Das längste Rennen der Welt

200 Kilometer auf Skiern durch Lappland: Nach seiner Dopingsperre kämpfte sich Langläufer Johannes Dürr zurück in den Spitzensport. Der Schriftsteller Martin Prinz begleitete ihn und protokollierte seine Odyssee durch den Schnee

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Sport - Das längste Rennen der Welt

Die harten Sohlen der Sportler krachen auf die Eisknollen des Sees. Sechzehn Doppelspuren sind in die tagsüber matschige Eisoberfläche des Burgávrre-Sees unweit von Jokkmokk gepresst worden. Wie erhofft, hat es über Nacht gefroren. Eisige, von Knollen durchsetzte Startspuren zielen in die Weite des Sees.

Es ist der 10. April 2016, kurz vor sechs Uhr Früh in Schwedisch-Lappland. Nach 132 Jahren wird das längste Skilanglaufrennen der Welt wieder ausgetragen. Blaues Licht liegt über dem Eis, dringt in die Gesichter, durchwirkt die Rennanzüge aller Farben und die gefrorene Weite ringsum. Seit bald zwei Stunden ist es hell, doch der Tag hat noch nicht begonnen, es wirkt, als würde es ewig so bleiben, verlöre das Blau nicht mit jedem Augenblick an Farbe, an Tiefe, an letzter Ahnung von Nacht. Unbeeindruckt kracht die Lautsprecherstimme des Ansagers, beständig zwischen Schwedisch und Englisch wechselnd, ringsum Zippgeräusche und Kleidergeraschel, das Klacken von Bindungen, letzte Justierungen an den Klettverschlüssen der Stockschlaufen. Die nur durch einen eigenen Korridor betretbare erste Startreihe für Läufer mit internationaler FIS-Lizenz ist bereits zur Gänze besetzt. Dahinter der Block der anderen Eliteläufer, bevor die Sektionen der sogenannten Hobbysportler anschließen. Wiewohl Hobbysportler als Begriff hier schwerlich trifft, da an diesem See knapp oberhalb des Polarkreises in wenigen Minuten ein Rennen beginnt, das entlang der nächsten 200 Loipenkilometer an keinem einzigen Haus mehr vorbeiführen wird.

Johannes Dürr steht vor seinen Skiern, richtet sich Haube und Brille, das Übergewand hat er bereits ausgezogen. Direkt vor ihm das Absperrband zur FIS-Reihe. Augenblicke vor dem Start wird es sich heben und seine Skispitzen werden sich an die Skienden von John Kristian Dahl schieben, der im Monat davor zum zweiten Mal den "Vasaloppet“ (90 km) gewonnen hat. 200 Kilometer stehen vor ihnen, keiner im überschaubaren Feld der 383 Starter dieses Morgens ist je so weit auf Langlaufskiern unterwegs gewesen. Genau gesagt sind es 361 Männer und 32 Frauen, darunter neun Männer aus Österreich - und drei davon sind wir: Johannes Dürr in seinem ersten großen Rennen nach der verbüßten Dopingsperre, der durchtrainierte Hobbysportler und Psychotherapeut Ulrich Klement sowie ich, der Schriftsteller und frühere Nachwuchsrennläufer. Als Team organisierten wir Start, Flüge, Aufenthalt und gewannen zur Betreuung glücklicherweise noch zwei Mitstreiter. Für die Erkenntnis, wie groß der organisatorische Abstand zu Profiteams wie dem Team Santander des diesjährigen Vasaloppet-Zweitplatzierten Anders Aukland oder Dahls United Bakeries war, hätten wir die Erfahrung dreier schwedischer Nächte zu fünft in einem Zimmer jedoch keineswegs gebraucht. An die Infrastruktur derartiger Teams mit eigenem Truck samt gediegenen Aufenthaltsräumen und einer Verpflegungs- und Skiservicemannschaft auf Scootern reichte nichts heran - so nah die Skier Johannes Dürrs auch wenige Augenblicke vor dem Start hinter jenen Dahls aufs Weglaufen warteten.

Die Tücken der überhöhten Temperatur

Ursprünglich hätte fast die gesamte Distanz über Seen wie jenen vor der Halbinsel Purkijaurs führen sollen. Auf der historischen Strecke von 1884, als es dem Polarforscher Adolf Erik Nordenskiöld um den Beweis ging, wie weit es zwei der samischen Teilnehmer seiner Grönland-Expedition auf die unbekannten Flächen des Festlandeises geschafft hätten: 460 Kilometer innerhalb von 57 Stunden. Deshalb veranstaltete er in deren Heimatort Jokkmokk ein Langlaufrennen von 220 Kilometern, die innerhalb von 24 Stunden zu absolvieren waren. Der damalige Sieger, einer der beiden Grönland-Expeditionisten Pavva-Lasse Nilsson Tuorda, schaffte es auf seinen fast drei Meter langen Holzskiern in etwas mehr als 21 Stunden. Seitdem fand es nie mehr statt. Auch diesmal wäre es beinahe so gekommen. Die wärmsten Ostern seit über 70 Jahren hatten den Schnee von den Eisflächen der Seen gefegt. Undenkbar, abgesehen von der Startpassage, hier ein Rennen durchzuführen. Zum Glück bekamen wir davon - bis auf die Meldung gut eine Woche vor dem Start über eine Streckenänderung und Verkürzung bei gleichzeitig erschwertem Profil - nichts mit.

Einen Tag vor dem Abflug hielten Johannes und ich unser Abschlusstraining auf der Donauinsel ab. Intervalle auf Skirollern. Jeweils drei Serien. Am Weg zur zweiten ging es eines der kurzen Donauinsel-Bergabstücke hinunter, und genau hier, bereits im Flachen, ein kurzer Tritt neben die Bindungsführung, ein querstellender Roller, ein halber Überschlag, instinktiv auf die stärkere, die rechte Seite, ein harter Aufprall und gefühltes Krachen in der rechten Schulter. Die Folge: Schlüsselbeinbruch, der aus einem Starter beim längsten Skilanglaufrennen der Welt einen einarmigen Betreuer und linkshändigen Schriftsteller machte.

Das Absperrband hinter der FIS-Reihe hob sich, ein letztes Schulterklopfen, zwei Minuten später zogen die Reihen übers Eis. Fernab allen üblichen Startgedränges, aller Positionskämpfe, so ruhig zog sich das Feld auseinander, bewegten sich die Athleten mit ihren Doppelstockschüben wie Träumer unter dem Morgenblau ins Weite. Das letzte Bild, bevor wir drei Betreuer in unser Auto hasteten: Johannes Dürr hinter Dahl an der zweiten Stelle des gesamten Feldes.

Eine knappe halbe Stunde später stieg ich mit einer Tragtasche und zwei kleinen Rucksäcken an der Verpflegungsstelle Karatsvägen aus dem Wagen. Zwei Mal sollte das Feld hier durchkommen, bei Kilometer 34 und am Weg retour bei Kilometer 129. Die beiden anderen fuhren gleich zur Verpflegungsstelle Randijaur-Purkijaur, die Kilometer 65 sowie Kilometer 99 markierte, wo die beiden nicht nur Proviant, sondern auch einen mobilen Wachs-tisch für ein Skiservice bereitstellten. Sofern es sich ausginge, wollten sie nach Johannes Dürrs zweitem Durchlauf zu mir stoßen, um ihn gemeinsam, also immerhin fünfhändig, noch bei Kilometer 165, 176 sowie 186 zu betreuen. Ulrich sollte hingegen bei Kilometer 34, 65 sowie bei 184 versorgt werden, dazwischen aber auf die allgemeinen Versorgungsstationen der Veranstalter zurückgreifen, die alle 20 Kilometer aufgebaut waren.

Der vereinbarte Platz lag knapp 300 Meter nach der offiziellen Stelle. Ganz ruhig war es. Ich blies die Isomatte auf, baute mir im tiefen Schnee einen Stand- und Sitzplatz und blickte die leicht ansteigende Gerade hinunter. Es war für Johannes das erste große Rennen seit über zwei Jahren, das erste Aufeinandertreffen mit der absoluten Weltspitze. Allesamt professionell betreute und im Fall der Norweger und Schweden gut bezahlte Berufssportler, während er seit zwei Jahren Vollzeit beim Zoll arbeitete, sein Training vor und nach der Arbeit vor allem auf Kosten von Schlaf unterbrachte. Über Erwartungen hatten wir nicht viel geredet, die Unvorstellbarkeit der Strecke allein genügte.

Dann, hinter der Kurve, die ersten, leisen Geräusche vielzählig eingesetzter Stockspitzen. Für Augenblicke gleichbleibend, als handelte es sich um eine Chimäre. Dann die Geräusche bremsender Skier, weggeworfener Becher, hastiger Zurufe und nachgeschickter Anfeuerungen, während im nächsten Augenblick fast lautlos eine Gruppe um die Kurve bog, deren Stockeinsätze ich selbst in Sichtweite kaum ausnehmen konnte. Oder lag das am Staunen, wer an der Spitze der drei auf mich zusteuerte? Der schwarz-weiß-grüne Rennanzug von Johannes. In ruhigen, stolz zu nennenden Doppelstockschüben führte er die Gruppe an. Mit Abstand dahinter die Hauptgruppe der Spitzenläufer. Auf halber Strecke zu mir bedeutete Johannes seinen Kollegen, dass der Einarmige an der Kuppe seine Verpflegungsstation darstellte. Die beiden scherten aus, um von seinem Abbremsen nicht aufgehalten zu werden. Im nächsten Moment öffnete er bereits seinen Trinkgurt und warf ihn zielgenau neben mir weg, während er nach dem kleinen Rucksack griff. Gleich darauf sah ich ihn wieder hinter seinen Wegbegleitern, ungläubig, während nun die Hauptgruppe an mir vorbeizog.

Die dunkle Spur der Rentiere

Kurz vor dieser Passage, erzählte er später, sei eine kleine Rentierherde wenige Meter vor dem Feld der Führenden gelaufen. Unwillens, die angenehm trittsichere Loipe gegen den tiefen Schnee daneben zu tauschen, dessen Harsch sie bei Weitem nicht trug, kackten sie während der nächsten Kilometer immer wieder in die Spur. Kaum weniger aufgeregt ich, tausend Gedanken im Kopf, ein schnelles Telefonat mit Kilometer 65, geführt mit brüchiger Stimme, danach das Gefühl, es wäre kaum Zeit bis zum bestätigenden Gegenanruf von dort vergangen, dass Johannes weiter unter den Führenden liefe. Bis zum ersten Wendepunkt bei Kilometer 82 ging es großteils bergab, doch nicht nur deshalb wenig später Zweifel über die Nachricht aus Österreich, er habe nun 40 Sekunden Rückstand. Tatsächlich hatte er diesen nicht allein, ein Ausreißer versuchte sein Glück, an der Zusammensetzung der Hauptgruppe änderte das nichts. Ganz anders wurde alles jedoch nach der SMS-Mitteilung von Kilometer 99, er sei nicht nur mit Rückstand eingetroffen, sondern auch erst nach längerer Pause wieder aufgebrochen. Kein Unglauben nun, seltsamerweise auch kein Erschrecken, stattdessen Ruhe und die eigenartige Gewissheit, Schlimmeres könne jetzt nicht mehr passieren.

In der Zwischenzeit war Ulrich bei den Verpflegern an der 65-Kilometer-Marke durchgekommen, wirkte gut und frisch, sollte sich bereits der Wende bei 82 nähern. Kaum hielt er aber nach Kilometer 100 ein Durchkommen zum ersten Mal für möglich, wartete auch auf ihn der Hammer, ein gut 20 Kilometer dauernder Einbruch. Ihn zu überwinden half ganz Unmittelbares: Wasserplätschern an den Bächen, die vielen Feuerstellen neben der Loipe, der leichte Fahrtwind im Gesicht. Bis er abends im Bett nur zu träumen glaubte, dass das Rennen schon vorbei sei.

An der Zwischenzeit bei 114 Kilometern lag Johannes an 33. Stelle. Unterwegs zu meinem Posten machte er auf die vor ihm liegenden Läufer Zeit gut und überholte zwei. Kurz vor ihm kamen die beiden Betreuer von Kilometer 99 an, berichteten von den Augenblicken völliger Leere, aber auch von der Riesenfreude, mit der er eine Wurstsemmel, eine Käsesemmel und Essiggurken verdrückt habe. Bei uns wirkte er dann frischer als viele der Läufer vor ihm. Er trank, packte sich einige Riegel ein, erschien im Weiterlaufen aber wieder richtig stark. Wir sollten uns nicht täuschen. Denn obwohl er mit der Passage über den See zu unserem nächsten Versorgungsposten bei Kilometer 165 einen der gefürchtetsten Abschnitte vor sich hatte, die angesichts von Matsch und einbrechender Stockspur alle Befürchtungen auch bestätigten, gewann er erneut zwei Plätze und kam nun auch dem Kilometerschnitt der Führenden näher.

Doch die Lücken zu den Nächsten blieben groß, schier unüberbrückbar vor allem zu jenen, die noch stark genug wären, um sich mit ihm in einer Gruppe die weitere Führungsarbeit zu teilen. Johannes aber gewann nun so richtig an Fahrt. Er lief diese zwölf Kilometer zum nächsten Posten schneller, als wir mit dem Auto über die kaum doppelt so lange Straße brauchten: Wir konnten es kaum glauben, wir hatten ihn verpasst, hetzten weiter zu Kilometer 184, kamen hier nur wenige Minuten vor ihm an und sahen, dass er mittlerweile dieselben Kilometersplits wie die weit vorne um den Sieg Kämpfenden lief. John Kristian Dahl, Anders Aukland und der junge norwegische Weltcupläufer Oyvind Moen Fjeld waren zu dritt und hatten bis vor Kurzem von einer großen Führungsgruppe profitiert, Johannes hingegen lief seit nunmehr 100 Kilometern allein.

Aufbäumen vor dem Zieleinlauf

Auf der letzten 16-Kilometer-Schleife ging es richtig schwer bergauf. Zur nächsten größeren Gruppe hatte er immer noch fünf Minuten. Aus Furcht vor Demoralisierung sagten wir ihm das gar nicht erst. Doch was nun folgte, sprengte alles Erwartbare. Während andere nach einem solchen Hungerast dieses Rennen nicht einmal fortgesetzt hätten, spielte er nun alles aus an Herz, Kraft und Freude an seinem Sport. Johannes Dürr lief auf diesen letzten 16 Kilometern allen um die Ohren, er holte nicht nur die unmittelbar vor ihm Platzierten ein, er zertrümmerte auch die Zeiten der Führenden, nahm ihnen noch fast eineinhalb Minuten ab.

Ein Wunder? Nein, es wurde der 23. Platz. Für mehr war der Zeitverlust des Einbruchs zu groß gewesen. Nicht zu reden, wie viel ihn das Alleinlaufen kostete. Doch als auch die Führenden nicht mehr im Sog der großen Gruppe liefen, war er zurück auf Augenhöhe. Bei einem Rennen, das weit mehr als die bloße Physis forderte. Hier musste man sich zur Gänze in die Waagschale werfen. Mit allem Richtigen, allem Falschen, allen Träumen, Enttäuschungen, allen Siegen, Niederlagen und Kämpfen. Nichts daran ist ein Wunder. Denn aus nichts anderem besteht seine Rückkehr. Mit einer vergleichslosen Tempoverschärfung am Ende des längsten Rennens der Welt steht er gerade erst am Beginn.

Zu den Personen

Johannes Dürr: Der 1987 geborene Sportler aus Göstling an der Ybbs absolvierte als Fußballer erfolgreiche Probetrainings bei Rapid Wien und Admira Wacker, entschied sich dann aber für das Skigymnasium Stams und wurde 2007 Vierter bei der Junioren-WM der Skilangläufer. Krankheiten wie Pfeiffer’sches Drüsenfieber warfen ihn zurück. Seit 2011 näherte sich Dürr wieder der Weltspitze, vor Olympia 2014 nahm er das Dopingmittel Epo ein, wurde von den Spielen ausgeschlossen und für zwei Jahre gesperrt. Seit Juni 2014 ist Dürr hauptberuflich als Zollbeamter beschäftigt. Kürzlich stieg er wieder ins Langlauftraining ein.

Martin Prinz: Der Wiener Schriftsteller geboren 1973, wurde 2010 mit dem "Outstanding Artist Award“ der Republik Österreich bedacht, sein Roman "Der Räuber“ wurde 2010 verfilmt. Prinz arbeitet gemeinsam mit Johannes Dürr an einem Erzählprojekt über dessen Rückkehr in den Leistungssport. Der vorliegende Text ist Teil dieser Zusammenarbeit.

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