Die Akte 1 UT 90/14d liegt vor Asiye Sel auf dem Esstisch. Sie hat sie oft gelesen. Die Gutachten der Sachverständigen, die Ermittlungsberichte der Polizisten, sogar den Obduktionsbericht des Gerichtsmediziners hat sie immer wieder studiert. "Die Befunde sprechen somit nicht gegen einen Unfall", steht da als Abschlusssatz. Vage ausgedrückt bedeutet es, dass die Mediziner zumindest nicht ausschließen, was Asiye Sel vermutet: Dass ihr Vater Opfer eines Gewaltverbrechens wurde.
Ihr Vater, das ist Cafer Ilkay. Zum Todeszeitpunkt ist er 65 Jahre alt. Ein stattlicher Mann. Er wiegt 90 Kilogramm und ist 1,80 Meter groß. Ein Familienmensch. Er hat sechs Kinder, um die er sich lange alleine kümmert. Seine Frau starb schon vor 20 Jahren an Krebs. Ein fleißiger Arbeiter. Er kommt 1973 als Gastarbeiter aus der Türkei nach Wien, baut sich hier sein Leben auf und schuftet 43 Jahre auf dem Bau. Er mietet damals seiner Familie eine kleine Wohnung in der Esterházygasse im sechsten Bezirk. 53 Quadratmeter, Küche, Bad, Kabinett. Hier leben sie zeitweise zu acht. Hier zahlt Cafer Ilkay am Ende seines Lebens eine Miete von 165 Euro. Die kann er sich von seiner Pension leisten. Einen anderen Wohnort will er sich nicht vorstellen. Das Haus wird er nicht mehr lebend verlassen. Warum, wird nie geklärt werden.
Das System ist faul
Experten schätzen, dass jeder zweite Mord in Österreich unentdeckt bleibt. Das ganze System der Todesermittlung sei faul. Das behauptet der Journalist Thomas Trescher in seinem neuen Buch "Totgeschwiegen". Anhand von echten Kriminalfällen beschreibt der 39-Jährige Kapitel für Kapitel das Versagen
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