Der Fremde neben mir

Eine Busfahrt in Wien

von Schlaglichter - Der Fremde neben mir © Bild: Getty Images/Vadim Ungureanu

Der Bus 38A fährt von Heiligenstadt nach Grinzing und weiter auf der kurvigen Höhenstraße bis auf den Kahlenberg. Gebaut wurde die 15 Kilometer lange Straße zwischen 1934 und 1938. Ein Mosaik mit Millionen kleiner Pflastersteine verziert die holprige Fahrbahn und darf wegen des Einspruchs des Denkmalschutzes nicht asphaltiert werden. Bis heute ist die Höhenstraße Wiens längste Straße.

Die Anzeigetafel in der U-Bahn-Station Heiligenstadt zeigt den Reisenden, wann der nächste Bus abfährt, beruhigt die einen, die dann mit langsamen Schritten in Richtung Ausgang schlendern, oder zwingt andere, mit dem Laufen zu beginnen.

Vor ein paar Tagen nahm ich den 38A in Richtung Grinzing, erreichte den Bus im letzten Moment, bevor er die Station verließ, und drängte mich in die Mitte des Wagens. Vor mir auf einer Bank saß ein junger, dunkelhaariger Mann mit schwarzen Bartstoppeln und hielt einen Rucksack auf den Knien. Neben ihm eine ältere Frau in einem bunten Rock, einer gelben Jacke und einem blumenverzierten Strohhut, als würde sie aus einer anderen Zeit kommen.

Aufstehen

Der junge Mann stand auf und bot mir seinen Platz. Ich lehnte dankend ab, doch die Frau neben ihm sagte: "Jetzt setzen Sie sich doch, wenn einer schon so anständig ist, es steht doch eh keiner mehr auf." Was blieb mir anderes übrig, als mich zu setzen. Kaum saß ich, sagte sie: "Jetzt müssen S' wieder aufstehen, weil ich steig aus", erhob sich vom Platz und wartete gebückt, bis ich in den Gang hinaustrat und ihr Platz machte. Ich setzte mich ans Fenster. Da niemand mehr im Bus meinem Alter auch nur annähernd nahe kam, setzte sich der dunkelhaarige, junge Mann neben mich.

"Das war nett von dir, danke", sagte ich. Er lächelte und nickte. "Es steht kaum noch jemand auf", versuchte ich das Gespräch fortzusetzen. "Meine Mutter würde mir eine Ohrfeige geben, wenn ich sitzen bleibe, also, wenn sie hier wäre, natürlich", sagte er und wir lachten beide. Seine Sprache war eigenartig, ein leichter Akzent, eine ungewöhnliche Betonung der Wörter, jedoch mit perfekt formulierten Sätzen. "Von wo kommst du, wenn ich dich fragen darf?", fragte ich. "Aus Syrien", antwortete er. "Du sprichst sehr gut Deutsch, wie lange bist du schon hier?", fragte ich. "Ich bin jetzt 16, als ich zehn war, sind wir hergekommen", sagte er. "Toll", sagte ich, "ich kenne wenige, die so sprechen wie du, manche, die hier geboren wurden, haben Schwierigkeiten, sich so wie du auszudrücken."

Wochenende

Er nickte nur und antwortete nicht. Ich war mir nicht sicher, ob meine Fragen ihm unangenehm waren, und blieb ruhig, obwohl es mich beschäftigte, wo der Grund für diese Unterschiede in den Sprachkenntnissen liegen könnten. "Es sind meine Eltern", sagte er plötzlich, "vor allem meine Mutter. Als ich mit der Schule begann, sagte sie: 'Während der Woche wird gearbeitet, da gilt das Deutsch, am Wochenende darfst du reden, wie du willst.'" Er lachte wieder.

"Auch zu Hause hat deine Mutter mit dir deutsch gesprochen?", fragte ich. Er nickte wieder und sagte: "Mein Vater war dagegen, er sprach weiter arabisch, auch während der Woche, aber meine Mutter nur deutsch, auch wenn ihr Deutsch schrecklich war. Sie hat gesagt:'Auch wenn ich alles falsch sage, du musst mir auf Deutsch antworten.'" "Und am Wochenende?", fragte ich. "Da redeten wir alle arabisch", sagte er. "Hast du Deutschkurse besucht oder hat es Hilfe in der Schule gegeben?", fragte ich. "Doch, aber das ist sinnlos, alles Blödsinn", er überraschte mich mit "Blödsinn", dass ich lachen musste, ausgerechnet dieses Wort sprach er als "Bledsinn" im Wiener Dialekt aus. "Der Unterricht für Ausländer ist sicher gut, aber ohne Druck der Eltern geht das nicht, dann sitzt du dort in der Klasse, lernst ein paar Worte, die du nie verwendest, weil du mit deinen Freunden und zu Hause wieder anders sprichst."

Vorurteile

Ich musste ihm keine Fragen mehr stellen, er sprach ruhig und konzentriert, wie toll das Leben hier in Wien sei, wie gerne er in die Schule gehen würde und er mit der Klasse einen Ausflug zum Flughafen gemacht hätte und unbedingt Pilot werden möchte.

Ich dachte an meine Vorurteile, denen er widersprach, mein Misstrauen gegenüber Fremden vor allem aus dem arabischen Raum. Meist junge, breitschultrige Männer, die, wenn sie in die U-Bahn einsteigen, sich in einer fremden Sprache laut unterhalten und nervöse Fahrgäste langsam und vorsichtig einen Platz etwas weiter entfernt suchen. Sie besetzen den Raum, wo immer sie sind, und geben einem das Gefühl, diesen zu verlieren, verdrängen uns aus einer gewohnten Welt, denken anders, sprechen anders und kommen mit einer anderen Tradition, Kultur und Geschichte.

Wie wenn dein Stammkaffee neu übernommen wird und am nächsten Morgen dort jeder Tisch besetzt ist mit Menschen, die dir fremd sind. Du stehst in der Tür, die neuen Gäste sehen dich an und sagen mit ihren Blicken: "Jetzt sind wir hier, du gehst besser." Und plötzlich sitzt ein junger Mann im Bus neben mir, der mir meine mühsam aufgebaute, dunkle Welt zerstört, als würde er am Tisch im Gasthaus von meinem Gerüst aus Bierdeckeln die unterste Karte einfach herausziehen.

"Wie geht es deinen Freunden, können die auch so sprechen wie du?", fragte ich ihn. Er schüttelte verneinend den Kopf. "Ich bin der einzige unter den Kindern der Bekannten meiner Eltern, und meine Schwester natürlich, die ist älter, die wird heuer Maturieren und will sogar studieren.""Und wieso schaffen es die anderen nicht?", fragte ich. "Die haben nicht solche Eltern und nicht so eine strenge Mutter, es war den anderen nicht wichtig. Von den meisten Familien, die gleichzeitig gekommen sind, da sitzen die Buben im Park und langweilen sich, haben nur die Hauptschule besucht, die können mich nicht leiden und lachen mich aus, ich sei ein Schwächling, benehme mich wie ein Mädchen", antwortete er.

Mittelsitz

"Irgendwann machen sie vielleicht eine Reise, zwängen sich in einem Flugzeug in den Mittelsitz ganz hinten, und du sitzt in einer feschen Uniform vorn als Pilot, da werden sie dich nicht mehr verhöhnen, nur mehr beneiden", sagte ich. Er lächelte.

Vor uns saß eine Frau, vielleicht Mitte vierzig, mit strohblond gefärbten Haaren, neben ihr ein etwa gleichaltriger Mann, die ergrauten Spuren an seinen Schläfen verdunkelt. Beide im perfekten "Grinzing-Look", als hätte man ihnen all das angezogen, was vorher die Kleiderpuppen in der Auslage eines Geschäfts im ersten Bezirk zeigten. Sie schwiegen und schienen uns zuzuhören, unterbrachen nur manchmal das Lauschen mit ein paar flüsternden Bemerkungen.

"Funktioniert die Integration also hauptsächlich über die Eltern?", fragte ich meinen Nachbar. Er nickte wieder und sagte: "Ohne Eltern ist es schwierig, die entscheiden, ob man es hier schafft, ich will nicht sagen, dass alles sinnlos ist, was man anbietet, aber es kann die Eltern nicht ersetzen, das sehe ich bei meinen Freunden und anderen Familien."

Heurigen

Dann stieg er aus, ich wünschte ihm alles Gute. Als er aufstand, beugte er sich vor und überraschte mich mit den Worten: "Sie sind sehr freundlich, danke, das sind ganz wenig hier, auch wenn man Deutsch kann."

Ich sah aus dem Fenster. Wir fuhren durch die Allee der Sandgasse, wo prächtige Villen und großzügige Wohnungen mit Terrassen und Balkonen sich aneinanderreihen, von Heurigenlokalen unterbrochen, als sich das Paar vor mir umdrehte.

"Das haben S'aber nicht wirklich geglaubt", sagte die Frau im Auslagen-Look. "Der war doch keine 16, die schummeln doch alle mit ihrem Alter." Ich überlegte, ob ich antworten sollte, doch ihr Partner mit den gefärbten Haaransätzen kam mir zuvor: "Der hat Ihnen einen Schmäh erzählt, das gibt's doch nicht, dass einer nach ein paar Jahren so gut Deutsch kann, und zur Pilotenausbildung lassen s'den eh nie, da kenn ich mich aus, die haben immer Angst vor Terroristen seit 9/11." Ich sah mir die beiden an und ein schrecklicher Gedanke überkam mich: "In den Augen der 'Anderen' bin ich einer von euch und genau so ein Idiot."