"Es ist nichts Negatives,
EU-skeptisch zu sein"

Wird das Thema ungemütlich, schickt Sebastian Kurz immer öfter Karoline Edtstadler vor. Die Europaministerin streitet mit der EU-Spitze ums Budget, mischt bei der Justizdebatte mit und sieht sich als begeisterte Türkise. Ein Gespräch mit einer Streitbaren

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Europapolitik - "Es ist nichts Negatives,
EU-skeptisch zu sein"

Frau Edtstadler, "Ausputzerin" für Sebastian Kurz wurden Sie auch schon genannt. Früher hieß es immer, wo der Kanzler nicht hin will, muss Gernot Blümel hin. Haben Sie diese Rolle nun übernommen?
Ich habe schon viele Zuschreibungen durch die Medien bekommen. Diese ist re
lativ neu. Ich bin durchaus dafür bekannt, dass ich mich nicht scheue, in kontroversielle Diskussionen hineinzugehen. Wenn es nun diese Zuschreibung gibt

Finden Sie sich darin wieder?
Das würde ich nicht so sagen. Ich habe meine Zuständigkeiten, bin viel in Europa unterwegs. Und der Verfassungsdienst -es ist mir als Juristin eine große Ehre, diesen Bereich verantworten zu dürfen.

Wenn wir bei der Parallele zu Blümel bleiben, der nun in den Wien-Wahlkampf zieht, dann müssten Sie ja als Landeshauptfrau-Kandidatin in Salzburg antreten.
Ich kann nur sagen, ich bin gerne in Wien und kann mir eine politische Tätigkeit ohne internationale Tangente nicht mehr vorstellen. Mir geht es darum, Europa nach vorne zu bringen. Da gibt es viel zu tun.

Ihre Streitbarkeit stellen Sie derzeit beim EU-Budget unter Beweis. Geht es bei diesem Kampf um Zehntelprozentpunkte wirklich "nur" ums Geld, oder geht es im Hintergrund um etwas anderes bei den europäischen Kräfteverhältnissen?
Es geht darum, dass wir in der EU das Budget für die nächsten sieben Jahre beschließen. Österreich ist einer der größten Nettozahler. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass wir das Budget nicht ins Unermessliche wachsen lassen wollen, noch dazu, wo ein Land die EU verlassen hat. Selbst wenn die EU-Beiträge bei einem Prozent des BIP bleiben würden, würde das Gesamtbudget der EU durch das Wirtschaftswachstum um einen dreistelligen Milliardenbetrag steigen. Österreich will einen Mix aus traditionellen Bereichen wie Kohäsions-und Agrarpolitik und neuen Bereichen, die zum Beispiel dem europäischen "green deal" entgegenkommen und auf die Klimaziele einzahlen. Wir wollen jedes Förderprogramm anschauen, ob es die CO2-Neutralität auf EU-Ebene bis 2050 unterstützt, oder ob man es herunterfahren kann. Es geht um eine faire Lastenverteilung. Österreich ist proeuropäisch eingestellt, jetzt auch in der Koalition mit zwei klar proeuropäischen Parteien, aber wir wollen auch mitreden, wo investiert wird und wo Steigerungen nicht so hoch ausfallen sollen.

Von welchen Beträgen reden wir eigentlich, wenn gestritten wird, ob Österreich 1,0 oder 1,3 Prozent des BIP, wie vom EU-Parlament für alle Mitgliedstaaten gefordert, ins EU-Budget bezahlen soll?
Zahlen zu nennen, ist schwierig, weil Österreich am Ende einen substanziellen Rabatt fordert, um die Lücke zwischen dem, was wir einzahlen, und dem, was wir herausbekommen, ein bisschen zu verringern. Aber eine Erhöhung der Beiträge von 1,0 auf 1,3 Prozent würde für Österreich eine Mehrbelastung von 1,5 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten.

Der Kompromissvorschlag von EU-Ratspräsident Charles Michel sieht vor, dass der Beitrag nur auf 1,07 Prozent steigen soll und nicht auf die von der Kommission vorgeschlagenen 1,11 Prozent oder die 1,3 Prozent. Dafür schlägt er Kürzungen im Agrarbereich vor. Die Bundesregierung hat den Bauern versprochen, Förderrückgänge auszugleichen. Heißt das, was wir uns beim EU-Budget sparen, geben wir mit einem anderen "Mascherl" trotzdem aus?
Der Vorschlag geht in die richtige Richtung, wir wollen aber noch darüber sprechen, wo weitere Einsparungen sinnvoll sind. Die ländliche Entwicklung ist ein Bereich, in dem wir klar sagen, es zahlt auf das Klimaziel ein, wenn man Regionalität und eine kleinteilige Landwirtschaft fördert.

Derzeit profitieren große Agrarindustriebetriebe.
Es ergibt Sinn, Produkte vor Ort zu produzieren, nicht die importierten Produkte von außerhalb fördern, sondern in der Region die Dinge zu verwerten und zu vermarkten. Auch in den Bereich Sicherheit, einen effektiven Außengrenzschutz, muss Geld hineinfließen. Aber es gibt andere Bereiche, wo man sparen kann. Bei der Kohäsion geht es um Verschiebung hin zu den ärmsten Regionen, das ist auch unser Wunsch, aber man muss schon auch schauen, dass man hier spart. Da gibt es Förderprogramme, die seit Jahrzehnten laufen und bei denen man prüfen muss, ob sie effektiv sind, oder ob man diese Politik ändert.

Zum Beispiel: Nicht jede Autobahn in Süd-oder Osteuropa muss von der EU gefördert werden?
So ist es, man muss sich anschauen, ob das Geld auch tatsächlich bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommt und ob es einen positiven Mehrwert gibt.

Sie haben das Gefühl, dass das nicht nach Wunsch läuft?
Da gibt es noch ordentlichen Diskussionsbedarf, weil die Zugänge in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich sind. Die einen Staaten sagen, wir wollen keine Kürzungen im Agrarbereich, für andere ist das nicht so wichtig. Nettoempfänger wollen ein starkes Budget, andere sagen, es soll insgesamt helfen, aber diese Höhe ist nicht notwendig.

Warum sollte irgendein Nettoempfänger einem gekürzten EU-Budget zustimmen, wenn er dabei verliert?
Da muss man eben aufeinander zugehen. Wir sind bereit, ins Budget mehr einzuzahlen, als wir herausbekommen, aber man muss auch sehen, dass man Staaten im Osten oder Süden Europas nicht nur unterstützt, ohne dass der Output entsprechend ist.

Die französische EU-Staatssekretärin sagt, sie habe "genug" von Rabatten für Mitgliedstaaten wie Österreich. Gibt es den europäischen Zusammenhalt überhaupt noch?
Ich habe den Eindruck, dass er sehr gut funktioniert. Aber wir müssen eben das Beste daraus machen, dass wir zwar unterschiedlich ticken und unterschiedliche geografische Voraussetzungen haben, aber nur gemeinsam agieren können. Einzelne Staaten schaffen es nicht, gegen China, Russland oder die USA aufzutreten. Dieses Bewusstsein wird vielen immer klarer, aber es ist auch notwendig zu diskutieren.

Sie sitzen hier im Bundeskanzleramt im ehemaligen Büro des glühenden Europäers Alois Mock. Heute scheint die ÖVP viel EU-skeptischer, was ist da passiert?
Die ÖVP ist die Europapartei schlechthin. Daran hat sich nichts geändert, aber die Welt hat sich weitergedreht. Wenn Sie die EU zu Alois-Mock-Zeiten ansehen, war sie viel kleiner. Wir hatten inzwischen etliche Beitrittswellen. Das Kräfteverhältnis und auch der Unterschied zwischen ärmeren und reicheren Regionen hat sich verändert. Ich bin überzeugt, auch Alois Mock hätte auf diese Entwicklungen Bezug genommen. Gerade als Pro-Europäer.

Ist es nicht viel mehr so, dass die ÖVP bei den letzten beiden Nationalratswahlen viele EU-skeptische Wähler von der FPÖ geholt hat und diese nun mit EU-kritischen Tönen bei der Stange halten will?
Gerade vor dem Hintergrund des Brexits ist es nichts Negatives, EU-skeptisch zu sein. Man muss aber als Politiker etwas mit dieser Stimmung machen, sie ernst nehmen und überlegen, warum die Leute so auf manche Themen reagieren. Und dann muss man die kritischen Punkte auch entsprechend stark in Brüssel vertreten. In der Vergangenheit ist es ja oft vorgekommen, dass - egal in welchem Land -die Politiker gesagt haben: "Das war Brüssel." Brüssel sind wir, die EU ist überall, wo wir leben - in Luxemburg, Österreich, Italien und Spanien. Deshalb sind mir gerade skeptische Wählerinnen und Wähler wichtig, um zu sehen, wo Verbesserungsbedarf besteht.

Nach dem Brexit Ende Jänner ist alles ruhig geblieben, auch weil eine Übergangsfrist läuft und die Ausstiegsregeln erst verhandelt werden. Wenn es so ruhig bleibt, könnte das nicht Austrittsgelüste in anderen EU-Ländern bestärken?
Zum einen dürfen wir nicht in die Falle tappen: Wir haben zwar jetzt einen friktionslosen De-facto-Austritt erlebt. Aber wir spüren nur deshalb keine Auswirkungen, weil sich bis zum Ende des Jahres nichts ändert. Bis dahin ist der komplette EU-Rechtsbestand auf die Briten anwendbar. Wir müssen jetzt das Kunststück schaffen, innerhalb eines knappen Jahres zu verhandeln, wie die Kooperation mit Großbritannien in Zukunft aussehen kann. Wir wollen eine enge Kooperation, wir wollen aber auch -und da müssen die EU-27 geeint bleiben -, dass die Briten unsere Standards übernehmen. Denn sonst würde man Wettbewerbsnachteile schaffen, die wir nicht akzeptieren können. Wir sind uns natürlich auch bewusst, dass es ohne Einigung am Ende ein Szenario geben könnte, das sich von den Auswirkungen her ähnlich wie ein Brexit ohne Deal gestalten könnte. Darauf sind wir in Österreich auch vorbereitet. Unsere Spielregel ist: Wir sind 27 EU-Länder und wir werden nicht unseren Binnenmarkt für den Brexit opfern.

Doch wenn der Deal funktioniert, könnte das auch jene Länder animieren, die sich derzeit in der EU vielleicht nicht ausreichend geschätzt fühlen.
Da habe ich das ganz gegenteilige Gefühl. Großbritannien ist eine Insel und hat auch innerhalb der EU in gewisser Weise immer eine Sonderrolle gespielt. Insofern ist die Situation nicht umlegbar auf ein anderes Land. Ich glaube, der Zusammenhalt ist stärker denn je.

Thema Asyl. In griechischen Flüchtlingslagern leben 19.000 Menschen in einem Lager, das eigentlich nur 3.000 fasst. Es gibt Kinder, die frieren, oder krank und ohne Versorgung sind. Wo bleiben da die europäischen Werte der Humanität? Sollte man nicht wenigstens die Kinder aus solchen Lagern holen?
Die gemeinsame europäische Asylpolitik ist ein Bild aus vielen Puzzlesteinen. Da geht es um den effektiven Außengrenzschutz, aber auch um humanitäre Hilfe. Es geht um eine Perspektive für den Kontinent Afrika und wir haben während der österreichischen Ratspräsidentschaft mit dem Afrika-EU- Summit damit begonnen, die Unterstützung in der europäischen Entwicklungszusammenarbeit zu verstärken und vor allem auf die Privatwirtschaft in Afrika gesetzt. Selbstverständlich ist es mir als Menschenrechtsjuristin auch ein Anliegen, dass in diesen Camps menschenwürdige Zustände herrschen.

Was tut Europa also mit diesen Kindern?
Klar muss sein, dass Europa nicht alle Flüchtlinge aufnehmen kann, das heißt, wir brauchen eine Perspektive für den Kontinent Afrika und müssen danach trachten, dass sich die Bedingungen dort verbessern.

Die Frage bezieht sich ja auf jene Menschen, die schon hier sind, nicht auf jene, die erst kommen könnten.
Das spielt wieder in das Gesamtpaket hinein: schnellere Verfahren. Wenn es keine Aussicht gibt auf Asyl, muss es Rückschiebungen geben. Viele, von denen, die kommen, haben einfach keinen Asylgrund. Europa kann nicht alle aufnehmen. Also: konsequente Rückschiebung, Beendigung des Schlepperwesens, die Seenotrettung darf kein Ticket nach Europa sein. Das ist ein Pullfaktor. Mir ist nicht ganz klar, warum das immer in Frage gestellt wird. Schlepperei ist eines der menschenunwürdigsten Verbrechen. Denn die meisten haben keine Chance auf Asyl. Deshalb muss man die Hoffnungen, die hier geschürt werden, unterbinden, bevor sich Menschen auf wackelige Boote begeben.

Die Debatte, Flüchtlinge in Europa aufzuteilen, ist zwar gescheitert, aber wäre eine humanitäre Initiative für Kinder in Lagern denkbar?
Da muss man die Länder, die hauptbetroffen sind, auch unterstützen, Frontex aufwerten und schauen, wie man sonst dazu beitragen kann, dass die Asylverfahren schneller gehen.

Themenwechsel: In einem Interview haben Sie gesagt, Sie waren von Anfang an "Teil der türkisen Bewegung". Sie waren ja schon vorher in der ÖVP -das war nichts?
Ich bin, solange ich denken kann, ÖVP-Mitglied. In Salzburg im ÖAAB, dort auch stellvertretende Landesobfrau. Als diese Bewegung begonnen hat, war ich gerade im Ausland am europäischen Gerichtshof für Menschenrechte tätig, hab das mitverfolgt und das Gefühl gehabt, da bricht etwas auf, eine neue Politik, das hat mich begeistert.

Und die "ÖVP alt" ist für Sie - was?
Die Salzburger sagen ja von sich, sie sind die Schwarzen. Es gibt etwa die "Schwarze Nacht", das ist der ÖVP-Ball.

Heißt das, Sie sind in Salzburg eine Schwarze, in Wien eine Türkise?
Ich gehe zur "Schwarzen Nacht", aber in einem türkisen Kleid.

Was ist eigentlich Ihr Ziel in der Politik? Sie sind jetzt seit zwei Jahren in der Bundespolitik, haben viele abrupte Wechsel vollzogen. In einem "normalen" Bewerbungsgespräch würde man bei diesem Lebenslauf skeptisch nachfragen.
Was sich in meinem Lebenslauf durchzieht, ist die europäische Dimension. Von der Diplomarbeit über die Arbeit am europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, meinem Einsatz während des EU-Ratsvorsitzes bis zur EU-Wahl. Dafür brenne ich. Jetzt ist einmal das Ziel, die ganze Legislaturperiode für Europa zu arbeiten und das Regierungsprogramm umzusetzen.

Nach Ihrem ersten "ZiB 2"- Interview als Europaministerin gab es viel Kritik an Ihren Nicht-Antworten.
Das ist jetzt aber nett ausgedrückt (lacht).

Hätten Sie sich in Ihrer Zeit als Richterin gefallen lassen, wenn ein Angeklagter oder Zeuge Ihre Fragen nicht beantwortet hätte?
Also: Ein Angeklagter hat das Recht zu schweigen, der muss überhaupt nix sagen.

Aber wahrscheinlich hatten Sie trotzdem gerne direkte Antworten.
Ich hab immer zu den Angeklagten gesagt: Sie können lügen, dass sich die Balken biegen, Sie haben auch jedes Recht, nichts zu sagen. Wenn ein Angeklagter geredet hat, hat man ihn reden lassen und natürlich nachgefragt. Da sind einem Richter enge Grenzen gesetzt. Ich finde es aber spannend, dass Sie gerade diesen Vergleich ziehen.

Mir geht es jetzt nur darum, dass jemand Fragen stellt und Antworten will.
Manchmal hat man schon das Gefühl, dass man nicht in einem Interview ist, sondern sich in einem Verhör befindet. Es gibt auch Tage, wo man mit den eigenen Antworten nicht hundertprozentig zufrieden ist. Man hat einen Sekundenbruchteil Zeit, sich eine Antwort zu überlegen. Ich kann nicht sagen, dass ich mit jeder Antwort von mir immer glücklich bin. Aber sie ist draußen. Die Erwartung der Bevölkerung, was die Qualität eines Interviews betrifft -da wird die Messlatte auch immer höher angelegt. Das war damals jedenfalls nicht unbedingt ein sehr angenehmes Gespräch.

Sollten Politiker weniger trainieren und mehr sie selbst sein?
Ich habe bisher kaum Medientrainings gehabt. Natürlich ist es so, dass man nicht immer frei von der Leber weg reden kann oder will, weil noch Verhandlungen laufen. Das hat aber nichts damit zu tun, dass man overcoacht ist. Ich denke aber schon, dass ich relativ entspannt und natürlich an diese Dinge herangehe.

Das Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 8/2020) erschienen.