Daniel Radcliffe: "Der Druck hat mich zum Alkoholiker gemacht"

Sein Abschied von "Harry Potter" war hart. Der britische Schauspieler Daniel Radcliffe im Interview über die Zauberer-Vergangenheit, wie er sich davon freigespielt hat und seinen Traum vom Actionhelden

von Interview - Daniel Radcliffe: "Der Druck hat mich zum Alkoholiker gemacht" © Bild: Leonine Distribution

Sitzt man dem 1,65 Meter großen, sehr schlanken Schauspieler mit den großen blauen Augen gegenüber, möchte man ihn fast ein bisschen beschützen. Vor einer Welt, die ihn für immer als Harry Potter in Erinnerung behalten will. Die nicht sehen will, was für fabelhafte Rollen Daniel Radcliffe mittlerweile gespielt hat. Zum Beispiel in Filmen wie "Die Frau in Schwarz", "Kill Your Darlings -Junge Wilde", "The F-Word", "Swiss Army Man" oder "Der Kurier - In den Fängen des Kartells". Aus dem Zauberlehrling von einst ist längst ein veritabler Charakterdarsteller geworden - mit viel Mut zum Risiko.

In seinem neuen Film, der Actionkomödie "Guns Akimbo", spielt er einen Computer-Nerd namens Miles. Der stößt im Darknet zufällig auf einen Live-Stream, in dem gezeigt wird, wie die Teilnehmer ganz real zu tödlichen Duellen antreten. Angewidert von den brutalen Gewaltdarstellungen disst er die Macher online. Die rächen sich damit, dass sie Miles an jede Hand eine automatische Waffe schrauben. In einem ultimativen Death-Match muss Miles nun gegen die unbesiegbare Kampfmaschine Nix (gespielt von Samara Weaving als abgedrehte Lara Croft) antreten.

© Leonine Distribution Radcliffe liebt Actionfilme und darf nun endlich einen abgedrehten Actionhelden spielen

Das Interview mit Daniel Radcliffe findet in seinem Trailer am Drehort im Englischen Garten in München statt. Dort wird, nahe dem Seehaus, den ganzen Nachmittag lang ein besonders actiongeladener Showdown zwischen Nix und Miles gefilmt. Drei Tage zuvor wurden Cast und Crew dafür aus Auckland, Neuseeland, eingeflogen. "Ich hoffe nur, dass wir mit unserem Herumgeballere nicht die Enten auf dem See verschrecken", meint der 31-Jährige lachend, und nimmt einen tiefen Schluck Cola aus der Dose.

Mr. Radcliffe, Ihr "Harry Potter"-Exorzismus scheint Ihnen nach wie vor großen Spaß zu machen.
(Lacht) Ja, davon können Sie ausgehen. Aber ich würde es nicht unbedingt "Exorzismus" nennen. Ich spiele mittlerweile nur eben ganz andere Rollen als früher.

Zum Beispiel eine ständig flatulierende Leiche in dem Film "Swiss Army Man", oder in "Guns Akimbo" einen Nerd, der Bademantel und Felltatzen-Hausschuhen trägt und Pistolen an beide Hände geschraubt hat.
Ist das nicht ein irres Bild?! Zugegeben, das erinnert nicht unbedingt an Harry Potter, aber das soll es ja auch nicht. Allerdings habe ich auch schon zur Zeit der "Harry-Potter"-Verfilmungen versucht, mich nicht auf diese Rolle festlegen zu lassen. In dem Theaterstück "Equus" habe ich zum Beispiel einen psychisch gestörten Stalljungen gespielt ...

... und splitternackt waren Sie in dieser Rolle auch zu sehen, was damals für großes Aufsehen sorgte.
Oh ja, aber das ist doch Schnee von gestern. Eigentlich habe ich mich schon sehr früh als Schauspieler begriffen und nicht als Harry-Potter-Darsteller. Allerdings musste ich nach dem Ende des "Harry Potter"-Franchise noch einmal von ganz vorne anfangen. Es war alles andere als einfach, das "Potter"-Image loszuwerden. Mir war schnell klar, dass ich diesen Neuanfang am besten mit Rollen bewerkstelligen konnte, die niemand von mir erwartete. Das zu wagen erforderte allerdings eine große Portion Mut. Aber Schüchternheit hat in der Filmbranche sowieso nichts zu suchen. Also bin ich einfach kopfüber ins kalte Wasser gesprungen. Und künstlerisch hat es mich schon damals viel mehr zu Arthouse-Movies hingezogen als zum Mainstream, denn im Independent-Kino wird definitiv mehr riskiert. Und das kommt mir sehr entgegen. Das erklärt vielleicht auch meine eklektische Rollenwahl.

© Getty Images/ Axelle/ Bauer-Griffin Casting-Agentin Marcia Jeannine Gresham und Literaturagent Alan George Radcliffe 2015, als ihr Sohn mit einem Stern am Hollywood Walk of Fame geehrt wurde

Mit den "Harry Potter"-Filmen haben Sie sicher obszön viel Geld verdient. Da waren Sie gerade mal Anfang 20.
Als die letzte Klappe zum letzten "Potter"-Film fiel, war das ein großer Befreiungsschlag. Plötzlich konnte ich mir die Projekte aussuchen, die ich wirklich machen wollte, ohne dabei aufs Geld zu schauen. Und Sie liegen nicht falsch: In diesem Leben muss ich mir tatsächlich keine finanziellen Sorgen mehr machen. Das macht mich in beruflichen Dingen völlig unabhängig. Und das empfinde ich als großes Privileg. Der Weg dorthin war aber alles andere als leicht.

»Der Druck, zehn Jahre lang Harry-Potter-Filme zu liefern, war immens hoch. Das hat mich zum Alkoholiker gemacht«

Sie mussten viele Federn lassen?
Das kann man so sagen. Ich war gerade elf Jahre, als ich zu Harry Potter wurde. Und der Druck, zehn Jahre lang einen Harry-Potter-Film nach dem anderen zu liefern, war wirklich immens hoch. Das hat mich letztlich zum Alkoholiker gemacht. Ich kann heute noch mit dem Finger auf Filmszenen von damals zeigen, bei denen ich total weggeschossen war. Zwei tote Augen - nichts dahinter. Hinzu kam noch, dass ich so gut wie keinen Schritt in der Öffentlichkeit tun konnte, ohne von Paparazzi fotografiert oder von Fans belagert zu werden. Dieses Leben unter dem Vergrößerungsglas hat mich total verängstigt. Und da ich privat eher der schüchterne Typ bin, habe ich immer öfter ein paar Drinks gekippt, um meine Hemmungen loszuwerden. Das hat eine Zeit lang auch gut funktioniert - bis ich merkte, dass ich ohne Sprit im Blut keinen Spaß mehr am Leben hatte. Das war das Alarmsignal. Aber ich habe es schließlich geschafft, vom Alkohol loszukommen. Ich bin schon seit Jahren trocken!

Ist es Ihnen eigentlich egal, ob Ihr Film Erfolg hat oder floppt?
Egal ist mir das nicht. Natürlich wünsche ich mir, dass viele Zuschauer meine Filme sehen. Aber ich schiele schon lange nicht mehr nach kommerziellem Erfolg. Denn originelle und mutige Filme sind heutzutage ja meist keine großen Kassenerfolge mehr, was ich sehr schade finde. Aber an solchen Filmen hängt mein Herz.

Also auch an "Guns Akimbo"?
Aber ja. Bei diesem Projekt hat mich sofort das ziemlich durchgeknallte Drehbuch gepackt. Und auch die Rolle, die ich spiele, ist so extrem, dass ich mir gut vorstellen konnte, beim Drehen jede Menge Spaß zu haben. Diese Erwartung hat sich dann auch mehr als erfüllt. Außerdem liebe ich Action-Movies über alles. Aber leider bin ich durch mein Aussehen und meine Statur nicht gerade dafür prädestiniert, einen Action-Helden darzustellen. Auch in "Guns Akimbo" entwickle ich mich ja erst im Laufe der Zeit vom nerdigen Hasenfuß zu einer tödlichen Killer-Maschine. Diese Action-Achterbahnfahrt wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.

© Getty Images/ Mike Pont/ FilmMagic Das Leben vor aller Augen ängstigt ihn, sagt Radcliffe

Im Film gibt es viele Video-Game-Referenzen. Waren Sie damit vertraut?
Um Gottes willen, nein. Ich hatte keine Ahnung und habe mir vieles erklären lassen. Ich bin auch kein großer Freund des Internets und habe mich noch nie ins Darknet eingeklinkt. Das wäre für mich der reinste Horror. Ich habe erst vor Kurzem gelesen, dass dort ein Typ einen Killer gesucht hat, der für 20.000 Dollar seine Frau umbringen sollte.

Das ist zugegebenermaßen extrem. Aber die sogenannten Social Media sind doch eher harmlos. Oder nicht?
Na ja Es ist schon viele Jahre her, seit ich mich das letzte Mal gegoogelt habe. Ehrlich gesagt: Google ist mein Darknet. (Lacht)

»Ich fing an, mich so zu sehen, wie die anderen mich sahen. Das war bei der Entwicklung doch sehr hinderlich«

Warum denn das?
Im Internet kursieren mich betreffend immer noch jede Menge Falschmeldungen. Oder es werden Dinge, die ich mal gesagt habe, aus dem Zusammenhang gerissen. Aber ich gestehe: Früher war ich richtig abhängig von dem, was im Netz über mich verbreitet wurde. Ganz egal, ob es gut war oder schlecht -es war auf jeden Fall absolut krank, so viel über mich zu lesen. Ich fing damals an, mich selbst immer mehr so zu sehen, wie die anderen mich sahen und nicht, wie ich mich selbst sehe. Dieses Zerrbild war bei meiner Persönlichkeitsentwicklung sehr hinderlich, das können Sie mir wirklich glauben.

© Warner Bros. Ab dem elften Lebensjahr mimte Radcliffe zehn Jahre lang Harry Potter. Seitdem setzt er bewusst auf Independent-Filme

"Guns Akimbo" nimmt eine besondere Klientel aufs Korn: die hirnlosen Video-Konsumenten, die sich an Gewaltexzessen aufgeilen ...
Ja, die werden gnadenlos vorgeführt. Zu Recht, wie ich meine. Man sollte sich auch nicht von der grellen Video-Game- Ästhetik täuschen lassen. In meinen Augen ist "Guns Akimbo" eine konzeptuell sehr durchdachte Mediensatire -allerdings mit extrem hohem Spaßfaktor. Regisseur Jason Lei Howden wusste sehr genau, was er wollte, und hat es ganz fantastisch umgesetzt. Für mich als Schauspieler ist das immer Gewinn, wenn jemand weiß, was er macht.

Was lieben Sie am Filmemachen am meisten und was hassen Sie?
Ich liebe das Filmemachen von A bis Z. Vor allem die Dreharbeiten. Wir Schauspieler haben doch einen Traumjob! Und jeder noch so schlechte Drehtag ist doch um Längen besser als ein guter Tag in jedem anderen Job. Was ich absolut hasse, ist, wenn jemand diese "Traumwelt" durch arrogantes Benehmen zerstört. Wir alle ziehen beim Drehen doch an einem Strang. Und wenn dann so ein Möchtegern-Star denkt, er kann das alles in den Dreck ziehen, oder die Kollegen und die Crew schlecht behandelt, da kann ich schon mal ausrasten. Mit so einem despektierlichen Verhalten kann man nämlich ganze Filmsets ruinieren. Und das ist für mich eine Todsünde.

Wie kommt es, dass Sie nie in die Ruhm-Falle getappt sind?
Wenn man berühmt ist, wird man oft, zum Beispiel in Restaurants, sehr bevorzugt behandelt. Das ist, zugegeben, manchmal ganz nett. Aber mir war immer die Arbeit das Wichtigste. Wenn man mit dem Vorsatz, reich und berühmt zu werden Schauspieler wird, dann geht das bestimmt neun von zehn Mal voll in die Hose. Und dann diese ganzen Partys, Fashion-Events und Celebrity-Galas und das Schaulaufen auf dem roten Teppich - wie ich das alles hasse! Da fühle ich mich total unwohl.

© Leonine Distribution In "Guns Akimbo" wird Radcliffe zum schrägen Actionhelden wider Willen

Wo und wann können Sie dann ganz Sie selbst sein?
Bei mir zu Hause. Bei meiner Familie. Wenn ich Zeit mit meiner Freundin verbringe (Anm.: Seit 2013 ist er mit der amerikanischen Schauspielerin Erin Darke zusammen.). Oder mit Freunden. Da bin ich dann Daniel pur.

Schenken Sie uns zum Schluss noch eine Lebensweisheit.
Die habe ich mir von meinem Lieblingsschriftsteller Kurt Vonnegut abgeschaut. Der sagte mal: "God damn it, you've got to be kind!" Das ist doch ein sehr gutes Lebensmotto. Oder etwa nicht?

Das Interview erschien im News 26/2020.