Ein besseres Thema
als Sebastian Kurz

Ins Theater dürfen wir immer noch nicht, aber das wissen Sie auch ohne mich. Darf ich mich also lieber an Thomas Bernhard erinnern, der in diesen Tagen 90 Jahre alt würde?

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Ja, ich weiß schon, Sie dürfen weiterhin nicht in die Oper, auch nicht mit Test, zum Tattoostechen hingegen schon, wenn auch nur mit Test. Das liegt daran, dass die eine Berufsgruppe unter die körpernahen Dienstleister fällt; und die andere (so wie auch der noch wesentlich körpernähere Bordellbetrieb) unter die geschlossenen "Freizeiteinrichtungen". Ich wollte sogar schon anfragen, ob Sie mir den letzten Witz mit dem Namen des Kanzlers genehmigen, eine Zeile aus Schillers "Glocke" als Mahnung an türkise Wähler: "Der Wahn ist Kurz, die Reu ist lang." Aber wir Kulturverliebten finden in avancierten Regierungskreisen ohnehin kein Gehör, und außerdem habe ich Ihnen all das schon oft mitgeteilt.

Wenden wir uns also einem vielmals nennenswerteren Anlass zu: Thomas Bernhard würde am 9. Februar 90. Kein Alter schon damals, und doch ist in ein paar Tagen auch sein 32. Todestag zu beklagen. Er starb - welch ironische Aktualität -an einer Lungenkrankheit mit dem wie von Wilhelm Busch ersonnenen Namen "Morbus Boeck". Wohl in Würdigung dieser unbeirrbaren Lebensbegleiterin brachte er eine berühmte Zeile aus dem Gregorianischen Choral auf die Bühne: "Media vita in morte sumus - mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben."

»Das konnte er wie kein Zweiter: mittels abstruser Pauschalisierung an die tieferen Wahrheiten zu gelangen«

Das Gebrüll und Gekeife von der Galerie des Burgtheaters gellt mir noch heute in den Ohren: dumme Kinder unter Anleitung noch dümmerer Lehrer zwischen gekerbten Neonazis, und alle von Minute zu Minute kleinlauter, denn es gab nichts zu demonstrieren. Bernhards "Heldenplatz", ein Jahr lang mittels aufgeschnappter Halbsätze als ungeheuerliche Heimatbesudelung kampagnisiert, erwies sich anlässlich der Uraufführung am 4. November 1988 als melancholische Tragikomödie eines Sonderlings. Was der über "sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige" - die damalige ungefähre Bevölkerungszahl Österreichs -zu verstehen gab, war bloß Rollenrede eines misanthropischen Exzentrikers, der in der Nazi-Zeit Schaden an der Seele genommen hatte. Aber das konnte Bernhard, der Übertreibungsweltmeister, wie kein Zweiter: mittels abstruser Pauschalisierungen an die tieferen Wahrheiten zu gelangen.

Während das Publikum verzaubert an den Lippen des großen altösterreichischen Schauspielers Wolfgang Gasser hing, gerieten die Demonstranten auf der Galerie zusehends in Panik: Da kam ja nichts, obwohl man eine Fuhre Dung beim Haupteingang des Theaters deponiert hatte! "Die Natur bedeutet mir rein gar nichts", erstreckte der Professor seine Fundamentalopposition gegen die Welt ins Kosmische. Und da piepste endlich ein törichtes Frauenstimmchen vom dritten Rang: "Der Natur, Herr Professor, verdanken Sie Ihr Leben!" So etwas vergisst man nicht.

Drei Monate später war Thomas Bernhard tot, und ich habe ihn noch gekannt. Ganz von der Ferne allerdings, präziser: vorwiegend fernmündlich. So gut wie jeder Journalist im erweiterten deutschen Sprachraum wollte mit ihm reden. Aussichtslos, dabei stand er -unvorstellbar, so dass keiner auf die Idee kam -im Wiener Telefonbuch. Und er lebte auch mehrheitlich in der Wohnung seiner verstorbenen Tante im 19. Bezirk. Er hob nur nicht ab, also versuchte ich den abgenutztesten aller Eisenbahnerschmähs: Ich ließ drei Mal läuten, hängte ab und rief nochmals an. Und da war er wahrhaftig am Festnetzapparat und kannte mich, und wir redeten eine halbe Stunde. Als ich mich glücksbeschwipst verabschiedete, traf mich der Tiefschlag meines Journalistenlebens. "Das war aber alles privat, gell?", monierte er freundlich. Wenig später, auf dem Höhepunkt des "Heldenplatz"-Wahns, wartete ich dann vor seinem präferierten Café, dem Bräunerhof. Und da saß er tatsächlich! Als er mit seiner ständigen Begleiterin, der Architektengattin Margarete Hufnagl, aufbrach, ging ich unschlüssig hinter ihm her, und als ich ihn endlich ansprach, flehte die leidgeprüfte Frau: "Thomas, ich BITT dich, komm weiter!" Das hat mich gerettet. Weil er der Widerspruch in Person war, blieb er stehen, und das kurze Interview, in dem er die Erbitterung der Sumper gutgelaunt befeuerte, ging um die Welt.

Heute ist er, was er immer war: einer der großen Komödiendichter der Literaturgeschichte.

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