"Einen Super-GAU wird es nicht geben":
Experten klären über Situation in Japan auf

Wiener Physiker: "Bin mir zu 90 Prozent sicher!" Greenpeace-Experte: "Für Entwarnung ist es zu früh"

Die Lage in Japan spitzt sich zu. Drei Atomkraftwerke wurden bei der Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe schwer beschädigt, nun befürchtet man einen Super-GAU. Doch wie gefährlich ist die Situation wirklich? Werner Gruber, Physiker an der Universität Wien, und Greenpeace-Atomexperte Steffen Nichtenberger stellten sich im Live-Chat den Usern und beantworteten alle wichtigen Fragen über die Vorgänge in Japan. An eine nukleare Katastrophe glaubt Gruber nicht: "Einen klassischen Super-Gau nach IAEO-Code wird es nicht geben. Da bin ich mir zu 90 Prozent sicher!" Nichtenberger ist weniger optimistisch: "Für eine Entwarnung ist es auf jeden Fall noch zu früh, weil fast stündlich neue Schreckensmeldungen aus Japan kommen. Die Gefahr von Nachbeben oder eines weiteren Tsunamis verschärfen die Bedrohung derzeit."

"Einen Super-GAU wird es nicht geben":
Experten klären über Situation in Japan auf

Er schätzt die Situation äußerst kritisch ein: "Auch in Kraftwerken an den anderen Standorten in Japan, von denen wir zur Zeit nichts hören, ist die Situation derzeit nicht unter Kontrolle. Die ständigen Meldungen über weitere Ausfälle von Kühlsystemen lassen das Schlimmste befürchten." Sichere Atomkraft gibt es für ihn nicht, wie das "Beben und der folgende AKW-Unfall in Japan leider bewiesen haben."

"Grobe Schlampereien" nach AKW-Unfall
An der Sicherheit der AKWs gibt es laut Gruber hingegen nichts auszusetzen, allerdings sind nach dem Unfall "grobe Schlampereien" passiert: "Die Notstromgeneratoren fielen nach einer Stunde aus und es konnte kein Ersatz gefunden werden. Die Notstrombatterie sprang ein, aber nach acht Stunden war die Leistung erschöpft, und es konnte wieder kein Ersatz gefunden werden." Pikantes Detail am Rande: Die betroffenen Atomkraftwerke hätten Ende März sowieso abgeschaltet werden müssen, dann wäre nämlich ihre Laufzeit zu Ende gegangen.

Kein Vergleich mit Tschernobyl
Die Menschen in Japan zittern vor einem Super-GAU, nicht zuletzt aufgrund der Katastrophe in Tschernobyl und ihren fatalen Auswirkungen. Gruber beschwichtigt jedoch: Die Situation in Japan sei nicht mit Tschernobyl vergleichbar. "Wir haben einen komplett anderen Reaktortyp. Bei Tschernobyl hatten wir einen Kohlenstoffwürfel, der tagelang gebrannt hat. Hier haben wir einen Druckwasserbehälter. Aus diesem Grund ist es mit Tschernobyl überhaupt nicht zu vergleichen. Die Brennstäbe werden heiß, radioaktives Gas wird in Luft abgegeben, aber das ausgestoßene Material hat eine geringe Halbwertszeit", erklärte der Physiker. Die nukleare Gefahr in Japan sieht er weniger dramatisch: "Da gibt es im Moment durch Beben und Tsunami mehr Tote, als es durch die Kraftwerke geben könnte."

Für Atomgegner Nichtenberg könnte die Situation sehr wohl dramatisch werden. Einer völligen Kernschmelze würde der Reaktormantel mit großer Wahrscheinlichkeit nicht standhalten und selbst wenn, "ist trotzdem zu befürchten, dass große Mengen an Radioaktivität freigesetzt werden." Die Folgen eines Super-GAUS in allen drei Kraftwerken wären verheerend. "Die betroffenen Regionen wären im schlimmsten Fall bis zu 250.000 Jahre radioaktiv belastet", betont der Experte.

Japan lässt keine Informationen durch
Zudem kritisiert Nichtenberger die "hochproblematische" Informationspolitik Japans, sodass es keine genaue Strahlenmessung gibt: "Unabhängige Experten werden derzeit nicht ins betroffene Gebiet vorgelassen. Eine objektive Messung ist daher nicht möglich."

Kommt die Strahlenwolke nach Österreich?
Und was ist mit der gefürchteten radioaktiven Wolke? Das bisher ausgetretene radioaktive Material sei extrem verdünnt und stelle an sich keine Gefahr für Mensch und Tier dar, wie Gruber versicherte. Die Strahlungswolke werde sich in der gesamten Atmosphäre verteilen, ein Teil werde einfach abregnen. Für Österreich gebe es nicht den geringsten Grund zur Sorge, immerhin lägen zwischen Japan und unserer Heimat rund 9.000 Kilometer. Auch die Meerestiere des Pazifiks könne man weiterhin essen. "Die bisher ausgetretene radioaktive Menge ist so stark verdünnt und gering, dass man eher auf Quecksilber und Kadmium (Anmerkung des Experten: Ölkatastrophe BP) achten sollte, als auf die Radioaktivität", sagte Gruber.

Mit dieser Diagnose ist der Greenpeace-Atomexperte nicht ganz einverstanden: "Es gibt keine unmittelbare gesundheitliche Bedrohung für Österreich, aber über Lebensmittel (Polardorsch) könnten verseuchte Produkte oder radioaktive Produkte nach Österreich gelangen. Aber das wird sich erst in den nächsten Tagen herausstellen." Außerdem werde in Mitteleuropa in den Messstationen in naher Zukunft eine leichte Erhöhung der Strahlung gemessen.

Verstrahlung ist nicht ansteckend
Die Angst sich mit Strahlung anzustecken, ist unbegründet, wie Gruber versicherte: "Es gibt zwei Möglichkeiten der Verstrahlung: 1) Die Strahlen durchdringen den Körper, ähnlich wie beim Röntgen. Da passiert sehr wenig. 2) Man atmet radioaktiven Staub ein oder trinkt ihn. Dann gelangt das radioaktive Material in den Körper und kann verheerenden Schaden anrichten. Beide Varianten sind nicht ansteckend", gab er Auskunft.

Keine wirkliche Alternative zu Atomstrom?
Der Wiener Physiker hofft, dass durch die Ereignisse in Japan die Sicherheitsstandards der Kraftwerke noch sicherer werden und dass es weltweit Diskussionen über Alternativen geben wird. Denn momentan gibt es noch keine wirkliche Alternative zu den Atomkraftwerken, wie Gruber zu bedenken gibt. Wasser und Windkraft würden nur einen geringen Teil des Strombedarfs decken und können nur begrenzt ausgeschöpft werden. Auch die Energiegewinnung durch Solarenergie ist mit Problemen behaftet, da "in der Wüste sehr viel Wasser zur Kühlung der Solarzellen benötigt wird." Für Nichtenberger ist der Umstieg auf alternative Energiequellen durchaus möglich: "Es gibt die Konzepte, die Politiker wissen davon, die Industrie weiß davon. (...) Entscheidend ist der politische Wille." Für Japan nennt er etwa die Offshore-Windenergie (Windenergie auf hoher See).

"Es ist kein Endlager notwendig"
Auch die Frage nach der Endlagerung von Atommüll, "der über tausende Jahre weiterstrahlt", ist für ihn ein weiterer Grund auf Alternativen umzusteigen. Das Argument vieler Atomkraftgegner sieht Gruber nicht als Problem: "Spallation! Es ist kein Endlager notwendig, man schießt mit Neutronen aus einem Teilchenbeschleuniger auf das hoch radioaktive Material und dieses wandelt sich dadurch in minderradioaktives Material um. Es wurde vom Nobelpreisträger Carlo Rubbia nachgewiesen, dass das technisch funktioniert."

Wie gefährlich sind die deutschen AKWs für uns?
Atomenergie oder nicht? Auch wenn bei uns in Österreich kein Atomkraftwerk in Betrieb ist, so sind wir doch von zahlreichen Kraftwerken umgeben. Unser deutscher Nachbar betreibt gleich mehrere davon. Ein Super-GAU in einem dieser AKWs, hätte auch fatale Auswirkungen für Österreich: "Greenpeace hat verschiedenen Berechnungen angestellt, wie sich ein AKW-Unfall in Deutschland auf Österreich auswirken würde. Wegen der vorherrschenden Wetterlage (Windrichtung meist aus West bzw. Nordwest) wäre Österreich beispielsweise von einem GAU im AKW Neckarwestheim massiv betroffen." Nichtenberger fordert daher Umweltminister Berlakovich auf, aus "seinem atompolitischen Tiefschlaf" zu erwachen und gegen die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke in Deutschland vor dem europäischen Gerichtshof zu klagen.

Carina Pachner