Zufluchtsort Schule

Seit Mitte März gibt es keinen regulären Unterricht mehr. Kinder und Jugendliche sitzen zu Hause fest. Für viele verschärft das eine ohnehin schon schwierige familiäre Situation

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Corona - Zufluchtsort Schule

Die 13-jährige Lena hatte bereits vor der Krise Kontakt aufgenommen, weil ihre Eltern im Nebenzimmer gerade eine schlimme Auseinandersetzung hatten und sie sich Sorgen machte, dass die beiden sich trennen könnten", erzählt Andrea Holz-Dahrenstaedt, Leiterin der Kinder-und Jugendanwaltschaft (Kija) Salzburg. (Alle beschriebenen Fälle sind anonymisiert, Anm.) Die Streitanlässe häuften sich, im Februar beschlossen die Eltern, sich zu trennen. "Der Plan konnte dann aber aufgrund der Corona-Krise nicht umgesetzt werden die Eltern, die im Gastgewerbe beschäftigt waren, sind nun überdies arbeitslos und gemeinsam in der Wohnung eingesperrt. Seitdem eskalieren die Streitgespräche. Lena traut sich gar nicht mehr, ihr Zimmer zu verlassen, und hört mit Kopfhörern Musik, um die Auseinandersetzungen auszublenden und nicht mit hineingezogen zu werden."

Fälle wie dieser mehren sich, berichtet nicht nur Holz-Dahrenstaedt. Für Kinder und Jugendliche, die bereits bisher mit Problemen in der Familie zu kämpfen hatten, spitzt sich die bereits angespannte Situation nun teils dramatisch zu. Dabei geht es einerseits um das Thema Gewalt in der Familie. Aber nicht nur. Schwierig ist es zum Beispiel auch für Kinder, deren Mutter oder Vater an einer Suchterkrankung, einer psychischen oder physischen Krankheit leidet. Eine beengte Wohnsituation und finanzielle Sorgen wirken da wie ein Katalysator für Konflikte.

Einrichtungen, die sich um das Kindeswohl kümmern, verzeichnen derzeit verstärkte Kontaktaufnahmen. Die bekannteste Hotline in diesem Bereich, Rat auf Draht (147), führt derzeit 30 Prozent mehr Beratungen durch. Nicht immer geht es dabei um Gewalt oder physische beziehungsweise psychische Nöte. Oft ist das E-Learning schwierig zu bewerkstelligen und Schülerinnen und Schüler fragen bei Rat auf Draht an, wie sie besser mit der Situation zurechtkommen können.

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Die Kinder-und Jugendanwaltschaften spüren, dass es in Fällen, in denen es bereits seit geraumer Zeit schwelende Familienkonflikte gab, nun aufgrund der persönlichen Nähe ohne Rückzugsmöglichkeit zu einer Verschärfung kommt. "Sowohl Frequenz als auch Intensität der Auseinandersetzungen haben deutlich zugenommen", so Holz-Dahrenstaedt von der Kija Salzburg. Isolation in der Familie verschärfe dabei die Gefahr von familiärer Gewalt für Kinder - sei es, dass sie Zeugen werden oder dass sie direkt betroffen sind. "Waren wir in 'normalen Zeiten' schon weit entfernt von der gewaltfreien Erziehung, gerät in Zeiten von erhöhtem Stress der Eltern und Isolation der Familie dieses Ziel in weitere Ferne."

Österreichweit gibt es jährlich rund 38.000 eingeleitete Gefährdungsabklärungen, also Fälle, in denen die Kinder-und Jugendhilfe verständigt und daraufhin aktiv wird. Fast ein Viertel davon erfolgt in Wien -die letzten verfügbaren Zahlen stammen von 2018, damals gab es in der Bundeshauptstadt 10.497 solcher Gefährdungsmeldungen. Normalerweise komme rund ein Viertel dieser Meldungen aus Schulen und Kindergärten, ein weiteres Viertel von der Polizei. Auf die Hälfte möglicher Notlagen von Kindern machen Ärzte, Therapeuten, Freizeitbetreuer aufmerksam oder es gibt anonyme Anzeigen.

Andrea Friemel und Petra Schlösinger von der Kinder-und Jugendhilfe Wien sehen hier aktuell eine Verschiebung. In Summe sei die Anzahl der Gefährdungsmeldungen im Zeitraum vom 16. März bis Anfang April sogar um rund 40 Prozent zurückgegangen. Das habe wohl mit der Schließung von Schulen, Kindergärten und Freizeiteinrichtungen zu tun. Die Meldungen der Polizei haben sich im selben Zeitraum aber um rund 20 Prozent erhöht. Hier spielt wieder das Thema Gewalt in der Familie eine Rolle.

Sozialarbeit muss weitergehen

Ist man aktuell zu weit weg von den Familien? Friemel verneint. In Wien würden die Familien, die bisher schon betreut wurden, weiter unterstützt, wenn möglich telefonisch. Sei aber ein persönlicher Besuch nötig, werde auch das gemacht. Die Familienzentren seien derzeit geschlossen, so sei personell etwas umgeschichtet worden. Die von Bildungsminister Heinz Faßmann mit den Bildungsdirektionen vereinbarte noch stärkere Kooperation zwischen den Schulen und der Kinder-und Jugendhilfe sei bereits angelaufen. Schaffe es eine Schule nicht, ein Kind oder dessen Eltern zu erreichen, werden die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter der Kinder-und Jugendhilfe aktiv. Besonders bemühe man sich aktuell auch, die Situation von Babys und Kleinkindern im Blick zu behalten. "Da müssen wir nun einige Familien hochfrequent betreuen und die Kinder manches Mal auch medizinisch vorstellen."

An der Uniklinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie am AKH Wien nahm man bis zur dritten Woche der Schließung der Schulen "eine gewisse Schockstarre" wahr, berichtet Klinikleiter Paul Plener. "Kurz vor Beginn der Osterferien begann sich diese aber langsam zu lösen. Uns erreichen zunehmend Anrufe von verzweifelten Eltern und auch minderjährigen Patientinnen und Patienten, ebenso Anrufe aus Wohngruppen, in denen es zu Eskalationen kommt, die häufig auch der Isolationssituation geschuldet sind. Das führt nun auch zu einer Zunahme von Notfallvorstellungen und wir rechnen hier mit einer weiteren Zunahme, auf die wir uns vorbereitet haben."

Plener schildert, wozu die aktuelle Krisensituation führen kann: "Ein jugendliches Mädchen war aufgrund einer starken Zwangsstörung mit Kontaminationsängsten vor einem Jahr in tagesklinischer Behandlung. Die Situation hat sich deutlich gebessert, sie war wieder in der Lage, die Schule zu besuchen. Nun wieder starkes Auftreten von Kontaminationsängsten und Waschzwang, sie weigert sich, ihr Zimmer zu verlassen. Versuche telefonischer Kontaktaufnahmen werden abgelehnt."

»Das Ziel gewaltfreier Erziehung gerät wegen erhöhtem Stress der Eltern und der Isolation der Familie in weitere Ferne«

Nicht nur für Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen kann die Corona-Krise zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustands führen. Stark unter Druck kommen auch Kinder von Eltern, die physisch oder psychisch erkrankt sind. "Wir erleben da grundsätzlich das Phänomen der Parentifizierung", erklärt Plener. Das Kind schlüpfe in die Rolle des versorgenden Elternteils. Das könne sich derzeit verstärken und zur Überforderung führen. Für alle Kinder und Jugendlichen gelte derzeit: Durch die Begrenzung auf den familiären Rahmen fallen soziale Kontakte weg. Sonst kann man sich über Konflikte mit Freunden austauschen, die Stunden in der Schule schaffen Distanz von Problemen im Elternhaus. Seien Kinder und Jugendliche von Gewalt betroffen, könnten sie sich derzeit aber noch schwieriger der Situation entziehen, so Plener. Sie, aber auch Jugendliche mit Stimmungsproblemen seien nun besonders gefährdet. "Ich habe Sorge, dass für viele Jugendliche die momentane Situation in einem Rückzug und Kommunikationsverlust münden kann, der selbstverletzendes oder auch suizidales Verhalten begünstigt."

Zur aktuellen Corona-Situation in Österreich

Das beobachtet auch Holz-Dahrenstaedt. Sie berichtet von der 18-jährigen Sally, die schon vor der aktuellen Krise immer wieder mit der Mutter in Streit geriet. "Während der Ausgangssperre eskalierte die Lage zunehmend und es kam zu verletzenden Aussagen. Sally liebt ihre Mutter und sie würde gern besser mit ihr auskommen. Sie ist zugleich verletzt und traurig, bis hin zu Suizidgedanken. Andererseits gelingt es ihr aber auch nicht, die Auseinandersetzungen zu vermeiden, weil man sich dauernd auf engstem Weg begegnet."

Alle betreuenden Einrichtungen - aber auch Bildungs-, Familien-und Innenministerium - sind sich der schwierigen Situation bewusst. Die soziale Arbeit der Kinder-und Jugendhilfe in den Bundesländern wird daher noch stärker als schon bisher mit der Schulpsychologie und den Beratungslehrern an den Schulen verzahnt. Holz-Dahrenstaedt betont, wie wichtig es ist, die psychosozialen Dienste nun nicht zurückzufahren, wie dies derzeit in manchen Bundesländern zugunsten der Gesundheitsversorgung passiere. "Auch sie sind systemerhaltend wie die ärztliche Versorgung." Zudem sollten sie gerade derzeit proaktiv agieren und nicht nur warten, bis etwas gemeldet wird.

Friemel sagt dazu, dass in Wien genau das bereits gemacht werde. Plener betont, dass alle Kliniken für Kinder-und Jugendpsychiatrie in Österreich 24 Stunden am Tag eine offene Anlaufstelle sind. Für Kinder und Jugendliche, die nicht mehr weiterwissen, ist das Wählen von 147 - Rat auf Draht -die niederschwelligste Lösung.

Wer nicht telefonieren kann, weil die Eltern in Hörweite sind, für den gibt es hier auch die Möglichkeit, schriftlich zu chatten und sich so Unterstützung in einer schwierigen Situation zu holen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr.16/20

Kommentare

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Dann sollens keine Kinder anschaffen, wenn sie nicht fähig sind, diese zu erziehen! Immer in die Schule abschieben und auf nichts verzichten wollen! Immer das gleiche Dilemma!Nichts als Ausreden und sinnloses dummes Geschwätz!!

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