Edvard Munch: Alles über die große Ausstellung in der Wiener Albertina

Mit der umfassenden Ausstellung "Edvard Munch. Im Dialog" zeigt die Albertina, wie man in kunstfeindlichen Zeiten Exzellentes ermöglicht. Direktor Klaus Albrecht Schröder über das Phänomen Munch, Erfolge, Verluste und die Zeit nach der Pandemie.

von Albertina, Schröder, Edvard Munch Ausstellung © Bild: 2022 Ricardo Herrgott/News

Das Gesicht in leuchtendem Gelb, der Himmel in zartem Pistaziengrün, der See eine lila Brühe in der roten Landschaft. Steht man diesem Bild gegenüber, ist es, als würde der Schmerz der ganzen Welt in leuchtenden Farben ins Lodern geraten.

So sah Andy Warhol Edvard Munchs "Schrei". Warhols Siebdruck ist eine der Varianten, die der Pionier der Pop-Art von Munchs Gemälde anfertigte, und eines der Glanzstücke der umfassenden Ausstellung "Edvard Munch. Im Dialog", die derzeit in der Albertina zu betrachten sind.

Als deren Direktor Klaus Albrecht Schröder das News-Team empfängt, ist das Original noch nicht angekommen. Er kann erst seit einigen Tagen wieder selbst Hand anlegen respektive das Geschehen ohne den Zoom-Filter leiten: Er war Ende Jänner nach einem Termin in Bielefeld positiv auf das C-Virus getestet worden, doch die dreifache Impfung hatte ihn vor Schlimmerem bewahrt. Verständnis für die Tausenden Krawallschläger, die samstäglich die Ringstraße blockieren, habe er deshalb keines. "Ein Wunderwerk", nennt er das Mittel, das ihn vor schweren Krankheitsverläufen schützt. Womit man zum Wesentlichen übergehen kann.

Edvard Munch, der Schrei
© imago images/Russian Look DAS ORIGINAL. "Der Schrei", mehrfach zwischen 1893 und 1910 gemalt
»Es gibt keinen aktuelleren Maler der klassischen Moderne als Edvard Munch «

Noch ist sein Team in Hochbetrieb. 60 Bilder des norwegischen Meisters der Moderne sind nun Arbeiten von sieben Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts gegenüberzustellen. Andy Warhol, Jasper Johns, Georg Baselitz, Tracey Emin, Peter Doig, Marlene Dumas und Miriam Cahn sollen zeigen, "dass es keinen aktuelleren Maler der klassischen Moderne gibt als Edvard Munch heute". Munch sei einer der Pfeiler der Albertina, betont Schröder.

Schon 2003 eröffnete er sein Haus mit einer Munch-Retrospektive. Die zweite war dem Druckgrafiker Munch gewidmet. Mehr als jeder Klassiker der Moderne, mehr als Picasso, Matisse oder Beckmann sei Munch ein Künstler für Künstler unserer Zeit, führt Schröder aus. Das manifestiert sich bei Warhol: 1973 stand er den Gemälden seines norwegischen Kollegen zum ersten Mal gegenüber. Ob er die Qualen gespürt hat, die den Norweger seit früher Kindheit plagten? Munch wurde am 12. Dezember 1863 als Sohn eines Arztes geboren. Als er fünf war, starb seine Mutter an der Tuberkulose, die ihm neun Jahre später auch die ältere Schwester nahm. Seine jüngere Schwester litt an Depressionen.

Der Schrei entsteht

Die Verluste prägen Munch ein Leben lang. Seine Ängste, seine Gemütsschwankungen aber sind ihm Triebfeder für sein Schaffen. Was er jedoch an jenem Sommerabend 1932 an einem Strand östlich von Oslo wirklich erlebt hat, muss Spekulation bleiben. In seinem Notizbuch finden sich Kommentare über das Erlebte. Denen zufolge hatte sich der Himmel rot verfärbt, und Munch hörte einen Schrei. Ein Jahr später war das Gemälde, das zur Ikone der modernen Malerei wurde, geschaffen. Munch fertigte noch drei Versionen des autobiografischen Bildes.

Tracey Emin sah in Munch das Vorbild für ihr geplagtes Leben. Die heute 58-jährige Britin war als Jugendliche Opfer einer Vergewaltigung geworden. Ihre Kunst versteht sie als Rache. Den "Schrei" verarbeitete sie in der Installation "There is no Christmas Tree". Vor ihrer Version des entsetzten Gesichts prangt ein einfacher Sessel mit einer Gasmaske.

Insgesamt sei Munchs Wirkung auf die Nachgeborenen erstaunlich, führt Schröder aus. Der heute 62-jährige Schotte Peter Doig etwa sei fasziniert von Munchs experimentellem Umgang mit Farben: wie er im Freien malte, die Bilder in den Schnee warf oder dem Regen aussetzte, um einen natürlichen Verfallsprozess einzuleiten.

All das glaubhaft zu machen, und auch noch in diesen alles andere als kunstfreundlichen Zeiten? Diese Frage stellte sich Schröder im Dezember. Da wäre der letzte Zeitpunkt gewesen, die Ausstellung abzusagen. "Damals war es bis zu einem gewissen Grad ein Vabanquespiel", sagt er. Niemand wusste, ob der Lockdown noch einmal die Kultur über Monate stilllegen würde. Aber manchmal habe der Mutige auch Glück.

Verluste und Erfolg

Das manifestierte sich schon im Vorjahr bei der Retrospektive Amedeo Modiglianis. In den vier Monaten von Mitte September bis Anfang Jänner kamen 200.000 Besucher. Ohne die drei Wochen Lockdown wären es 300.000 gewesen, bedauert Schröder. Insgesamt musste das Haus im Gefolge der Schließungen auf mehr als die Hälfte der vorpandemischen Besucher verzichten: 480.000 kamen 2021,100.000 von ihnen in die neue Albertina modern im Künstlerhaus. Vor Ausbruch des Virus war es eine Million. "Die Albertina war trotzdem das bestbesuchte Museum in Mitteleuropa", betont Schröder. "Wir haben vor allem gezeigt, dass dieses Vorurteil, die Österreicher würden von uns vernachlässigt, nicht stimmt. Das Gros der Besucher kam aus Wien, ein paar aus Deutschland und umliegenden Ländern. Es gibt Hunderte Museen, die gern 480.000 Besucher im Jahr hätten."

Auf eines sei er speziell stolz: Kein einziger Mitarbeitet musste in den vergangenen beiden Jahren gekündigt werden. "Die Albertina wird aus dieser Krise nicht geschwächt hervorgehen." Dennoch geht man bei Munch kein Risiko ein. "Wir haben diese Ausstellung so budgetiert, dass im allerschlimmsten Fall, womit ich jedoch nicht rechne, auch in einem dreiwöchigen Lockdown und einer dreiwöchigen Recovery-Time kein Schaden entsteht." Das bedeutet: Wenn wieder alles zugesperrt wird, dauert es nach der Öffnung seine Zeit, bis die Besucher wiederkommen.

© (C)2022 Ricardo Herrgott/News PORTRÄTS. Klaus Albrecht Schröder, wie ihn der News-Fotograf sieht. Edvard Munchs Selbstbildnis und ein Porträt von Eva Mudocci, beide aus der Sicht von Andy Warhol

Und eines ist bedrückende Tatsache: "Wir haben unsere Reserven verloren. Es fehlt uns das Risikobudget, mit dem wir große Ausstellungen machen können." 13,9 Millionen habe man an Einnahmen verloren. Der Staat refundierte 8,9. Das habe sehr geholfen, sagt Schröder. 200.000 Besucher werden bei Munch erwartet. Aber auch 450.000, wie sie bei solchen Ausstellungen vor der Pandemie Routine waren, seien möglich, hofft Schröder. "Aber", so merkt er an, "das kann ich nicht steuern, das Rad hält ein Virus in der Hand." Es gab Zeiten, da verbuchte man bei einer einzigen Ausstellung -2018 bei van Gogh oder 2019 490.000 bei Monet -mehr als eine halbe Million Besucher. Wird es wieder so wie früher?

»Zwei Jahre Pandemie sind unendlich lang. Aber es gibt die Kraft des Vergessens«

"Ich glaube schon", blickt Schröder optimistisch in die Zukunft. "Zwei Jahre Pandemie, das ist unendlich lang, da hat sich vieles geändert. Aber es gibt die Kraft des Vergessens. Nach der Spanischen Grippe, aber auch nach Ereignissen wie den Weltkriegen zeigte sich, wie schnell der Mensch imstande ist, wieder ins normale Leben einzutreten."

Blick in die Zukunft

Schröder pflegt indes einen andern Umgang mit der Zeit: Sobald die ersten Besucher vor Munchs Bildern stehen, ist die Ausstellung für ihn Vergangenheit. "In diesem Job lebt man kaum in der Gegenwart, sondern immer nur in der Zukunft. Damit raubt man sich auch ein Stück Zeit. Bei ganz großen Ausstellungen sind die Vorlaufzeiten sehr lange. Aber in wenigen Tagen ist die Munch-Ausstellung für mich Vergangenheit. Ich beschäftige mich schon mit meinen nächsten Projekten."

Die werden erst in den nächsten beiden oder sogar drei Jahren dem Publikum präsentiert. Zuvor steht noch Umfassendes zum Schaffen des amerikanischen Graffiti-Künstlers Jean-Michel Basquiat an. Dann widmet man sich den Zeichnungen von Peter Paul Rubens, eine Retrospektive des New Yorker Fotokünstlers Robert Longo und eine Chagall-Retrospektive sind für die nächsten Jahre veranschlagt.

Auch die Ereignisse nach 2024, wenn sein Vertrag nach mehr als 20 Jahren endet, befänden sich schon in Planung: Er könne seinem Nachfolger doch kein leeres Haus übergeben!

Noch Fragen? Ja, eine: Ist auch bei Museumsbesuchern so etwas wie die Sehnsucht nach Idylle zu beobachten, wie der Sänger Jonas Kaufmann sie beim Opernpublikum vermutet? "Wir können den Schmerz in der Kunst genießen wie die Freude, beides ist großartig. Das war immer schon ein Wunder, und es ist doch nicht während der Pandemie anders geworden! Sollte ich sagen, bis 2019 haben wir uns nicht schwergetan mit den Wunden vom Kruzifix von Grunewald, aber seit 2020 ertrage ich das nicht? Wir haben das immer ertragen, weil wir den Schmerz, die Angst, das Leid, die Not auf höchster Ebene genießen können."

Ein Beispiel dafür sei das Geschenk des Künstlers Ben Willikens an das Haus: der Blick von Hitlers Anwesen im Obersalzberg und das Labor von Josef Mengele, auf je zwei mal drei Metern gemalt. "Es schaudert einen, diese leere Grausamkeit in einer Landschaft zu sehen", sagt Schröder und kommt zur Conclusio des Gesprächs: "Wir leiden auf einem sehr hohen Niveau. Aber dass weltweit wegen Covid eine Sehnsucht nach dem Biedermeier ausbricht, das glaube ich nicht."

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Print-Ausgabe von News (07/2022) erschienen.