Der größte Eisenbahnraub

Vor 100 Jahren wurde in China ein ganzer Zug gestohlen

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Am 5. Mai 1923 bestiegen feudal gekleidete, vornehme Männer und Frauen den Erste-Klasse-Schlafwagon des "Blue Express", der Verbindung Shanghai-Peking, eines selbst für damalige Verhältnisse luxuriösen Zugs mit bequemen Einzelabteilen, üppiger Dekoration, breiten, holzgezimmerten Betten, Daunendecken und Polstern mit fein gestickten Überzügen, bunt verzierten Waschschüsseln und einer Glocke an einem samtenen Band, mit der die Passagiere einen der Dutzend Diener rufen konnten. Der mit Soldaten bewachte und mit Stahltüren gesicherte Wagon der ersten Klasse versprach den Passagieren eine garantierte Ruhe bei der Fahrt durch ein von Banden kontrolliertes Gebiet, das bei der wichtigen Verbindung Peking-Shanghai durchquert werden musste.

Rockefeller

An den Schlafwagen direkt angekoppelt ein extravaganter Speisewagon, in dem ein mehrgängiges Abendessen auf teurem Porzellan mit Silberbesteck serviert wurde, dazu die besten Weine aus Frankreich und eine kleine Gruppe Musiker, die für Unterhaltung sorgten. Unter den Passagieren Lucy Aldrich aus der Familie der Rockefeller, älteste Tochter des US-Senators Nelson Aldrich, mit ihrer Begleiterin, der bekannte Publizist John Powell, damals noch Korrespondent der "Chicago Tribune" und späterer Eigentümer der größten englischsprachigen Tageszeitung Chinas, Commodore Giuseppe Musso, ein einflussreicher Diplomat und persönlicher Freund von Mussolini, mehrere Offiziere der US-Armee, eine Gruppe der jüdischen Gemeinde von Shanghai und der gesuchte Kriminelle Joseph Rothmann.

Ein hoch bezahlter Jockey aus Hongkong, wo Trabrennen eines der wichtigsten Hobbys der britischen Besatzungsmacht war, mehrere Geschäftsleute aus Deutschland, Dänemark, Großbritannien und Frankreich und ein reicher Playboy aus Italien. Etwa 30 Amerikaner und Europäer reisten in der ersten Klasse und mehrere Hundert Chinesen in der einfachen Holzklasse.

Am 6. Mai, um 2:30 Uhr morgens, als die feinere Gesellschaft nach dem mehrstündigen Abendessen ihre Abteile aufgesucht und sich in ihren seidenen Schlafanzüge in die Betten zurückgezogen hatte, die Passagiere der einfachen Klasse dicht gedrängt, teils auf dem Boden liegend versuchten zu schlafen, wurde der Zug in der Nähe der Stadt Lincheng in der Shandong-Provinz überfallen. 1.200 Banditen, die meisten von ihnen ehemalige Soldaten, die desertiert waren und sich dem 25-jährigen Warlord Sun Mei-yao angeschlossen hatten, umringten den Zug, und zwangen ihn anzuhalten.

Widerstand

Dutzende Chinesen in den einfacheren Abteilen wurden sofort getötet, das Eigentum der Passagiere eingesammelt. Mit den ausländischen Fahrgästen hatte Sun Mei-yao andere Pläne. Die Banditen raubten zwar ihre Wertsachen, doch nur einer wurde erschossen -ausgerechnet der Gauner Joseph Rothmann, der versuchte, Widerstand zu leisten, und sich weigerte, Geld, Uhren und eine Schatulle mit Schmuck zu übergeben.

Während die Passagiere ängstlich ihre Wertsachen aushändigten und hofften, dass die Aufgabe von Schmuck und Geld ihr Leben retten könnte, ahnten sie nicht, dass Sun Mei-yao von Beginn an nur an den ausländischen Passagieren interessiert war. Er wollte mit den westlichen Geiseln von der Zentralregierung Chinas die Zusage erpressen, die Shandong-Provinz unter seine Kontrolle zu stellen, mit einer garantierten Unabhängigkeit innerhalb Chinas.

Überfordert und planlos aufgrund des unerwartet schnellen Erfolgs des Überfalls und voller Misstrauen gegenüber seinen eigenen Gefolgsleuten entschied Sun Mei-yao, etwa 100 wohlhabende chinesische und 28 ausländische Passagiere nicht in den Wagons gefangen zu halten, sondern sie in einem Lager in den Bergen zu verstecken und dort auf die Erfüllung seiner Forderungen zu warten. Den Frauen erlaubte er, sich umzuziehen, die Männer mussten den Fußmarsch in Pyjamas beginnen, manche konnten noch einen Schlafrock retten. Auf dem zehntägigen Marsch in die Berge gab es kaum etwas zu essen, immer wieder konnten Gefangene vor Erschöpfung oder der blutenden Füßen wegen nicht weitergehen, bis Lin Mei-yao mehrere Frauen und Kinder zurückließ und mit den Männern unter den Ausländern und einigen chinesischen Familien das provisorische Camp erreichte.

Hundefleisch

Die Zustände im Lager waren katastrophal, die Gefangenen schiefen auf dem Boden, es gab kaum etwas Essbares, bis die Rebellen aus den umliegenden Dörfern Schweine holten, um die Gefangenen am Leben zu erhalten. Leon Friedman von der Gruppe der jüdischen Gemeinde von Shanghai berichtete nach der Befreiung, er hätte den Rebellen versucht zu erklären, dass sie kein Schweinefleisch essen würden, selbst wenn sie verhungerten. Ein paar Tage später hätten die Banditen frisches Fleisch gebracht und erklärt, es sei Kalbfleisch, bis die Gefangenen durch Zufall entdeckten, dass die Bewacher wilde Hunde in der Umgebung eingefangen und geschlachtet hatten.

Innerhalb weniger Stunden nach dem Überfall erreichte die Meldung die internationalen Medien. Unter dem Titel "The Lincheng Incident" berichteten Reporter, die versuchten, die Gegend zu erreichen, tagtäglich über die Gefangenschaft der einflussreichen Persönlichkeiten. Fantasie und Realität betreffend die Schicksale der Gefangenen gingen ineinander über. Der US-Präsident Warren Harding, der Premierminister von China und Diplomaten aus Frankreich und Deutschland schalteten sich in die Verhandlungen ein. Aus Angst vor anderen Rebellen und der chinesischen Armee zwang Sun Mei-yao die Gefangenen, weiterzugehen bis zum Gipfel des Paotzkuku-Bergs. Als Messenger schickte er die Kinder unter den Gefangenen, deren Familien Lösegeld zahlen mussten, mit Botschaften ins Tal.

Diamantringe

Eine besonders interessante und originelle Persönlichkeit unter den Ausländern war die schwerreiche Lucy Aldrich aus der Rockefeller-Familie. Die Banditen kannten ihre Herkunft nicht. Aldrich, die nie geheiratet hatte und ihr Leben mit Reisen verbrachte, war auf ihrem zweiten "Round-the-World-Trip", als der Zug überfallen wurde. Bevor die Banditen ihr Abteil erreichten, versteckte die große, schwergewichtige Frau ihre kostbaren Juwelen und das Bargeld im Büstenhalter unter den Kleidern und stopfte die Diamantringe in die Schuhe, sodass sie während des Wegs zu den Bergen kaum gehen konnte. Die Räuber besorgten einen kleinen Esel, doch auch er schaffte es nicht, Aldrich den Berg hinaufzuschleppen. Sie blieb immer weiter zurück, bis die Wachsoldaten sie während eines Gewitters aus den Augen verlorenen und sie sich in einem Dorf versteckte. Die Bewohner brachten sie in die nächste Stadt. Noch Jahre später erzählte sie stolz in Interviews, dass sie als Einzige ihre Wertsachen nicht verloren hätte.

Die Rettung der Gefangenen war dem Amerikaner Roy Scott Anderson zu verdanken. Anderson, in China als Sohn amerikanischer Eltern geboren, sprach nicht nur fließend Mandarin, sondern auch die verschiedensten Dialekte. Als ehemaliger und einziger westlicher General der Sun-Yat-sen-Armee leitete er die Verhandlungen mit den Banditen und erreichte nach 37 Tagen Gefangenschaft die Freilassung. Der Rebellenführer Sun Mei-yao, dem alles versprochen wurde, was er gefordert hatte, wurde zum Tode verurteilt.

Mao Tsetung

Dennoch war der "Lincheng Incident" der Beginn des Zerfalls des bürgerlichen Regimes des Landes. Die Kommunistische Partei Chinas wurde gegründet, und Mao Tsetung, der in vielen seiner Reden den Überfall in Lincheng als Beginn des Aufstandes des chinesischen Volkes bezeichnete, übernahm 1949 die Macht.

Auf der Grundlage der Lincheng-Zugentführung entstand 1932 der Hollywoodfilm "Shanghai-Express" mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle unter der Regie des in Wien geborenen Josef von Sternberg, der bei insgesamt sieben Filmen mit Marlene Dietrich Regie führte. Nach den Filmen "Der blaue Engel" und "Marokko" wurde Marlene Dietrich mit "Shanghai-Express" - drei Oscar-Nominierungen -die berühmteste Schauspielerin ihrer Zeit.