppelt so groß wie bei der ursprünglichen Variante. Ganz grob vereinfacht heißt das, wenn es doppelt so ansteckend ist, und wir haben die Hälfte geimpft, sind wir in derselben Situation wie früher. Das Bewusstsein, um wie viel gefährlicher die Delta-Variante ist, war nicht vorhanden.

Das Aktivitätslevel der meisten Politiker ist aber immer noch nicht merklich erhöht. Es gibt eine lähmende Langsamkeit bei den Entscheidungen.
Der WHO-Chef empfiehlt: Act fast and have no regrets. Schnell handeln und nichts bereuen. Zu wenig zu machen, hat demografisch und gesundheitspolitisch viel schwerere Folgen, als ein bisschen zu viel zu machen. Unsere Politiker haben scheinbar Angst, zu viel zu machen.

© Ricardo Herrgott/News

Sie kritisieren seit Monaten die mangelhafte Datenlage. Zum Beispiel: Ein Primar erzählt im Fernsehinterview, dass in seiner Intensivstation überhaupt keine Geimpften liegen. Ein anderer berichtet von 30 Prozent Impfdurchbrüche. Es kann ja beides stimmen. Aber wäre es nicht sinnvoller, es gäbe transparente Daten?
Wir bräuchten in den Spitälern eine bundesweite einheitliche und schnell verfügbare Datenerfassung, auch über den Impfstatus der Fälle. Im Prinzip müsste man das automatisieren können, dazu müsste man aber eigentlich den E-Impfpass und die Spitalsdateien verknüpfen. Ich halte das für einen der größten Schwachpunkte derzeit, dass wir keine gesamtösterreichischen offiziellen Auskünfte darüber haben, wie viele Fälle geimpft sind und wie viele nicht.

Woran scheitert es?
Ich habe mir das Epidemiegesetz noch einmal genauer angesehen. Eigentlich hat der Gesundheitsminister volle Vollmacht, alle Daten zu erheben und zusammenzuführen, die er braucht. Das heißt, die Schwachstelle liegt, glaube ich schon, in der Verwaltung im Gesundheitsministerium.

Warum macht Minister Mückstein das nicht?
Ich weiß es nicht. Es kontaktieren mich ja auch immer wieder Politiker, nicht sehr oft, aber ein, zwei Mal im Monat, aber Mückstein hat noch nie mit mir gesprochen. Ich glaube schon, dass ich ein bisschen Erfahrung habe und auf Datenschwachpunkte sehr deutlich hinweisen könnte.

Ein anderes Stichwort ist die Intensivbettenbelegung. Knapp vor dem Kollaps, sagen Ärzte, da geht noch was, hört man von manchen Epidemiologen. Was jetzt?
Das kann ich im Detail nicht beurteilen. Aber es ist erst vor einiger Zeit gelungen, die Zählweisen über die Bundesländer hinweg zu vereinheitlichen. Ein bisschen scheitern wir auch am Föderalismus. Dass da zu sehr eigene Süppchen gekocht werden. Es heißt ja auch Pandemie - alle sind betroffen, da sollte man sich auch zu einer allgemeingültigen Strategie durchringen.

Bei vielen Menschen erzeugt das eine große Verunsicherung. Man weiß nicht, was man glauben soll, und glaubt im Zweifelsfall das, was man glauben will. Sind die zuständigen Behörden durch ihr Versäumnis, sich um Datentransparenz zu bemühen, mitschuldig an der Situation, in der wir uns jetzt befinden?
Wer jetzt genau woran schuld ist, ist eine schwierige Frage. Aber man hätte sicher viel mehr tun können, um die Zuverlässigkeit der öffentlich verfügbaren Informationen zu erhöhen. Wenn man auf der Ages-Seite ein bisschen herumstöbert, findet man wenigstens schon Daten darüber, wie viele der positiven Fälle geimpft sind und wie viele nicht. Im Open-Data-Verzeichnis sind diese Daten aber nicht angeführt. Das gehört selbstverständlich auch hinein.

Wir kämpfen im Moment mit dem Problem einer gewissen Wissenschaftsskepsis. Es ist einigermaßen absurd: Die rasche Entwicklung des Corona-Impfstoffs ist ein Triumph der Wissenschaft, zugleich ist die Skepsis ihr gegenüber so groß wie nie. Die Leute landen lieber auf der Intensivstation, als sich impfen zu lassen. Warum ist das so?
Ganz prinzipiell ist im angelsächsischen Raum das Vertrauen in Statistiker höher als im deutschsprachigen Raum. In den USA gibt es z. B. Baseball-Statistiken, die den Leuten sehr wichtig sind. Der Umgang mit Daten ist mehr ein den Alltag eingebettet als bei uns. Das ist aber nichts Neues. Wir baden jetzt ein historisches Versäumnis aus, dass Statistik und Daten als wichtiges Erkenntnisinstrument einfach nicht so bewertet werden, wie es meiner Meinung nach sein sollte. Und dass das Vertrauen darin, wer Daten auswerten und Schlussfolgerungen ziehen kann, nicht sehr hoch ist. Ich sage gerne: Alle Daten erzählen Geschichten, aber oft tun sie das nicht sehr laut. Und Statistiker sind die Leute, die den Daten besser zuhören können. Wenn ich nur die Daten habe, kann ich auch falsche Schlussfolgerungen ziehen. Man muss schon ein Gespür dafür haben.

»Wissenschaft ist ein Prozess, der mit Irrwegen verbunden ist«

Die Welt erlebt gerade in Echtzeit, wie Wissenschaft funktioniert: Studien können zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, auf viele Fragen gibt es einfach noch keine Antworten etc. Wissenschaftliche Arbeiten als zähes und langwieriges Ringen um zuverlässiges Wissen. Überfordert uns das?
Das ist auch ein Bildungsproblem, weil Wissenschaft in der Schule so dargestellt wird, dass sie endgültige Antworten gibt. Dass Wissenschaft eigentlich der Prozess ist, sich den richtigen Antworten immer mehr zu nähern und dass dieser Weg auch mit Irrwegen verbunden ist, vermittelt die Schule zu wenig.

Wir können schlecht damit umgehen, dass Wissenschaft nicht allgemein gültige Wahrheiten verkündet, die von irgendwo herschweben?
Der Anspruch an die Wissenschaft in der Allgemeinheit ist: Die müssen's ja wissen. Die korrekte Aussage wäre: Gebt ihnen Zeit, darauf zu kommen.

Hängt das Misstrauen gegenüber Wissenschaft auch damit zusammen, dass sie sich manchmal tatsächlich als Teil des kritisierten Establishments positioniert? Die Pharmafirmen haben jetzt zwar einen hochwirksamen Impfstoff entwickelt, verdienen damit aber auch sehr, sehr viel Geld und weigern sich standhaft, das Patent für ärmere Länder freizugeben.
Deswegen ist auch wichtig, dass es einen öffentlich finanzierten Bereich in der Wissenschaft gibt. Dass die Unis sich jetzt immer mehr fremdfinanzieren, halte ich gesellschaftlich für eine unglückliche Entwicklung, weil damit andere Player Einfluss darauf haben, was beforscht wird. Es gibt Institute, die den Einrichtungen, die sie bezahlen, vorab Zugang zu ihren Forschungsergebnissen einräumen. Das ist eine unerfreuliche Entwicklung. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass man einer Gruppe einen hohen Grad an Unabhängigkeit bei der Erkenntnisgewinnung einräumt. Das ist bei öffentlich finanzierten, nicht unter Rechtfertigungsdruck Geldgebern gegenüber stehenden Wissenschaftlern leichter möglich.

Ich glaube, wir müssen auch noch über die Rolle der Medien sprechen. Wie haben Sie die erlebt während der vergangenen 18 Monate?
Sehr divers. Die sogenannten Qualitätsmedien haben schon ganz sauber berichtet. Aber es gab das False-Balance-Problem, das Phänomen, immer beide Seiten betrachten zu wollen. Na ja. Wenn einer von der Meinung von hundert Wissenschaftlern abweicht, man ihm aber dasselbe Gewicht gibt, entsteht ein falscher Eindruck. Das war zumindest am Anfang ein großes Problem. Wobei ein bestimmter Fernsehsender in Österreich da besonders beigetragen hat.

© Ricardo Herrgott/News

Sie sprechen von Servus TV. Hat diese Vorgehensweise eine Rolle für das Infektionsgeschehen gespielt?
Man kann diese Dinge nicht nachweisen. Aber was ist denn das Hauptsendegebiet dieses Senders? Salzburg und Oberösterreich.

Es ist eine einzige große, trübe Suppe: fehlende Daten, Medien, die unzulässig zuspitzen, schwindendes Vertrauen der Bevölkerung. Wie löst man das auf?
Immer wieder Überzeugungsarbeit leisten, immer wieder Argumente bringen. Es gibt zum Beispiel immer noch den Begriff des "Test-Tsumanis". Dort, wo mehr getestet werde, sei die Inzidenz halt höher. Wien testet 20 Mal so viel wie Vorarlberg, hat aber eine geringere Inzidenz. Das ist ein sehr klarer Beleg dafür, dass es den "Test-Tsunami" nicht gibt. Solchen Scheinargumenten müsste man sehr klar und einfach - wie ich es gerade versucht habe - begegnen und hoffen, dass man doch mehr Leute überzeugt.

Es kursieren krude Verschwörungstheorien über die Impfung. Führende Politiker seien in Wahrheit gar nicht geimpft, alle Geimpften sterben. Führen Sie manchmal Gespräche mit Impfgegnern und -skeptikern?
Ich lebe sehr zurückgezogen, weil ich als Asthmatiker Hochrisikofall bin, und habe solche Kontakte nicht unmittelbar. Auf Twitter werde ich von einer kleinen Minderheit stark angefeindet, ich habe auch schon Todesdrohungen bekommen, die ich allerdings nicht besonders ernst nehme. Aber ich denke mittlerweile schon daran, keine Urlaubsfotos zu posten, während ich weg bin, um Vandalismus zu Hause zu verhindern.

Wie stark erleben Sie die Polarisierung der Gesellschaft?
Mich stört, dass die Rationalität der Argumente sehr ungleich verteilt ist. Wenn Leute sagen, das gibt es alles nicht, stelle ich immer die Frage: Mit welchen Daten belegen Sie diese Meinung? Und dann ist die Diskussion immer sehr schnell zu Ende.

Welche Begriffe aus Ihrem Fachgebiet sollten alle Menschen nach eineinhalb Jahren Pandemie kennen?
Risikovergleich und Risikoabschätzung. Wie hoch ist das Risiko, nach der Impfung bestimmte Symptome oder auch Erkrankungen zu entwickeln? Wie stark hängt dieses Risiko von Faktoren wie Alter und Geschlecht ab? Und wie hoch ist das Risiko, Covid zu bekommen? Es gibt vielleicht hundert Fälle von Myokarditis unter Milliarden, die geimpft wurden, während laut Christian Drosten jeder irgendwann an Covid erkranken wird. Manche schwerer, andere weniger schwer. Ich höre immer wieder das Argument - auch das hat mit Risiko-und Zahlenverständnis zu tun -, dass bei den Totenscheinen geschummelt werde und die Todesursache Covid gefälscht sei. 2017, 2018 und 2019 gab es in Österreich ungefähr 83.000 Todesfälle im Jahr. 2020 waren es 91.000. Woher kommen die 8000 Toten mehr? Ist das dann der Chip, der uns eingepflanzt wurde? Wenn ich so nachfrage, bekomme ich keine Antwort mehr.

Aber überzeugt sind die Leute trotzdem nicht.
Nein, die Irrationalität ist in vielen Menschen noch tief verwurzelt.

ZUR PERSON

Erich Neuwirth (73) studierte Mathematik und Statistik an der Universität Wien und wurde ebendort 1987 in den Fächern Statistik und Computerdidaktik habilitiert. Bevor er 2010 in den Ruhestand ging leitete Neuwirth das Fachdidaktische Zentrum für Informatik. Er lehrt nach wie vor an den Unis Wien und Salzburg sowie an der Fachhochschule St. Pölten. Seit März 2020 veröffentlicht er auf seinem Blog und auf Twitter Covid-Analysen.

Das Interview ist ursprünglich im News Print-Magazin Nr. 46/2021 erschienen.