Die Sprachlosen

Tausende Kinder sitzen ohne Deutschkenntnisse in den heimischen Schulen. Statt das schnell zu ändern, wird die Verantwortung hin- und hergeschoben.

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Bildungspolitik - Die Sprachlosen

Abbas fehlt. Pervin, Elmedin und Rachida auch. Natürlich sind sie da, bloß nicht in der Klasse. Seit Mitte September verbringen sie und 20 weitere Kinder ihre Schulzeit nicht dort, wo die anderen Erstklässler lesen, schreiben und rechnen lernen, sondern in einem Extrazimmer. Dort pauken sie mit einer Sprachlehrerin Deutsch. Drei Stunden täglich.

So wie diesen vier Schülern einer Wiener Volksschule geht es rund 3.700 weiteren Schulanfängern allein in der Bundeshauptstadt. Österreichweit werden sogar 12.000 der insgesamt 85.000 Taferlklassler als außerordentliche Schüler geführt.

Der häufigste Grund für diesen Status: mangelnde Deutschkenntnisse. Dieses Manko soll laut einem Leitfaden des Bildungsministeriums jetzt aber nicht mehr nur mit Förderstunden, sondern durch eine gezielte Separierung der Kinder zum Deutschlernen behoben werden. Ob das der richtige Weg ist, darüber scheiden sich die Geister: "Je jünger die Kinder sind, desto besser lernen sie die Sprache von Kindern, die genau diese Sprache sprechen", widerspricht Bildungsexpertin Christa Koenne. "Eine Belehrung in einer neuen Sprache durch Erwachsene" - wie es in Deutschförderklassen praktiziert wird - fruchte erst in der Pubertät, "frühestens ab einem Alter von zehn Jahren. Davor ist die Gehirnentwicklung nicht vorhanden." Doch warum sprechen Tausende Kinder nicht die Sprache des Landes, in dem sie aufwachsen? Die schnellste Antwort auf diese Frage wäre wohl die, dass die Sechsjährigen gerade erst nach Österreich gekommen sind. Genau das sei aber falsch, sagt Bildungsminister Heinz Faßmann zu News: "Es gibt die Erkenntnis, dass das Versagen bei der deutschen Sprache im System liegt." So ist die Hälfte der außerordentlichen Pflichschüler gar nicht mit der letzten Flüchtlingswelle ins Land gekommen. Doch auch ein anderssprachliches Kind, das bereits drei Jahre im Land ist - also zumindest das verpflichtende Kindergartenjahr absolviert hat -hat ein sehr hohes Risiko, als außerordentlicher Schüler eingestuft zu werden.

Nur noch Dialekt

"Ich halte es sehr wohl für möglich, dass ein Kind trotz einem Jahr Kindergartenbesuch nicht beziehungsweise nur schlecht Deutsch lernt", bestätigt Bildungspsychologin Christiane Spiel. Es komme dabei auf die Größe der Gruppe, die Anzahl der Elementarpädagoginnen sowie der nicht deutschsprachigen Kinder an. Zudem variieren die Vorschriften zu Gruppengröße und Betreuungsschlüssel nach Bundesland. Die sprachliche Basis der Kinder selbst sollte auch nicht unterschätzt werden, so Koenne: "Manche sprechen nicht einmal ihre Muttersprache in der Hochsprachenform, sondern nur einen Dialekt." Häufig fehle auch das Sprachverständnis in Hinblick auf die Grammatik. Diesen Kindern eine zweite Hochsprache schnell beizubringen, ist so gut wie unmöglich.

Falsches Wohnen

Woran es genau hakt, bleibt unklar. Koenne wie Spiel halten es für möglich, dass es Kindergärten gibt, in denen die Kinder nicht optimal auf die Schule vorbereitet werden. Vor allem, wenn dort Deutsch nicht die Hauptsprache ist. In den städtischen Kindergärten Wiens sei das nicht der Fall, sagt Katrin Zell, Referatsleiterin für sprachliche Bildung der Magistratsabteilung 10. Die gemeinsame Sprache sei Deutsch, "allerdings darf jedes Kind und jeder Erwachsene seine Erstsprache verwenden". Die Kindergartenkinder würden Deutsch "spielerisch und über die persönliche Beziehung" erlernen. Zusätzlich wird in die Sprachförderung der Kinder investiert. Heuer waren es 7,5 Millionen Euro, die die Stadt Wien und der Bund gemeinsam aufgebracht haben. Die Sprachpädagoginnen sollen alle Kinder unterstützen, haben aber ein Augenmerk auf Sprachdefizite. Auf diese Weise, so Michaela Zlamal vom Büro des Wiener Bildungsstadtrats Jürgen Czernohorszky, hätten 50,3 Prozent der Kinder nach einem Jahr keine zusätzliche Sprachförderung mehr nötig.

Woran es liegt, dass Kinder, die nachweislich Zeit im Kindergarten verbracht hätten, ohne Deutschkenntnisse in eine heimische Schule gehen, lasse sich nicht einfach erklären, sagt Zell: "Vielleicht auch deshalb, weil die Schule Sprache anders misst als der Kindergarten." Das kann sich auch Forscherin Koenne vorstellen: "Es ist Schule eins nicht mit Schule zwei kompatibel. Wir haben in Österreich keine Kultur der Vergleichbarkeit." Die Klassenlehrerin entscheide über die Leistungen eines Kindes, so die frühere AHS-Direktorin.

"Die großen Fehler der Bildungspolitik sind außerdem bereits vor 30 Jahren passiert und haben mit der Wohnpolitik zu tun", so Koenne weiter. Damals habe man verabsäumt, Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern systematisch über die Stadt zu verteilen, um Häufungen von Nationalitäten und Sprachen, wie sie jetzt in einigen Bezirken an der Tagesordnung seien, zu vermeiden.

Bildungspsychologin Spiel verweist zudem auf Gegenmechanismen, die allerdings bislang noch nicht umgesetzt wurden. So habe der Migrationsrat für Österreich -dessen Mitglied sie war -Empfehlungen formuliert: "Diese beinhalten multikulturelle Erziehung als Schwerpunkt in der pädagogischen Ausbildung, aber auch mehrsprachige Pädagoginnen sowie frühkindliche Sprachförderung und eine Aufwertung der Ausbildung." Wie Zell fordert Spiel zudem ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr und ein besseres Schnittstellenmanagement zwischen Eltern, Kindergärten und Schule.

Bei Letzterem bekommen die beiden Unterstützung von Minister Faßmann, der die Schnittstellen ebenfalls verbessern möchte. Gelingt dies, könnte sich in einem ersten Schritt zumindest die Situation der Kinder, die derzeit in den Deutschklassen sind -und laut einer Wiener Volksschuldirektorin "so gut wie gar kein Deutsch sprechen" - zum Besseren zu wenden. Faßmann ist von seinem Förderkonzept jedenfalls überzeugt und "sehr zuversichtlich, dass ein Großteil nur ein Semester in den Deutschförderklasse bleibt und dann in den Regelbetrieb wechselt".

Im eigenen Garten

Damit diese Vorstellung Wirklichkeit wird, bedarf es allerdings noch einiger - vor allem auch gemeinsamer - Anstrengungen. Denn bislang herrscht unter den Verantwortlichen der Bildungspolitik eher ein Konkurrenzdenken als ein Miteinander vor. Sinnbildlich gräbt jeder derzeit nur seinen eigenen Schrebergarten um und scheut den Blick in den Nachbargarten. Vor allem zwischen der türkis-blauen Regierung und der rot-grünen Stadt Wien kriselt es - auch in Schulbelangen -immer wieder. Koenne rät deshalb "sich etwas zu entspannen". Und "viel mehr Lehrer, individuelle Betreuung und kleinere Lerngruppen könnten auch nicht schaden". Doch das koste Geld, seufzt die Expertin: "Und das will niemand in die Hand nehmen."

Solange jedoch Vorschläge nicht umgesetzt, Zuständigkeiten nicht geklärt und Gelder nicht freigegeben sind, sitzen Abbas, Pervin, Elmedin und Rachida weiter in ihrem Kämmerchen und versuchen, eine ihnen fremde Sprache zu verstehen. Sie bleiben sprachlos und versäumen dabei auch den Anschluss an die Gesellschaft.