Die deutsche Sphinx

Auch nach zwölf Jahren an der Macht bleibt Angela Merkel rätselhaft. Ihre Politik wird so zum Abbild unserer Zeit

von Christoph Lehermayr © Bild: News/Ian Ehm

Hierzulande muss der Kanzler von einem TV-Studio ins nächste hetzen und kommt vor lauter Duellen gar nicht mehr zum Pizza-Austragen. Sein Gegner fühlt sich derweil gezwungen, Frühfotos von sich mit Meerschweinchen in Umlauf zu bringen und gegen Papiere anzukämpfen, die ihn allzu machtforsch wirken lassen. Und die Kollegin in Berlin? Absolvierte ein einziges TV-Duell, in dem sie ihren Herausforderer abkanzelte. Stellte sich danach noch ein paar Bürgergesprächen. Setzte auf den Slogan "gut und gerne in Deutschland leben". Und steht damit kurz davor, am Sonntag zum dritten Mal in Folge die Wahl zu gewinnen.

Angela Merkel ist ein Phänomen. Eine Frau, die jeder zu kennen glaubt und die doch niemand durchschaut. Gestandene Sozialdemokraten gestehen, ihr viel Respekt zu zollen. Selbst deren Chef inszeniert sich lieber als Merkel plus, denn als Alternative zu ihr. Es dürfte daher zwei Angela Merkels geben -die reale, die nach zwölf Jahren im Amt mehr denn je einer Sphinx gleicht, von der man kaum weiß, wofür sie steht und warum sie wie handelt. Und die imaginierte, die "Sie kennen mich"-Merkel, die gerade dadurch Raum bietet, in den Menschen ihre eigenen politischen Ideen projizieren können und glauben, sich im mäandernden Merkel-Sprech wiederzufinden. Erst so ist es möglich, dass sie den einen immer noch als "Willkommenskanzlerin" gilt, während sie in Wahrheit ihren damaligen Kontrollverlust längst bereut. Merkel begriff rasch, dass sie vor der Eskalation im September 2015 die Dimension der Flüchtlingskrise völlig unterschätzt hatte und so erst von den Ereignissen überrannt werden konnte. Natürlich musste sie dann mit "Wir schaffen das" Mut machen. Wenngleich ihr auch dieser Sager eher zufällig passierte und ihn Journalisten erst aus ihren Wortkaskaden herausklaubten und groß machten. Die Alternative für Merkel wäre gewesen, zuzugeben, die Dinge falsch eingeschätzt zu haben. Was wohl ihr politisches Ende eingeläutet hätte, da das Image der Verlässlichkeitskanzlerin zerbrochen wäre. Also betrieb sie lieber Schadensbegrenzung im Flüchtlingsdeal mit Erdoğan, und versuchte, mit Grenzkontrollen die Frage nach einer Obergrenze zu umgehen.

Das zeugt von enormem taktischem Geschick. Und beweist, dass Merkel einem politischen Prisma gleicht, das die Erwartungen der Bürger reflektiert. Erst so entsteht der "Sie kennen mich"-Effekt, der in Zeiten von Brexit, Trump und Tragödien und bei boomender Wirtschaftslage zum politischen Killerargument für sie wird. Dies entbindet Angela Merkel aber nicht von der Pflicht, ihre Politik zu erklären. Denn sie ist nicht nur Deutschlands Kanzlerin, sondern längst auch die mächtigste Person in der europäischen Politik. Und so erwächst ein Recht, zu erfahren, wohin sie diesen Kontinent zu steuern gedenkt. Was ist mit dem Euro? Mit Griechenland? Schengen? Den Grenzkontrollen? Dem Schutz der Außengrenzen? Den Antworten auf die globale Migration? Ja, ganz groß: dem Plan für die Zukunft Europas? Gibt es ihn, hat sie ihn, oder bleibt ihr Handeln ein von der Aktualität getriebenes Zufallsprodukt? Ein Fahren auf Sicht durch unruhige Zeiten und damit das Maximum, was Politik 2017 vielleicht leisten kann?