Arbeitslosigkeit:
Alltag ohne Auftrag

Arbeitslose erzählen von ihrer emotionalen Berg- und Talfahrt

Was macht es mit Menschen, wenn plötzlich der Arbeitsplatz weg ist und die Freizeit zum Dauerzustand wird? Momentaufnahmen zwischen Resignation und Hoffnung

von Cover - Arbeitslosigkeit:
Alltag ohne Auftrag © Bild: shutterstock

Alles hinschmeißen, dem kräftezehrenden Job einfach den Rücken kehren, sich ein paar Monate lang nur um sich selbst und die sträflich vernachlässigten Hobbys kümmern: Dieser Gedanke trug Jasmin F. durch schwere Zeiten in einem Unternehmen, zu dem sie sich innerlich schon lange nicht mehr zugehörig fühlte. Und es war gut, solange es nur ein Gedanke, ein theoretischer Ausweg war. Doch dann ging alles sehr schnell, viel zu schnell für die 30-jährige Büroangestellte: Gerade als sie sich wieder gefangen hatte und der Regelmäßigkeit ihres Jobs und der dazugehörigen Bezahlung viel abgewinnen konnte, sprach die Firma ohne Vorwarnung die Kündigung aus - und Jasmin F. fand sich plötzlich in einer langen Menschenschlange vor dem Arbeitsamt wieder. Doch die so sehnlich erhoffte Erleichterung blieb gänzlich aus: "Ich konnte die vielen Stunden Freizeit gar nicht genießen.“

»Ich konnte die vielen Stunden Freizeit gar nicht genießen«

In den darauffolgenden Monaten verschlechterte sich die Situation für die Wienerin zusehends. Einem Maximum an freier Zeit stand ein Minimum an Stellenangeboten gegenüber - und das, obwohl sich die Absolventin einer Handelsakademie mittlerweile für jeden ausgeschriebenen Job bewarb, der auch nur annähernd ihrer Qualifikation entsprach: "Ob Sekretariat oder Sacharbeiterstelle, ist mir vollkommen egal. Ich würde sogar einen Praktikumsplatz annehmen - wenn ich nur einen bekommen würde.“ Aufgeben war aber keine Option: "Ich muss weitersuchen. Das Arbeitslosengeld, das ich bekomme, deckt gerade meine Fixkosten.“ Wenn es gar nicht anders ging, fasst die allein lebende Wienerin sogar eine Umschulung ins Auge: "Irgendjemand muss mich doch brauchen.“

Quer durch alle Schichten

Arbeitslosigkeit ist zu einer Volkskrankheit geworden. Sie trifft Frauen wie Männer und zieht sich durch alle Einkommensschichten und Altersgruppen hindurch. Fast eine halbe Million Menschen, exakt 475.786, sind in Österreich derzeit beschäftigungslos - Tendenz steigend. "Wir hatten schon Familienfeiern, da war der Anteil jener ohne Arbeit größer als derer mit Job“, bestätigt auch Jasmin F. "Immerhin hatte da immer wieder irgendjemand gute Tipps für Bewerbungsgespräche parat.“

Auch ein hoher Ausbildungsgrad - früher fast ein Garant für Beschäftigung - hat an Bedeutung verloren. Zwar haben 45 Prozent der Kunden des AMS nach wie vor maximal einen Pflichtschulabschluss, doch auch bei den Hochschulabsolventen wird der Zeitraum, den sie für die Arbeitssuche aufwenden, immer größer: "120 Tage ist ein Akademiker im Schnitt bei uns“, bilanziert AMS-Vorstand Johannes Kopf.

Bewerben bis zur Pension

Auch Mario Springnagel hilft seine gute Ausbildung wenig in der jetzigen Situation. Der 57-Jährige hat Betriebswirtschaft und in weiterer Folge Politikwissenschaft studiert und sich im Laufe seines Berufslebens immer wieder in Führungspositionen wiedergefunden. Seit 2012 ist er dennoch arbeitslos. "Damals hat die Regierung Subventionskürzungen im Forschungsbereich beschlossen - das war das Ende meiner wissenschaftlichen Karriere.“ Der Manager wagte noch den Sprung in die Selbstständigkeit, musste aber wegen gesundheitlicher Probleme diesen Plan schnell aufgeben. "Auf normalen Schienen werde ich vermutlich keinen Job mehr finden.“ Die Meldung beim Arbeitsamt für den Bezug von Arbeitslosengeld war unvermeidlich. Mittlerweile bezieht Springnagel nur noch Notstandshilfe: "Das Leben mit diesem Betrag ist nicht leicht, aber noch komme ich durch.“ Er habe Glück, sagt der Niederösterreicher, weil er keine Familie und auch sonst keine übertriebenen Ausgaben habe. "Allerdings überlege ich sehr genau, ob ich mir als Ersatz für meine kaputte Waschmaschine tatsächlich eine neue kaufen muss.“

© Copyright 2017 Matt Observe - all rights reserved. News Observe Matt Mario Springnagel Betriebswirt Der 57-Jährige war jahrelang in Führungspositionen in der Forschung tätig. Der plötzliche Jobverlust vor fünf Jahren hat ihn dennoch nicht aus der Bahn geworfen. Er versucht, die Zeit bis zur Pension sinnvoll zu nutzen.

Den Glauben an einen fixen Job im Angestelltenverhältnis hat der Akademiker nahezu verloren: "Ich bewerbe mich zwar regelmäßig auf Stellenausschreibungen, glaube aber nicht mehr wirklich daran, dass aus all diesen Jobs tatsächlich etwas wird. Allerdings habe ich auch jegliche Angst vor einer Absage verloren.“ Stattdessen konzentriert er sich auf seine Doktorarbeit an der Universität Wien und das Schreiben eines Buches. Auf diese Weise könne er zur Not auch die Zeit bis zur Pension überbrücken, sagt der frühere Manager. Zusätzlich ist es eine Art Therapie für ihn: "Ich muss regelmäßig das Haus verlassen und mich unter Menschen begeben, sonst fängt meine Lebensqualität zu leiden an. Um das Buch vollenden zu können, brauche ich aber wieder Geld, und das wird mir in der derzeitigen Situation keiner geben.“ Doch ohne Financiers kein Zusatzverdienst, ohne zusätzliches Einkommen keine berufliche Perspektive: "So schließt sich der Kreis.“ Trotz dieser tristen Zukunftsperspektive strahlt der Betriebswirt dennoch einen Optimismus aus, der unter Arbeitslosen ungewöhnlich ist: "Ich bin kein depressiver Mensch.“ Nachsatz: "Mein Glück ist, dass ich in der Vergangenheit gut verdient habe und zurzeit keine neuen Anschaffungen mehr für Haus und Garten tätigen muss oder teure Hobbys habe.“

Kein Interesse über 50

Springnagel sucht bereits viel länger als zwölf Monate nach einem Job. Damit gehört er zur Gruppe der Langzeitarbeitslosen. Besonders gefährdet sind alle Arbeitslosen über 50 Jahre. Monat für Monat steigen die Quoten der älteren Arbeitssuchenden dramatisch an. "Unser Problem ist nicht die Arbeitslosigkeit an sich“, bestätigt AMS-Chef Kopf, "sondern die lange Dauer der Arbeitslosigkeit.“

Daran dürfte sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Nur sehr wenige Unternehmen sind bereit, ältere Arbeitnehmer einzustellen. Argumentiert wird das meist mit dem erhöhten Kündigungsschutz für über 50-Jährige - der nach Wunsch der Regierung bald Geschichte ist - und dem nahenden Pensionsalter.

Was bleibt, ist das intensive Gefühl, von der Gesellschaft nicht gewollt zu werden. Alexandra B. kennt es genau. Die Kärntnerin, die im Kreativbereich tätig war, ist genau 50 - und bereits seit vier Jahren auf Arbeitssuche. Bisher allerdings erfolglos: "Drei Monate vor meinem Fünfziger hieß es, ich solle mit den Gesprächen mit potenziellen Arbeitgebern warten - für Arbeitslose der Gruppe 50 plus gebe es spezielle Förderungen. Einen Tag nach meinem Geburtstag wurde mir dennoch überall gesagt, ich sei zu alt.“ Das AMS erwarte trotzdem zwei Jobgespräche pro Woche von ihr: "Dafür ziehe ich mittlerweile alle Register: Ich schicke massenweise Blindbewerbungen raus und treffe mich mit Leuten, von denen ich davor ewig nichts mehr gehört habe.“ Dennoch: Alexandra B., die ihren Namen nicht öffentlich machen will, hat wenig Hoffnung, dass sich ihre Arbeitssituation in den kommenden zehn Jahren auf irgendeine Art und Weise ändern wird: "Und dann bin ich in Pension und habe wieder nichts zu tun.“

»Der Großteil der Arbeitslosen zieht sich in sich selbst zurück, einige wenige hegen und pflegen aber ihren Grant und ihre Wut auf die Gesellschaft«

"Wir haben eben gelernt“, sagt auch Arbeitspsychologe Johann Beran, "dass wir nur dann etwas wert sind, wenn wir auch etwas leisten.“ Könne man diesen Anspruch nicht mehr erfüllen, begännen die Probleme. Wie sich dieses Dilemma nach außen hin äußert, hängt vom Charakter des Betroffenen ab: "Der Großteil der Arbeitslosen zieht sich in sich selbst zurück, einige wenige hegen und pflegen aber ihren Grant und ihre Wut auf die Gesellschaft.“ Diese Anzeichen können erst nach Monaten sichtbar werden oder auch schon am Tag der Arbeitslosmeldung: "Es wird sehr viel schneller passieren, wenn ich als Kind gelernt habe, dass ich etwas leisten muss, um die Liebe meiner Eltern zu bekommen“, erklärt der Experte.

Hat ein Arbeitsloser eine Familie zu versorgen, potenzieren sich auch die Schwierigkeiten. Beran sieht hier fast in jeder einzelnen Situation "einen massiven Anstieg an Spannung“: "Beim Menschen ist das nicht viel anders als bei Tieren: Es gibt das Kampf- oder eben das Fluchtverhalten.“ So würden sich die einen in den Alkohol flüchten, während andere sich auch von der eigenen Familie zurückzögen: "Diese Menschen fühlen sich in dieser Situation oft wie gelähmt und sind unfähig, Dinge auch nur anzugehen.“

Ein solcher Fall ist Martin R. Der 45-jährige Steirer, der sich bereits seit einem Jahr erfolglos bewirbt, sucht ebenfalls den Schutz der Anonymität, um über seine Probleme zu sprechen: "Es ist schlimm genug, dass ich nichts Adäquates finde. Aber seit ein paar Wochen fragen auch meine Kinder:, Papa, warum arbeitest du nicht?‘ Da bin ich oft einfach nur sprachlos.“ Dazu kommen finanzielle Einbußen. Das Arbeitslosengeld ist gerade einmal halb so hoch wie die Summe, die der Techniker jahrelang aufs Konto überwiesen bekommen hat: "Unser gesamtes Einnahmenmodell wackelt. Zum Glück sind die Kreditraten zurzeit niedrig, aber bei allen anderen Anschaffungen müssen wir aufs Geld schauen.“ Dabei geht es oft um ganz Alltägliches: "Es ist nicht lustig, wenn die Kinder ein Schnitzel essen wollen und du ihnen schlicht und einfach keines kaufen kannst. Geschweige denn, dass ein Restaurantbesuch drinnen wäre.“ Mit diesen Sorgen fühlt sich Martin R. oft allein gelassen. Seine einzige Hoffnung ist, dass das nächste Bewerbungsgespräch die ersehnte Wiedereingliederung - und den alten Lebensstandard - zurückbringt.

Davor muss Martin R. allerdings erst die Niederungen des Arbeitslosendaseins durchschreiten. Dazu zählen seiner Ansicht nach auch die Schulungen, in die das AMS seine Kunden regelmäßig schickt: "Schon nach zwei Monaten bin ich das erste Mal zu einem Bewerbungstraining geschickt worden. Das war vertane Zeit.“

Selbstzahler bei Kursen

So schlimm, dass Jobsuchende sich deswegen aber freiwillig vom Arbeitslosenbezug abmelden würden, seien diese Kurse aber schon lange nicht mehr, sagt Michael Sturm, Geschäftsführer des BFI Österreich, eines der großen Schulungsanbieter des Landes: "Das AMS hat hier - nicht zuletzt wegen vielfacher Kritik - Korrekturen vorgenommen und viele Aktivierungs- in Qualifizierungsmaßnahmen umgewandelt.“ Wenngleich, ergänzt Christian Faymann, Leiter des Bildungsmanagements bei Wifi Österreich, 40 Prozent seiner Kursteilnehmer die Schulungen mittlerweile selbst bezahlen. Das wäre auch eine Lösung für Martin R. Der Techniker würde sich, anstatt Zeit in Aktivierungsmaßnahmen abzusitzen, lieber fachspezifisch weiterbilden und hat seinem AMS-Betreuer entsprechende Kurse vorgeschlagen: "Da habe ich mir aber nur Absagen geholt.“ Aus dem Arbeitsmarktservice selbst hört man, dass individuelle Ausbildungen derzeit nur mit einer Bestätigung eines Unternehmens, dass es den Arbeitslosengeldbezieher mit diesem Kurs einstellt, genehmigt würden.

»Wir brauchen eine Struktur und Tätigkeiten, die Sinn machen«

Dabei sei Beschäftigung das Um und Auf, sagt Psychologe Beran: "Wir brauchen eine Struktur und Tätigkeiten, die Sinn machen.“ Er rät Arbeitslosen, sich schon während der Jobsuche eine zusätzliche Aufgabe zu suchen: "Das können Ehrenämter, zum Beispiel im Sozialbereich, sein: Alles, wo wir uns gebraucht, wichtig und integriert fühlen, hilft.“ Es sei auch nicht notwendig, gleich eine Psychotherapie zu buchen, "es reicht, wenn man jemanden findet, der einem einfach zuhört“. Und: "Nicht allein sein, das ist das Allerwichtigste.“

Luftgitarre spielen

Vor allem Arbeitssuchenden mit Familie rät Beran, sich zu bewegen. Simple Vorgänge könnten viel bewirken: "Rausgehen, einen kurzen Sprint machen, schattenboxen, Dosen werfen, Schnur springen, Luftgitarre spielen - einfach alles tun, was einen in einen kurzen explosiven Zustand versetzt.“ Allein 20 Minuten Bewegung im Freien reichen schon aus, um eine herannahende Depression zu bekämpfen: "Das funktioniert auch gut mit den Kindern: Sie merken, dass Bewegung guttut, und der Ausflug stärkt außerdem die Eltern-Kind-Beziehung.“

Dass emotionale Befindlichkeiten ein Problem sein können, weiß auch AMS-Chef Kopf. Es sei bekannt, dass Arbeitslose häufiger krank seien als Beschäftigte: "Was man nicht weiß, ist, ob die Krankheit die Ursache für die Arbeitslosigkeit ist oder ob Arbeitslosigkeit krank macht.“ Die beste Heilung sei ohnehin, wenn die Betroffenen möglichst bald wieder einen Job finden.

© Copyright 2017 Matt Observe - all rights reserved. News Observe Matt Dominik Leitner Journalist Der 28-Jährige sucht seit seinem Fachhochschulabschluss nach einer Anstellung bei einem etablierten Medium. Bis es so weit ist, will er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten und hofft weiter auf die Unterstützung seiner Eltern.

Das ist genau das, was Dominik Leitner anstrebt. Der 28-Jährige träumt seit seinem Fachhochschulabschluss von einem Job "als angestellter Journalist eines etablierten Mediums“. An welchem Ort sein Schreibtisch steht, ist ihm dabei egal. Allein, das passende Jobangebot ist bisher nicht hereingeschneit. Dem Wiener blieb nichts anderes übrig, als sich gleich nach Studienende arbeitslos zu melden: "Ich habe von 820 Euro im Monat gelebt - mein Arbeitslosengeldanspruch aus ein paar Studentenjobs, aufgefettet durch die Mindestsicherung.“ Nach sechs Monaten - als sein Anspruch abgelaufen war - stellte er einen Antrag auf Notstandshilfe, zog diesen jedoch im letzten Moment zurück und wagte stattdessen den Sprung in den Arbeitsmarkt. Eine 20-stündige Anstellung im Projektbereich finanziert seine Nebenjobs als freier Schreiber für verschiedene Publikationen: "Jetzt komme ich auf 1.000 Euro.“ Leider noch immer zu wenig: "Es ist kein schönes Gefühl, dass mich meine Eltern in meinem Alter noch finanzieren müssen.“ Auch ihm fehlt das Gefühl der Erleichterung, das sich mit einem Job einstellen sollte. Leitner arbeitet meist von zu Hause aus und empfindet diese Stunden nicht als richtige Arbeit: "Es hat eine andere Wertigkeit, wenn man das Haus verlässt, um ins Büro zu fahren und dort zu arbeiten.“ In Wahrheit fühle er sich "noch genauso“ wie an manchen Tagen seiner Arbeitslosenzeit, an denen er es nicht einmal schaffte, das Bett zu verlassen.

Auch um diese Emotionen in den Griff zu bekommen, hat sich Leitner ein klares Zeitlimit gesetzt: "In diesem Jahr sollte sich etwas Fixes ergeben.“ Wenn nicht im klassischen Journalismus, dann bei Verlagen oder im Marketing. Zumindest hofft der Berufsanfänger, dass sein Halbtagsjob im Projektbereich auf Vollzeit umgestellt wird. Das würde ihm neben einem höheren Einkommen eine weitere Option eröffnen: Nach 28 Wochen Berufstätigkeit hätte er wiederum Anspruch auf weitere 20 Wochen Arbeitslosengeld - und damit die Möglichkeit, von Neuem zu suchen.