1 Haus für 1 Euro

Einmal eine geniale Geschäftsidee von einem südländischen Politiker

Wer sich dem 7.000-Einwohner- Dorf Gangi auf der Landstraße aus dem Süden nähert, dem eröffnet sich ein spektakulärer Anblick: im Vordergrund das imposante Dorf, ein rund 700 Meter hoher Hügel, bebaut bis zum letzten Winkel. Reihe an Reihe schmiegen sich die Häuser an die Südseite und schützen einander vor Wind und Wetter. Dahinter ragt der Ätna mit schneebedecktem Gipfel aus dem Nichts und raucht gemächlich vor sich hin. Sein Fundament verschwimmt mit den sattgrünen Wiesen, umsäumt von Zypressen, Mandelbäumen, Klatschmohn.

von Gangi © Bild: News/Herrgott Ricardo

Gangi ist ein Traum, den sich fast 100 Häuslkäufer seit fünf Jahren erfüllen. Damals hatte Bürgermeister Giuseppe Ferrarello, 45, die Idee, Häuser um einen Euro feilzubieten – wenig mehr als die 70 Cent, die in Gangi ein Espresso kostet. „Ich habe die Besitzer der leer stehenden Häuser angeschrieben und sie gebeten, ihre Häuser der Gemeinde zu überlassen, damit wir sie verkaufen können“, erzählt Ferrarello. Viele Verkäufer sind schon die Kindeskinder jener „Gangitani“, die ihr Glück in der Ferne suchten, als sie zu Hause nicht mehr genug Arbeit fanden, und in den Norden Italiens, in die USA, nach Großbritannien oder gar Australien ausgewandert sind.

Das war in den 1950er-Jahren, als immerhin noch 16.000 Menschen hier wohnten. Kurze Zeit später verließen auf einen Schlag 6.000 Menschen das Dorf Richtung Argentinien. „Die meisten ihrer Nachfahren leben heute in der Nähe von Buenos Aires“, erzählt der Bürgermeister, der sie dort schon besucht hat. Die meisten Besitzer überließen ihre mittlerweile oft halb verfallenen Häuser der Gemeinde. Diese sucht ihr Glück bei neuen Investoren. Die Käufer kommen aus aller Herren Länder – von Australien bis Ungarn oder Großbritannien. Wobei die Zuzügler oft viel weniger fremd sind, als man annehmen möchte. Viele Käufer der Ein-Euro-Häuser haben sizilianische Wurzeln und kaufen sich im Land ihrer Vorfahren ein. Bei einem Euro bleibt die Investition meist nicht, aber mit 18.000 Euro kriegt man schon ein Haus mit gutem Dach und kargem Innenleben. Und wer ein Rundum-sorglos-Paket sucht, muss 50.000 Euro hinlegen.

Liebe auf den ersten Blick

Romano Camilleri, nicht mit dem gleichnamigen sizilianischen Krimiautor verwandt, war als Kind oft zu Besuch auf Pantelleria, weil seine Oma auf der Insel wohnte. Pantelleria gehört zu Sizilien und ist Afrika näher als Sizilien. Der Pariser Camilleri, der mittlerweile in Straßburg lebt, hat Sizilien nie vergessen. Im November ist der Baumeister – „mein Bruder und ich betreiben eine kleine Firma“ – zum ersten Mal nach Gangi gekommen, und es hat ihn nicht mehr losgelassen. Beim zweiten Besuch war seine Frau dabei, und sie entschieden sich schließlich für ein Haus auf der Nordseite des Hanges, mit Blick auf den Ätna. Die drei Kinder sind beim Putzen des Häuschens schon dabei. Camilleri erfüllt sich einen Jugendtraum. Seine Kinder werden die Sprache seiner Vorfahren lernen. Noch wohnen sie in einer kleinen Pension, „beim nächsten Mal können wir vielleicht schon im neuen Haus wohnen“, sagt der neue Besitzer.

Gangi
© News/Herrgott Ricardo Es gibt noch genügend Häuser

Insgesamt hat der Franzose 14.000 Euro für sein Haus gezahlt. Weitere 4.000 sollten reichen, um das Haus bewohnbar zu machen. Alle zum Verkauf angebotenen Häuser stehen im alten Stadtkern und sind nach demselben Muster gebaut: drei Stockwerke mit je einem Raum plus WC oder Bad. Ganz unten hausten früher die Tiere, im ersten Stock waren Küche und Essplatz, ganz oben die Schlafkammern. Das reicht für uns“, meint Camilleri. Mehr als 70 Quadratmeter Wohnfläche hat sein Häuschen nicht, aber für mehrere längere Aufenthalte im Jahr ist ihm das genug. „Wir haben schon die nächsten Flüge im Juli und Oktober gebucht. Die Urlaube werden wir vorläufig alle hier verbringen.“ Sagt’s und winkt einem Ungarn zu, der sich auch erst vor Kurzem ein Haus in Gangi gekauft hat.

Spitzenbetreuung

Camilleri hat lang gezögert, bis er zugeschlagen hat: „Irgendwie war ich mir nicht sicher, ob ich mein Geld für so ein Abenteuer überweisen soll. Wer kann schon wissen, ob man nicht über den Tisch gezogen wird? Dann habe ich unterschrieben, und plötzlich kommt eine Einladung vom Bürgermeister, und ich werde im Palazzo Bongiorno offiziell als neuer Bürger begrüßt. Das war ein Wahnsinn!“ Die Immobilienagentur, die mit der Gemeinde kooperiert, unterstützt ihn immer noch, wenn er Hilfe braucht. „Das gibt es sonst nirgends. Hier kaufst du nicht nur, hier wirst du weiter betreut, ohne dafür extra zahlen zu müssen.“

Wer bürokratische Hürden fürchtet, kann beruhigt sein. „Innerhalb einer Woche erledigen wir alles“, sagt Bürgermeister Ferrarello. „Ich komme aus der Wirtschaft und weiß, was Zeit bedeutet.“ Er fügt hinzu: „Sizilien ist nicht nur Mafia. Die Mafia ist ein marginaler Teil davon. Man muss nur daran glauben, dass man etwas verändern kann, dann wird es gelingen.“ Er gibt anderen Bürgermeistern strukturschwacher Regionen ein Rezept mit auf den Weg, ganz wichtig: „Man muss die Leute mitnehmen.“ Das ist ihm gelungen. Sein Handy legt der Bürgermeister nicht aus der Hand, weil ohnedies ständig jemand anruft, der etwas braucht oder anbieten will.

Rasche Renovierung

Innerhalb von drei Monaten kann ein Käufer mit der Sanierung seines Häuschens rechnen, sagt Cataldo Lo Cicero, Vorarbeiter in einem kleinen Baubetrieb, der sämtliche Arbeiten ausführt: „Wir renovieren alles – von den Stromleitungen über Installateursarbeiten bis hin zu Tischlerausführungen.“ Auch er kennt das Schicksal des Gastarbeiters. Er hat mehrere Jahre im Norden Italiens und in Deutschland verbracht. Überhaupt gibt es hier viele, die eine „deutsche Pension“ haben, 80 bis 100 Euro pro Monat bekommen die Rentner, die nach einigen Jahren wieder in die Heimat zurückkamen.

Cataldo und seine Frau haben fünf Kinder. Eine Tochter ist vor einem Jahr mit ihrem Freund nach Brüssel ausgewandert, weil sie beide keine Arbeit in Gangi fanden. Sie kehren wie viele andere Gangitani im August zurück, um hier die Sommerfrische im Kreis der Familie zu verbringen.

Auch immer mehr Sizilianer aus der Hauptstadt Palermo genießen das ruhige Leben am Berg, auf 1.100 Metern Höhe, und kaufen sich hier – zwei Stunden von Palermo entfernt – ein. Zuletzt hat eine Investorengruppe aus der Toskana gleich mehrere Häuschen nebeneinander gekauft, um ein Boutique-Hotel zu errichten – in Form eines Ensembles. Die Touristen können also kommen.

Manager und Dorfbürgermeister

Bürgermeister Ferrarello teilt sich seine Zeit zwischen Palermo und Gangi: Drei Tage in der Woche leitet er in der Inselhauptstadt ein Tourismusunternehmen mit 600 Mitarbeitern, den Rest der Zeit gibt er in seinem Heimatdorf den Ton an, um hier Aufbauarbeit zu betreiben. Als er vor acht Jahren zum Bürgermeister gewählt wurde, lebte Gangi vor allem von 500 kleinen Betrieben, die im Agrarbereich tätig sind. „Tourismus und Kultur wurden gar nicht gesehen“, sagt er. „Ich bin überzeugt, dass wir auf Gold sitzen, wir müssen es nur ausgraben und pflegen.“

Gangi
© News/Herrgott Ricardo Bürgermeister Giuseppe Ferrarello hatte die geniale Idee

18 Kirchen hat das historische Zentrum, darunter die einzige Wallfahrtskirche in Italien, die dem Spirito Santo, also dem Heiligen Geist, geweiht ist, sowie drei archäologische Gebiete. „In den 50er-, 60er- und 70er-Jahren haben die Politiker die schönen alten Steine wegbringen lassen und alles in Zement gegossen“, erzählt Ferrarello. So schauen viele Häuser vor der Renovierung auch heute noch aus. Unter dem Zement verbergen sich wahre Schätze: Eng aneinandergereihte Steine zeugen von der alten Kultur, wetterfeste Häuser zu bauen, die gegen die Hitze im Sommer ebenso schützen wie gegen die Kälte im Winter.

Balsamierte Pfarrer

Mittlerweile hat das Dorf drei Museen, ein weiteres soll bald hinzukommen. Seit eineinhalb Jahren ist die Krypta der einbalsamierten Dorfpfarrer zugänglich, mit 60 Figuren, die aneinandergereiht aufgestellt wurden – die zweitgrößte derartige Sammlung in Sizilien. „Ein Journalist von ,National Geographic‘ ist vor ein paar Tagen gekommen, um darüber zu berichten“, erzählt Ferrarello stolz.

„Die Kultur füllt dir nicht den leeren Bauch“, hat ein alter Bauer vor einigen Jahren zum Bürgermeister gesagt. Inzwischen verkauft der Bauer mehr Schafe, weil mehr Touristen ins Dorf kommen und die Restaurants mehr Lammfleisch brauchen. Und als der Bürgermeister den Bauern kürzlich wieder getroffen hat, habe der zugegeben: „Du hattest recht. Auch die Kultur kann Bäuche füllen.“

Wir sitzen im Quo Vadis und essen Antipasto mit Salami aus Gangi, Oliven, gegrilltem Gemüse, Mozzarella. Zuerst will Ferrarello nichts essen. Aber als sein Freund und Lokalbesitzer Santo Forestiere Pasta con la frittella – typische Nudeln mit grünen Bohnen – auftragen lässt, kann er nicht widerstehen. Der Wirt ist stolz auf seinen Bürgermeister: „Er ist unser Leader.“

Gute Infrastruktur

Es gibt öffentliche Aschenbecher, und die wenigen Zigarettenstummel am Boden kehrt ein Gemeindebediensteter sofort weg. Es gibt öffentliches WLAN (das nicht immer funktioniert), und wer nicht wüsste, dass er in Gangi ist, könnte beim Schlendern durch die Hauptstraße auch glauben, durch ein Städtchen in Umbrien oder der Toskana zu flanieren. Die Kirchen und Kulturgüter werden mit Kenntafeln beschrieben, auch in Blindenschrift. Dazu gibt es einen extra historischen Rundgang.

Santo Forestiere hat das Restaurant und Pub Quo Vadis 2006 gekauft, „von einem Gangitano, der nach Palermo gegangen ist und dessen Frau wenig Interesse am Ort zeigte“. Als er das Lokal übernommen hat, habe sein Vater ihn für verrückt erklärt, erinnert sich Forestiere. Mittlerweile beschäftigt er zwei Frauen aus dem Ort, die den Laden auch schmeißen, wenn er in der Autozulieferfirma seines Vaters arbeitet.

"Kleine Schweiz"

Santo Forestiere hofft, dass der Bürgermeister bald zum Regionalpräsidenten Siziliens aufsteigt: „Hier hat er eine kleine Schweiz geschaffen. Warum sollte ihm das nicht für ganz Sizilien gelingen?“ 2017 ist die nächste Wahl, nach drei Legislaturperioden darf Ferrarello nicht mehr kandidieren, es wäre also an der Zeit, auch politisch nach Palermo zu wechseln.

2014 wurde Gangi zum schönsten Dorf Italiens gewählt, unter den 28 Gemeinden im Naturpark der Madonien ist es heute eine Perle. Cefalù, eine Stunde entfernt am Meer gelegen und in Italien als malerisch verträumter Badeort mit imposanter Kathedrale aus der Zeit der Normannen bekannt, ist das Zentrum der Region. Aber viele Schaulustige aus den umliegenden Dörfern pilgern jetzt in voll besetzten Bussen nach Gangi, um die Erneuerungsarbeiten zu begutachten und an zahlreichen Prozessionen teilzunehmen. „Bei uns sind bei einer Prozession mehr Leute als bei einem Konzert von U2“, meint der Bürgermeister und stellt Tag für Tag seine Videos auf die Facebook-Seite von Gangi. So können die neuen Hausbesitzer das Dorfleben auch aus der Ferne mitverfolgen.

Noch gibt es genug Häuschen in Gangi zu kaufen, und der Bürgermeister hat einen Traum: „Wir können mehr als Taormina“, sagt er – und will sein Heimatdorf zum neuen Mittelpunkt der Madonien und auch Siziliens machen.

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