Danke, England

Meine Geschichte mit dem United Kingdom

von Britische Flagge © Bild: iStockphoto.com/8213erika

Am 10. April 1831 machte sich der 34-jährige Heinrich Sichrovsky (mein Großvater mit etlichen "Urur-"vor dem Namen) mit seinem Freund Samuel Biedermann vom "Bankhaus Biedermann" auf den Weg von Wien nach London. Auf der Überfahrt nach England blieb er trotz Sturm und hohen Wellen auf dem Deck. Er wollte auf keinen Fall den Anblick der Küste von England versäumen. In seinem Tagebuch erwähnt er einen weiteren Tapferen, der dem windigen Wetter trotzte: William Makepeace Thackeray, der von einem Besuch bei Goethe in Weimar zurückkehrte und Jahre später durch seinen Roman "Vanity Fair" ("Jahrmarkt der Eitelkeiten") weltberühmt wurde.

Grund der Reise war das Interesse meines Vorfahren für die Eisenbahn. Nachrichten aus England über ein neues Transportmittel, das alle Pferdewagen ersetzen könnte, faszinierte das aufstrebende Bürgertum in Österreich. H. Sichrovsky fuhr im Auftrag des Bankhauses Rothschild in Wien in das damals auf technischem Gebiet allen anderen Ländern weit überlegene Königreich. In der Tasche trug er einen Brief an N. M. Rothschild in London von seinem Bruder S.M. Rothschild aus Wien:

"Dear Sirs, dies wird Ihnen von M. S. Biedermann und H. Sichrovsky überreicht, zwei höchst ehrenwerten Gentlemen, die die Absicht haben, Ihre Metropole zu besuchen und weiter in das Innere des Vereinten Königreichs vorzudringen. Ich möchte sie Ihrem wärmsten Empfang empfehlen und ersuche, dass Sie ihnen alle Dienste erweisen, die dem Vergnügen und der Nützlichkeit ihrer Reise in Ihrem höchst interessanten Lande förderlich sind.

Ich verbleibe, Dear Sir, Ihr stets ergebener, S. M. Rothschild"

Eisenbahn

Am 29. Juni 1831 bestieg H. Sichrovsky den ersten Zug in England, von Manchester nach Liverpool. Er war damit nicht nur der erste Österreicher, der in einer Eisenbahn saß, sondern auch der erste, der einen Weg weder zu Fuß noch in einem von Pferden gezogenen Fahrzeug zurücklegte.

Er schrieb in seinem Tagebuch: "Dieses achte Weltwunder, dem die übrigen sieben unbedingt ihre Celebrität abtreten müssten, lässt sich nicht schriftlich erklären. Nur so viel, dass wir die 36 Meilen Wegs in einer Stunde und 20 Minuten zurücklegten. Die Empfindung war, als ob man die Luft durchschnitt. Die Gegenstände flogen zu beiden Seiten des Weges mit Blitzschnelle vorbei."

Die folgenden Jahre sind dokumentierte Geschichte der Österreichischen Eisenbahn. Nach seiner Rückkehr und Gründung der Nordbahn wurde H. Sichrovsky der erste Generalsekretär. In einem Schreiben an den Kaiser informierte er ihn über den Plan der ersten Eisenbahnfahrt in Österreich -am 14. November 1837 von Floridsdorf nach Wagram. H. Sichrovsky wurde für seine Erfolge zum Ritter von Sichrovsky ernannt. Viele Jahre später schuf er die Grundlagen für die Stadtbahn in Wien, die heutige S-Bahn.

Doch das spätere Österreich hat ihn erfolgreich vergessen. Eine Zeit lang stand noch eine Büste von ihm im Technischen Museum, diese wurde im Keller verstaut. Seit bald 200 Jahren versucht meine Familie bei der Regierung und den Behörden in Wien zu erreichen, dass eine Straße nach ihm benannt werde - ergebnislos.

Vertreibung

Hundert Jahre später, die Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts. Nach der Machtergreifung der NSDAP, der drohenden Kriegsgefahr und der antijüdischen Gesetzgebung versuchte die Familie meiner Mutter, die 16-jährige Tochter von Prag ins Ausland zu schicken. Es war aussichtslos, kein Land zeigte sich bereit, sie aufzunehmen. Bis eine Quäker-Familie in Falmouth im Südwesten England, ihr eine Einladung sandte und sie ein Visum bekam. Die zurückbleibende Familie hat den Holocaust nicht überlebt. Mein Vater, ein Jahr älter als meine Mutter, damals in Wien lebend, konnte sich ebenfalls nach England retten. Er meldete sich zur Britischen Armee und kam 1945 als Soldat nach Wien zurück. Er sagte später spöttisch, er habe eigentlich den Krieg gewonnen. Von den 130.000, die Österreich rechtzeitig verlassen konnten, hat England etwa 30.000 aufgenommen.

London

Ich wurde nach dem Krieg in Wien geboren. Damals eine graue, bösartige, verzweifelte Stadt, große Teile zerstört, von ausländischen Truppen besetzt und in allen Funktionen immer noch die alten Nazis. Mein Volksschullehrer war ein ehemaliger SS- Offi zier, und der Großteil des Lehrkörpers im Gymnasium beschrieb den Krieg als "furchtbare Notzeit", unfähig, eine Form von Betroffenheit oder Verantwortung zu zeigen.

Doch ich hatte zwei Verwandte in London. Ich nannte sie Tanten, und sie haben mir das Leben zumindest während der Sommerferien verschönert. England wurde zu der Heimat, nach der ich mich sehnte. Bereits im Juni zählte ich die Tage, wann ich endlich abreisen konnte, und verbrachte Juli und August in Großbritannien. Meine Tanten, zwei ältere Damen, unverheiratet und ohne Kinder, etwas überfordert mit einem wilden Buben aus Wien, schickten mich jedes Jahr für ein paar Wochen in ein Feriencamp nach Wales. Dort musste ich Cricket spielen und brachte den Coach zur Verzweiflung, da ich eher selten diesen harten, kleinen Ball mit dem Holzschläger treffen konnte. Auf Pferden über Felder und durch Wälder reiten - von denen ich mehrere Male zum Vergnügen der anderen Kinder herunterfiel -und auch bei Regen, Sturm und eisigem Wetter kurze Hosen tragen.

Meine Tanten lebten unter Emigranten. Familie Federer führte eine Wiener Konditorei. Ich durfte jederzeit in der Backstube so viele Torten essen, wie ich wollte. Tante Martha leitete eine "Wiener Schneiderei" für die Wohlhabenden unter den Flüchtlingen, und ein Onkel Thomas war Professor für Mathematik in Oxford, der wurde von allen bewundert. Englisch sprach ich nur im Camp in Wales, in London dominierte der noble Hietzinger Dialekt, nicht ganz Hochdeutsch und nicht ganz Wienerisch. Am Wochenende gab es Musikabende, es wurde Walzer getanzt, Wiener Kabarettisten traten auf, und Schriftsteller lasen aus ihren Büchern. In London erlebte ich das "Herrliche Wien", das ich als Kind in Wien nie erleben konnte.

Heute arbeiten zwei meiner Söhne in England, einer in London als Anwalt, der andere als Ph.D.-Student in Cambridge. Beiden bot das britische Universitätssystem eine wunderbare Ausbildung, obwohl keiner einen britischen Pass besitzt.

Traditionen

Erinnerungen beschäftigen mich seit dem Tod von Königin Elizabeth. Es ist gar nicht einfach, dieses Land zu mögen. Während der Abstimmung über den Brexit lebte ich in Guildford, einer Universitätsstadt südlich von London. Ich verstand die Abneigung gegenüber Brüssel nicht. Man hörte mir zu, höflich und geduldig, wenn wir nach gut britischer Tradition Sonntag Nachmittag nach dem Tennis im Club Tee tranken, trockene Kekse aßen und diskutierten, ohne mich wirklich ernst zu nehmen.

Im Land mit den besten Universitäten der Welt bricht jede Woche das Eisenbahnsystem zusammen, und man wartet drei Monate auf einen Arzt-Termin. Sandwiches sind das Beste auf den Speisekarten, wer kann schon jeden Tag Fish and Chips essen? Das Bier im Pub wird warm und ohne Schaum serviert, und die wenigen Kaffeehäuser sperren um fünf Uhr am Nachmittag bereits zu. Die Stecker haben drei Pole, der Linksverkehr macht einen fertig, und sie sagen "sorry" in jedem Satz, ohne es je zu sein.

Es geht um Tradition, um Selbstverständlichkeit und historische Verwurzelung. Briten vermitteln eine Selbstsicherheit, die uns fehlt. Die Trauer um die Königin und Verehrung der königlichen Familie sind uns fremd. Im Grunde genommen verstehen wir es nicht, dieses Inselvolk, das vom "Continent" spricht, wenn es Europa ohne UK und Irland meint.

Während eines Abendessens in einem noblem Londoner Club hörte ich einer Diskussion über die Europäer zu. Es ging um das Verhältnis der Briten zu Deutschland und Frankreich. Einer der Gäste, erfolgreich und wohlhabend mit dem Akzent des Eton Colleges, das Prinz William und George Orwell besuchten, Absolvent einer der besten Universitäten, fasste den britischen Sarkasmus und Humor in einem Satz zusammen: "We like to hate the Germans, but we really hate the French."