Direkte Demokratie:
"Politischer Wahnsinn"?

ÖVP und FPÖ fordern mehr Volksabstimmungen und Volksbefragungen. Das steckt dahinter

Mehr Volksabstimmungen und mehr Volksbefragungen – für die FPÖ ein zentraler Punkt in ihren Koalitionsverhandlungen. Doch auch die ÖVP hat eine Stärkung der direkten Demokratie in ihrem Wahlprogramm. Im Fall einer schwarz-türkis-blauen Regierung könnte Österreichs politisches System auf den Kopf gestellt werden. Während die einen von einem "demokratiepolitischen Wahnsinn" sprechen, sehen andere darin das Ende der Politikverdrossenheit. Zwischen Zweifel und Jubel.

von ÖVP & FPÖ - Direkte Demokratie:
"Politischer Wahnsinn"? © Bild: shutterstock

Österreich zählt in Bereichen wie Lebensqualität, sozialer und persönlicher Sicherheit sowie Infrastruktur zur internationalen Spitze. Trotzdem sind viele Menschen mit den Leistungen der Politik unzufrieden. Politiker, so der Vorwurf, würden zu wenig auf die Anliegen der Wähler reagieren und hätten den Kontakt zu den Normalbürgern verloren. Die Forderung nach mehr Mitbestimmung ist somit Ausdruck einer allgemeinen Systemkritik und Politikverdrossenheit.

Systemkritik als Trend

Fundamentale Kritik am politischen System und Status-Quo lässt sich allerdings nicht nur in Österreich, sondern in vielen reichen Staaten mit sozial abgesicherten Gesellschaften finden. Ein Trend, der sich sowohl in Meinungsumfragen als auch in konkreten Wahlergebnissen widerspiegelt.

»Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus «

Einzelne politische Entscheidungsverfahren, bei denen das Volk unmittelbar über Sachfragen und Beschlüsse abstimmt, gibt es in den meisten demokratischen Staaten. Allerdings dienen diese vorwiegend nur als Ergänzung oder Kontrolle einer ansonsten repräsentativen Demokratie, bei welcher das Volk seine Vertreter wählt. So ist auch in der unserer Bundesverfassung festgelegt: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus“. Hierzulande gibt es drei direktdemokratische Instrumente: Die Volksabstimmung, die Volksbefragung und das Volksbegehren. Sowohl die Volksabstimmung als auch die Volksbefragung finden allerdings nur dann statt, wenn sie vom Nationalrat beschlossen werden.

Die Volksabstimmung: Das mächtigste Mittel der direkten Demokratie

Bei einer Volksabstimmung wird über ein Gesetz des Nationalrates abgestimmt. Die Wähler und Wählerinnen können hier mit „Ja“ oder „Nein“ stimmen. Sie entscheiden alleinig darüber, ob das Gesetz tatsächlich in Kraft tritt oder nicht. Bisher gab es in der zweiten Republik erst zwei Abstimmungen: Über das geplante Atomkraftwerk in Zwentendorf und über den Beitritt zur Europäischen Union. Die Volksabstimmung wird meist auf Basis einer Volksinitiative abgehalten.

Die Volksbefragung: Meinungen, aber keine Entscheidungen

Bei einer Volksbefragung hingegen werden die Bürger und Bürgerinnen lediglich um ihre Meinung zu einem bestimmten Thema gefragt. Auch hier können sie mit „Ja“ und „Nein“ stimmen oder aus zwei alternativen Lösungsvorschlägen auswählen. Das Ergebnis ist allerdings nicht bindend. Bei der bisher einzig bundesweiten Volksbefragung über die Wehrpflicht votierten knapp 60 Prozent der Österreicher und Österreicherinnen gegen die Einführung eines Berufsheeres.

Das Volksbegehren: 100.000 Unterschriften

Wesentlich häufiger kommt es zu Volksbegehren. Die Zahl der Volksbegehren ist seit den 1980er Jahren stark angestiegen, 39 davon gab es bisher. Hierbei kommt die Initiative direkt vom Volk. Wenn auf Bundesebene mindestens 100.000 wahlberechtigte Bürger und Bürgerinnen ein Volksbegehren unterschrieben haben, muss es im Nationalrat zumindest behandelt werden. In der Realität landen sie danach aber meist ohne Folgen in den Tiefen irgendwelcher Schubladen.

Volksabstimmungen über Volksabstimmung

Die FPÖ verweist bei ihrer direktdemokratiepolitischen Forderung oft auf das Schweizer Modell. In der Schweiz findet jedes Jahr eine ganze Reihe von Volksabstimmungen zu bestimmten Themen statt. Hat ein Volksbegehren in der Zukunft mehr als vier Prozent der Zeichnungsberechtigten, muss laut FPÖ eine rechtlich bindende Volksabstimmung dazu erfolgen. Die ÖVP hingegen will erst ab einer Zehn-Prozent-Hürde abstimmen lassen. Pro Jahr soll es nach den türkis-schwarzen Vorstellungen ein bis zwei fixe Tage geben, an denen die Bürger und Bürgerinnen über verschiedenste Anliegen abstimmen sollen.

»Die Bevölkerung soll über die Einführung des neuen Modells abstimmen. «

Die daraus resultierenden Gesetze dürften dann vom Nationalrat auch nicht mehr aufgehoben werden, sondern könnten nur in Form eines erneuten Volksbegehrens geändert werden - ein tiefer Eingriff in das parlamentarische System Österreichs. Die derzeit existierende repräsentative Demokratie würde sich in eine sogenannte plebiszitäre wandeln. Norbert Hofer sagte gegenüber dem Kurier: „Man wird darüber abstimmen müssen, aber wir möchten das ja auch so haben. Es wäre der richtige Einstieg in so ein Modell, wenn die Bevölkerung darüber abstimmt, dass es eingeführt wird.“ Eine Volksabstimmung über Volksabstimmungen also.

Die Abschaffung der Demokratie

Der Schriftsteller Robert Menasse sieht das von ÖVP und FPÖ vorgeschlagene neue Modell mehr als kritisch. Wie er in der ORF-Sendung „Im Zentrum“ ausführte, sei die repräsentative Demokratie ein großer, zivilisatorischer Fortschritt gewesen. „Wenn man das jetzt abschafft und am Parlament vorbei durch Volksabstimmungen Gesetze machen will, ist das die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Wenn eine Volksabstimmung abgehalten wurde, kann das Ergebnis nicht von der nächsten Regierung aufgehoben werden. Das ist demokratiepolitischer Wahnsinn!“, meinte Menasse.

»Das ist demokratiepolitischer Wahnsinn!«

Außerdem fiele damit auch der Schutz von Minderheiten. Denn in dem Moment, wo komplexe Themen auf „Ja-Nein-Fragen“ runtergebrochen werden, gäbe es keine politischen Kompromisse mehr. Im direktdemokratischen Musterland Schweiz erfolgte beispielsweise eine Abstimmung über den Bau von Minaretten. 57,5 Prozent stimmten dagegen und entschieden so über die Rechte einer Minderheit.

Österreich mit der Schweiz zu vergleichen wäre allerdings fatal, denn hierzulande gilt immer noch das EU-Recht. Und dieses genießt „Anwendungsvorrang“. 70 Prozent unserer Gesetzgebung folgt diesen Regeln bereits – was dann noch für „Volksgesetze“ übrig bliebe, bleibt fragwürdig.

Brexit als Negativ-Beispiel

Natürlich spielen Kampagnen und Massenmedien bei der öffentlichen Meinungsbildung einer Demokratie dann eine weitaus größere Rolle als bisher. Sie würden noch mächtiger werden, da sich die Bürger und Bürgerinnen vor jeder Abstimmung informieren müssten und so stark von Medien beeinflusst werden könnten. Das wiederum spielt einem anderen Argument in die Hände: Die Gegner der direkten Demokratie werfen dem Volk Unwissen und zu wenig Reflexionsvermögen vor, um über komplexe Fragen entscheiden zu können, die sich außerhalb ihres Nahbereichs befinden. Als Negativ-Beispiel hierfür wird oft der Brexit angeführt.

Das mögliche Ende der Politikverdrossenheit

Natürlich gibt es aber auch viele Vorteile, die für Volksabstimmungen sprechen. Bürger könnten sich wieder stärker mit Politik identifizieren und würden dadurch zufriedener werden. Politiker hingegen würden, so die Befürworter, wieder mehr auf die Bedürfnisse des Volkes eingehen. Und neue Gesetze erhielten durch die breite Zustimmung der Bevölkerung eine höhere Legitimation und Akzeptanz. Eine starke Beteiligung könnte außerdem zu einer höheren Wahlbeteiligung führen.

»Je gebildeter die Bürger sind, umso besser funktioniert Demokratie.«

Wirklich funktionieren kann eine direkte Demokratie aber nur dann, wenn politisch interessierte, gut informierte und engagierte Menschen dahinter stehen. So antworte der Philosoph Konrad Paul Liessmann Robert Menasse: „Ein Vorschussvertrauen in das Volk gehört zum Wesen der Demokratie.“ Aber: „Je gebildeter die Bürger sind, umso besser funktioniert sie.“