"21 Lektionen" zum Leben
vom Weltstar der Wissenschaft

Historiker Noah Harari analysiert das 21. Jahrhundert

Nach einem Blick in die Vergangenheit ("Eine kurze Geschichte der Menschheit") und in die von künstlicher Intelligenz und Biotechnologie geprägte Zukunft ("Homo Deus") nimmt sich der Israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari nun die Gegenwart vor. In seinem am Dienstag erschienenen Buch "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" analysiert er die von vielen als unübersichtlich empfundene Jetzt-Zeit.

von Erfolgsautor - "21 Lektionen" zum Leben
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In seinem neuen Buch beschreibt er unsere Welt und ihre großen Fragen. Wer seine früheren Bücher gelesen hat, wird manche These schon kennen. Trotzdem lohnt es auch diesmal, sich auf Hararis Überlegungen einzulassen. Zum Beispiel, wenn er den Wandel der Arbeitswelt durch die Digitalisierung beschreibt. Der Mensch könnte, so schreibt er, künftig seine Aufgabe als Produzent verlieren, aber auch die Rolle als Konsument sei in Gefahr. "Wir können nicht warten, bis die Krise voll zum Ausbruch kommt, bevor wir nach Antworten suchen", mahnt er.

Davor warnt der Erfolgsautor

Der Historiker Yuval Noah Harari geht davon aus, dass die Menschen in Zukunft noch massiver manipuliert werden könnten als heute. Das Verschmelzen von Bio- und Informationstechnologie liefere Regierungen und Unternehmen das Handwerkszeug. Zugleich warnte er im Gespräch mit der dpa anlässlich des Erscheinen seines neuen Buchs davor, rückwärtsgewandten Ideologen zu viel Raum zu geben.

In Ihrem Werk "Homo Deus" erläutern Sie, dass die Wissenschaft gezeigt habe, dass Menschen keinen freien Willen haben. Gleichzeitig schreiben Sie Ihre Bücher, weil Sie Menschen aufrütteln und zu besseren Entscheidungen bringen wollen. Wie passt das zusammen?
Menschen haben einen Willen - er ist nur nicht frei. Sie können nicht wählen, was ihre Wünsche sind. Menschen treffen sicherlich Entscheidungen - aber das sind niemals unabhängige Entscheidungen. Jede Entscheidung hängt von vielen biologischen, sozialen und persönlichen Vorbedingungen ab, die man nicht beliebig wählen kann. Sie haben Ihre Gene, Ihr Geschlecht, Ihre Eltern, Ihre Nachbarn, Ihre Kultur nicht ausgewählt. Versuchen Sie mal, den nächsten Gedanken bewusst zu verfolgen, der Ihnen in den Sinn kommt: Woher kam er? Haben Sie sich frei entschieden, genau diesen Gedanken zu denken und ihn im Anschluss gedacht? Offensichtlich nein.

Was lässt sich daraus folgern?
Die Idee, dass Menschen völlig unabhängige Einzelwesen sind, die frei ihre eigenen Gedanken und Wünsche wählen, ist wissenschaftlich lächerlich und politisch gefährlich. In früheren Jahrhunderten war die Gefahr gering, weil keine Regierung oder Firma das Wissen über biologische Abläufe und die Rechenleistung besaß, die notwendig sind, um Ihre Gedanken und Wünsche zu kontrollieren. Aber heute gewinnen einige Regierungen und Unternehmen die Macht, Menschen zu hacken und zu manipulieren. Und am einfachsten ist es, diejenigen Menschen zu manipulieren, die glauben, dass sie nicht fremdgesteuert werden können, weil sie einen "freien Willen" haben.

Wovor warnen Sie genau?
Ich versuche die Menschen auf die Tatsache zu stoßen, dass sie hackbare, manipulierbare Tiere sind. Gerade weil Menschen keine völlig unabhängigen Subjekte sind, kann ich versuchen, ihre Entscheidungen zu beeinflussen. Warum die Mühe? Weil manche Entscheidungen viel Leid verursachen, während andere helfen, Leiden zu verhindern. Die große Frage für mich ist, wie wir uns vom Leiden befreien können. Eine sehr wichtige Voraussetzung zum Vermeiden von Leid besteht darin, Illusionen über uns selbst zu vermeiden. Einschließlich der Illusion, dass unsere Wünsche einen "freien Willen" widerspiegeln.

Welchen Vorteil hätte das?
Wenn wir das begreifen, können wir weniger zwanghaft auf unsere Wünsche reagieren. Menschen geben ihren Wünschen so viel Wert, dass sie versuchen, die ganze Welt entsprechend zu steuern und zu gestalten. Wenn sie verstehen, dass ihre Wünsche nicht das Ergebnis freier Wahl sind, werden sie hoffentlich weniger von ihnen beherrscht sein. Wenn wir uns selbst und unsere Wünsche als das verstehen, was sie wirklich sind, wird es die Welt zu einem viel besseren Ort machen, als wenn wir beständig nur versuchen, die Begehrlichkeiten umzusetzen, die in unserem Kopf auftauchen.

Sie argumentieren, dass nicht Identität, Bewusstsein oder Intelligenz den Menschen über das Tier erheben, sondern unser Glaube an gemeinsame Mythen, Geschichten: Religion, Nation, Humanismus, Geld. Was wird die nächste große sinnstiftende Geschichte sein?
Das wissen wir nicht. Wenn wir es wüssten, würden wir schon daran glauben. Eine fiktive Geschichte funktioniert nur so lange gut, wie Sie noch denken, sie sei die Realität.

Sie haben vorausgesagt, dass das Verschmelzen von Biotechnologie und künstlicher Intelligenz eine neue Form des Menschen hervorbringen kann. Und dass es Menschen geben könnte, die von einer kleinen Elite so behandelt werden könnten, wie wir Tiere behandeln. Wie lässt sich eine solche Vision stoppen?
Wir müssen das menschliche Gehirn viel besser verstehen. Regierungen, Unternehmen und Armeen werden wahrscheinlich Technologien einsetzen, um Fähigkeiten zu verbessern, die sie brauchen, während sie andere menschliche Bedürfnisse und unbekannte Teile des menschlichen Potenzials vernachlässigen. Zum Beispiel werden Regierungen und Unternehmen wahrscheinlich die Entwicklung von Intelligenz und Disziplin fördern, während sie wenig Interesse daran haben, Empathie oder Spiritualität zu entwickeln. Das Ergebnis wird ein sehr intelligenter und disziplinierter Mensch sein, dem Empathie und spirituelle Tiefe fehlen.

»Wir schaffen jetzt Menschen, die in einem riesigen Datenverarbeitungsapparat wie effiziente Chips funktionieren«

Und das heißt dann...?
Wir haben es Kühen angetan: Wir haben gefügige Kühe gezüchtet, die enorme Mengen an Milch produzieren, sie sind aber weit weniger lebhaft und neugierig als ihre wilden Vorfahren. Wir schaffen jetzt Menschen, die in einem riesigen Datenverarbeitungsapparat wie effiziente Chips funktionieren, aber das menschliche Potenzial kaum verwirklichen. Wir könnten tatsächlich einen großen Teil dessen verlieren, was uns Menschen potenziell ausmacht, ohne überhaupt zu merken, dass wir bestimmte Potenziale hatten. Um das zu verhindern, müssen wir mindestens so viel in die Erforschung und Entwicklung des menschlichen Geistes investieren, wie wir in die Erforschung und Entwicklung neuer Technologien investieren.

»Die ökologische Krise ist nur eine der drei großen Gefahren, vor denen die Menschheit steht.«

Habe ich es in Ihren Texten richtig verstanden: Sie bewerten den Klimawandel, also die ökologische Krise, als die gefährlichste Bedrohung?
Die ökologische Krise ist nur eine der drei großen Gefahren, vor denen die Menschheit steht. Diese drei Gefahren sind Klimawandel, Atomkrieg und technologische Brüche. Selbst wenn es uns gelingt, den Klimawandel und einen Atomkrieg zu verhindern, steuern künstliche Intelligenz und Bio-Engineering darauf zu, den Arbeitsmarkt, die globale Ordnung und sogar unsere Körper und unser Denken sowie Fühlen in den Grundlagen zu erschüttern.

Unausweichlich?
Welche Punkte davon tatsächlich Realität werden, ist noch nicht zwangsläufig festgelegt: Es hängt von unseren Entscheidungen ab. Um die schlimmsten Folgen zu verhindern, brauchen wir jedoch eine globale Zusammenarbeit. Keines dieser Probleme kann von einer Nation allein gelöst werden. Die Bundesregierung kann Deutschland nicht gegen einen Atomkrieg oder gegen die Erderwärmung schützen, wenn sie nicht mit den Regierungen Chinas, der USA und zahlreicher anderer Länder zusammenarbeitet.

Was heißt das konkreter?
Wenn Sie Angst vor dem zerstörerischen Potenzial von künstlicher Intelligenz und Biotechnik haben, können Sie nicht erwarten, dass die Regierung Deutschlands diese Technologien im Alleingang regulieren wird. Angenommen, Deutschland verbietet die Herstellung autonomer Waffensysteme und gentechnische Eingriffe bei Babys. Was nützt das, wenn die USA trotzdem Killerroboter bauen und China genetisch verbesserte Supermenschen züchtet? Sehr bald wird sogar Deutschland versucht sein, sein eigenes Verbot zu brechen, aus Angst zurückzubleiben. Angesichts des immensen Potenzials dieser disruptiven Technologien können sie nur durch globale Kooperation reguliert werden.

Sie sprechen auch über die Schwächen und den Niedergang der liberalen Demokratie. Würden Sie für den Erhalt kämpfen?
Da stecke ich in einem ernsten persönlichen Dilemma, wenn es um Liberalismus geht. Ich glaube, dass das liberale Modell der Sinngebung Fehler hat, dass es nicht die Wahrheit über die Menschheit wiedergibt, und dass wir, wenn wir im 21. Jahrhundert überleben und uns entwickeln wollen, darüber hinausgehen müssen. Der Liberalismus hat keine Antworten auf die Fragen, die durch den Fortschritt bei künstlicher Intelligenz und Biotechnik aufgeworfen werden. Der Liberalismus geht davon aus, dass Menschen einen freien Willen haben, dass menschliche Gefühle die ultimative moralische und politische Autorität darstellen und dass niemand mich besser verstehen kann als ich selbst. Aber künstliche Intelligenz und Biotechnik werden es möglich machen, Menschen zu hacken, das menschliche Verlangen zu kontrollieren und Gefühle umzumodeln. Der Liberalismus weiß nicht, wie er damit umgehen soll.

» Künstliche Intelligenz wird es möglich machen, Menschen zu hacken, das menschliche Verlangen zu kontrollieren und Gefühle umzumodeln. «


Und andererseits?
Auf der anderen Seite ist die liberale Weise, die Welt zu erklären und ihre Geschichte zu erzählen, heute noch grundlegend wichtig für das Funktionieren der globalen Ordnung. Und zugleich wird sie gegenwärtig von religiösen und nationalistischen Fanatikern angegriffen. Diese Fanatiker glauben an rückwärtsgewandte Fantasien, die weitaus gefährlicher und schädlicher sind als das liberale Weltbild. Wir sollten den Liberalismus gegen diese gefährlichen Fantasien verteidigen. Und ich selbst verbringe jetzt viel Zeit und Energie damit, den Liberalismus zu verteidigen. Das ist eine der großen Belastungen, die durch die gegenwärtige Welle der Nostalgie entsteht: Sie zwingt uns, die alten Schlachten früherer Jahrhunderte noch mal zu kämpfen, anstatt uns auf die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu konzentrieren.

Rockstar einer Branche

Zur Person: Yuval Noah Harari (42) ist ein Historiker und Bestsellerautor aus Israel. Manche nennen ihn einen Rockstar seiner Zunft, er wird weltweit zu Vorträgen eingeladen. Harari lehrt Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seine zwei bisherigen Bücher wurden Bestseller: "Eine kurze Geschichte der Menschheit" und "Homo Deus". Heute, Dienstag, ist sein neues Buch "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" erschienen.