Total krank:
Diagnose Ärztemangel

Mehrere Hundert Kassenärzte müssen mit Jahresende ihre Verträge zurückgeben, weil sie über 70 sind. Allein in Wien sind rund 150 Ärzte betroffen. Die Regelung sollte eigentlich Jungen den Einstieg ermöglichen, aber die wollen oft nicht mehr. Nun droht ein Ärztemangel, warnen Experten

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Diagnose Ärztemangel © Bild: Ricardo Herrgott

Das Bücherregal ist fast leergeräumt, die Bilder lehnen in Kartons verpackt am Schreibtisch. Der Wiener Internist Peter Fitscha zieht aus seiner Ordination aus, und es ist ein höchst unfreiwilliger Auszug. „Ich schau weder blöd aus, noch bin ich blöd. Ich bin arbeitswillig und fit. Für mich ist es eine Katastrophe, ein schicksalhaftes Geschehen. Ich hätte niemals aufgehört, wenn mir das nicht aufoktroyiert worden wäre.“

Mit 70 Jahren ist für Kassenärzte nämlich Schluss. Mit Jänner 2019 müssen alle Mediziner, die noch in der Praxis stehen, obwohl sie das Pensionsalter längst überschritten haben, ihren Kassenvertrag zurückgeben. Diese Regel ist zwar nicht ganz neu, aber mit Jahresende läuft die Übergangsfrist aus.

Dankbare Patienten

Fitscha ist 75. Die letzten 20 Jahre seiner langen Laufbahn, jene in der eigenen Ordination, waren für ihn die „erfüllendsten und schönsten“, sagt er. Auf seinem Schreibtisch liegt ein kunstvoll handgeschriebener Abschiedsbrief, den ihm ein Patient gebracht hat. „Wir sind unendlich dankbar“, heißt es darin, und, sinngemäß, dass ein Patientenleben ohne Fitscha möglich, aber sinnlos sei. „Und da soll es mich freuen, aufzuhören?“, grollt der Arzt. „Es ist jetzt für mich die furchtbarste Zeit.“

Zwar übergebe er die Gruppenpraxis an ein handverlesenes, kompetentes Team, aber die Veränderungen stehen ante portas. Unwiderruflich. Allein schon optisch. Die Tage des gediegenen, gemütlichen Ambientes, das Fitschas Ordination im neunten Bezirk auszeichnet, sind vorbei. „Die Jungen wollen diese Einrichtung nicht haben, sie sagen, das ist oldfashioned, das schaut aus wie eine Wohnung. Jetzt kommt dann Weiß und Taupe. Naja, von mir aus, aber so sehen alle Ordinationen aus. Wenn Sie sich hier umschauen, das ist atypisch für eine Ordination. Aber ich wollte es so, und den Patienten hat es gefallen.“

Es ist für Peter Fitscha kein Trost – nichts kann ihn in dieser Situation trösten, außer vielleicht der Gedanke, dass ihn statt dieses Schicksalsschlages auch eine schlimme Krankheit hätte erwischen können –, aber er ist nicht der einzige. In ganz Österreich werden im nächsten Jahr 157 Fachärzte, 101 praktische Ärzte und 87 Zahnärzte in den Ruhestand treten. Besonders viele dieser Mediziner haben ihre Ordinationen in Wien: Hier fallen laut österreichischer Ärztekammer im nächsten Jahr knapp hundert Fachärzte und 56 praktische Ärzte in die 70er-Regelung.

Ärztevertreter warnen daher bereits vor einem möglichen Versorgungsengpass. Denn Nachfolger stehen in vielen Fällen nicht parat.

© Ricardo Herrgott Wolfgang Wick in seiner Ordination in Favoriten. Er macht ab Jänner als Wahlarzt weiter

Unattraktive Verträge

Warum das so ist? Es werde immer schwieriger, neue Ärzte für bestehende Kassenordinationen zu finden, heißt es dazu aus der Kammer. Hätten sich die Mediziner früher regelrecht um die Kassenverträge gerissen und lange Wartelisten in Kauf genommen, „kommt heute nichts nach. Offenbar sind die Kassenverträge so unattraktiv geworden, dass die jungen Kollegen lieber eine Privatpraxis aufmachen.“ Vor allem in ländlichen Gebieten suchen die Bürgermeister geradezu händeringend nach Ärzten. Dass zur Praxis Wohnung und Dienstauto gleich mitangeboten werden, ist keine Seltenheit mehr. Doch die Listen, auf denen die Bewerber nach einer Punktezahl gereiht werden – Punkte gibt es etwa für Vertretungen in Ordinationen, Zusatzausbildungen, Habilitierung, Notarzteinsätze oder Arbeit beim Ärztefunkdienst –, seien in manchen Fächern de facto leer, heißt es in der Ärztekammer.

Doch warum ist es für junge Ärzte heute nicht mehr erstrebenswert, Kassenarzt zu sein?

Fitscha erklärt sich das zum einen mit dem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis junger Kollegen, die sich in einem Angestelltenverhältnis wohler fühlen als in der vermeintlich riskanten eigenen Praxis. „Es ist eine Art psychologische Klippe. Manche erkennen dann doch, dass die freiberufliche Tätigkeit mit Verantwortung gekoppelt ist, aber auch mit Gestaltungsmöglichkeiten. Die gibt es im Spital kaum.“ Der zweite Grund, meint Fitscha, sei, dass „Work-Life-Balance viel wichtiger geworden ist. Ich habe nur für diese Ordination gelebt. Aber gerade Frauen haben auch andere Verpflichtungen und wollen vielleicht nicht zwölf Stunden am Tag arbeiten.“

Und: Das Honorarsystem wurde nie an einen modernen, veränderten Arztbegriff angepasst, erklärt der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer. „Junge Ärzte gäbe es genug, in ganz Österreich gibt es rund 47.000 Mediziner und es werden auch laufend neue ausgebildet.“ Die Leistung der Kassenärzte werde allerdings seit den 1970er-Jahren nach einem System abgegolten, „in dem jede Einzelleistung so billig wie möglich sein muss, und man so viel arbeiten muss, wie möglich“.

Vernünftig sei dieses System nicht. „Junge sehen, dass sie in Kassenordinationen keine moderne Medizin machen können.“ Also eine, die sich Zeit für den Patienten und seine Beratung nimmt. „Um 100 Euro Umsatz zu machen, muss man im Kassenbereich vier Patienten durch die Ordination schleusen.“ Ein Wahlarzt kann diese Summe schon für die Erstordination einer Person verrechnen.

Pichlbauers Rat an die Verantwortlichen in Politik, Krankenkassen und Ärztekammer – einen Leistungskatalog ohne willkürlich festgesetzte Tarife, die noch dazu von Kasse zu Kasse unterschiedlich hoch sind. Ein „Gröschlgeschäft“ nennt ein Mediziner das Abrechnungssystem. Im Leistungskatalog der SVA etwa, „und die zählt zu den bestzahlenden Kassen“, bekomme ein Arzt für den ersten Besuch eines Patienten in einem Monat rund
18 Euro, für jeden weiteren rund 13 Euro. Für das Verabreichen einer Spritze stehen 1,40 Euro im Katalog.

Seiner Beobachtung nach gäbe es Fächer, die „wirklich ausgehungert werden“, sagt Internist Fitscha, und andere, die „eine Spur privilegierter sind, weil sie eine starke apparative Ausrichtung haben und apparative Medizin im derzeitigen System etwas im Vorteil ist. Im internen Sektor ist es durchaus machbar, wenn man eine gewisse Größe hat. Ich glaube, dass Einzelpraxen à la longue nicht konkurrenzfähig sind, weil es zu teuer ist. Man braucht größere Einheiten wie Gruppenpraxen.“

Besonders problematisch ist die Situation der Hausärzte. Immer weniger fertig ausgebildete Ärzte finden den Weg in die Allgemeinmedizin, vor allem in die Kassenmedizin. Die Zahlen zeigen einen großen Teil des Problems auf: Während Kassen-Fachärzte im Jahr 2016 über Verträge mit den sogenannten Paragraf-2-Krankenkassen (GKKs etc.) im Jahr durchschnittlich Honorare von rund 327.000 Euro erwirtschafteten (Umsatz), kamen Hausärzte laut Statistiken des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger auf durchschnittlich 233.000 Euro.

Dabei gäbe es durchaus Bedarf nach mehr Kassenordinationen – zumindest in manchen Regionen. Wien ist in den vergangenen 20 Jahren um die Einwohnerzahl von Graz gewachsen, doch die Zahl der Kassenverträge bleibt auch hier gleich. In ganz Österreich gibt es seit dem Jahr 1999 unverändert 7.046 Kassenstellen. Und während früher Wahlärzte eher die Ausnahme waren, haben diese laut Zahlen der Ärztekammer seit 2007 in ihrer Zahl die Kassenordinationen überholt und werden jedes Jahr mehr. Das hat auch zur Folge, dass die Kassenärzte im Schnitt immer älter werden. Dass in einem Bundesland nahezu alle Kassenärzte in einem Fachgebiet über 55 Jahre alt sind, und damit in den nächsten zehn Jahren das Regelpensionsalter erreichen, ist keine Seltenheit.

In der Steiermark etwa sind von insgesamt 18 Lungenfachärzten 16 über 55, von 48 Gynäkologen in diesem Bundesland ist nur einer unter 50. Der jüngste Kassen-HNO-Arzt in Salzburg ist 53 Jahre alt. In Niederösterreich sind von 29 Kassenurologen ganze acht jünger als 55. In Wien sind von 79 Kassenorthopäden 61 über 55. Laut Berechnungen der Standesvertretung werden sich in ganz Österreich in den nächsten rund 50 Prozent der Patienten von ihrem bisherigen Hausarzt verabschieden müssen, weil dieser in den Ruhestand tritt.

Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer sagt, vor allem die Zahl der Ärzte mit Verträgen der Gebietskrankenkassen gehe zurück. Da sei das Kassensystem „tatsächlich marode“. Und schon jetzt spiele sich das Phänomen der Zwei-Klassen-Medizin nicht nur zwischen Privatversicherten und Krankenkassenpatienten ab. Auch innerhalb des Kassensystems gibt es bei den Ärzten Unterschiede. „SVA und Bauernkasse zahlen doppelt so viel Honorar wie die Gebietskrankenkassen“, erklärt der Gesundheitsökonom.

Wer sich also darüber wundert, dass er zuerst monatelang auf einen Facharzttermin warten muss und dann auch noch lange im Wartezimmer sitzt: „Die Ärzte achten darauf, dass sie erst einmal Patienten der besser zahlenden Kassen nehmen, die Restplätze füllen sie dann mit GKK-Versicherten auf. Es gibt eine hochgradige Patientenselektion, weil Ärzte eben auch nur Menschen sind.“

Zu viele Ärzte

In manchen Fachbereichen, meint Pichlbauer, gebe es aber sogar zu viele Kassenstellen. In Österreich sind zum Beispiel gemessen an der Einwohnerzahl doppelt so viele Urologen tätig wie in Deutschland. In Ballungsräumen sei die Facharztdichte überproportional hoch. „Linz hat die meisten Spitalsbetten und Kassenstellen aller Städte weltweit“, sagt Pichlbauer.

An anderen Stellen wiederum fehlt die Versorgung, etwa im Bereich der Kindermedizin. Hier würde der Experte gerne Mittel von den Kassenstellen der Ärzte zu den dringend fehlenden Kassentherapeutinnen (Logopädinnen, Ergotherapeutinnen etc.) umschichten. Allerdings: Die gehören nicht ins Ärztesystem, und keiner gibt gerne etwas her. Dass Kinder, deren Eltern keine teuren Privathonorare bezahlen können, ein bis zwei Jahre auf Therapieplätze warten, sei keine Seltenheit.

Wie löst man die Versorgungsproblematik? Der Wiener Internist Peter Fitscha sieht zwei Fragestellungen: Erstens, haben wir genug Ärzte? Und wenn ja, sind sie richtig eingesetzt? „Ich muss überlegen, ob die Medizin anders betrieben werden könnte als heute üblich. Warum kann ein Hausarzt nicht Telemedizin machen? Kann ich ärztliche Tätigkeiten an qualifiziertes Personal abgeben, wie in Großbritannien zum Teil üblich? Ich glaube nicht, dass Grund zur Panik besteht. Wir befinden uns in einer Zeit der Veränderung, aber ich sehr die Situation als lösbar an. Wenn man sich damit beschäftigt.“

Zwangspensionierung

Auch die Praxis von Wolfgang Wick im Wiener Stadtteil Favoriten hat mit „taupe“, „mauve, „ecru“ oder anderen Kennzeichen der modernen Praxis nichts zu tun. Auf dem Boden im Wartezimmer liegt ein abgetretener Perserteppich, das Fenster im Empfangsbereich ziert ein saison-adäquat roter Rüschenvorhang und im Sprechzimmer steht ein prachtvoller übermannshoher Arzneischrank. Dr. Wick ist 71 und Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Sein Kassenvertrag läuft mit Jahresende aus. „Ich hätte gerne weitergemacht“, sagt er. „Weil ich mich noch sehr rüstig fühle und auch die Patienten das wollen, glaube ich. Ich habe versucht, etwas dagegen zu unternehmen, aber es hat nicht funktioniert.“

Die derzeitige Regelung sehe er skeptisch, sagt Wick. „Viele wollen ohnehin in Pension gehen, die verabschieden sich dann mit 60. Aber warum nimmt man es jenen, die sich noch gut fühlen und weiterarbeiten wollen, weg? Es soll bei dem Gesetz wohl darum gehen, Jungen den Einstieg zu erleichtern. Aber wie ich höre, gibt es gar nicht so viele Junge, die einsteigen wollen. Selbst in den Spitälern haben sie Schwierigkeiten, Nachwuchs im Bereich Psychiatrie zu finden.“ Die viel zitierte Zwei-Klassen-Medizin sei bereits Realität, meint Wick. „Wer Geld hat, ist immer schon zu einem Kapazunder gelaufen und hat die Scheine hingeblättert.“ Kassenpatienten würden in Zukunft aber mit noch längeren Wartezeiten rechnen müssen.

Im Unterschied zu Peter Fitscha, der aus einer Gruppenpraxis ausscheidet, hat Wick die Möglichkeit, als Wahlarzt weiterzumachen. Und er wird sie nutzen. In den angestammten Räumlichkeiten in der Favoritenstraße. Sein Nachfolger als Kassenarzt muss sich eine neue Ordination suchen. Etwa die Hälfte der jetzigen Patienten, schätzt Wick, werde bei ihm bleiben, „auch solche, die es sich eigentlich gar nicht leisten können“. Wer den Kassenvertrag übernimmt, wird erst im Jänner entschieden. „Es wird sicher ein Engpass entstehen. Ein anderer Kollege muss auch aufhören, weil er schon über 70 ist.“

Der Gott in Weiß in Zwangspension –ein hartes Schicksal, dem Wick gerade noch entkommt. Und über das er lieber nicht so genau nachdenken will. „Man bekommt als Arzt sehr viel Feedback von den Leuten, man wird gelobt. Das steigert natürlich das Ego. Ich wäre sehr unglücklich, wenn ich jetzt zusperren und nichts mehr machen würde.“ Und was, wenn es eines Tages dann doch so weit ist? „Das stelle ich mir nicht vor. Ich fühle mich nicht danach, in Pension zu gehen. Ich mache weiter, solange es geht.“

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 50/2018