Albtraum Triage: Entscheidung über Leben und Tod

Barbara Friesenecker ist Intensivmedizinerin und Anästhesistin an der Universitätsklinik Innsbruck. Nun erzählt sie, wie es ist, wenn Ärztinnen und Ärzte an Österreichs Covid-überfüllten Intensivstationen über Leben und Tod entscheiden müssen. Medizinisch ist das unumgänglich - aber ethisch höchst alarmierend.

von
THEMEN:
Albtraum Triage: Entscheidung über Leben und Tod © Bild: iStockphoto.com
Geboren am 23. Oktober 1961 in München, ist Barbara Friesenecker österreichische Staatsbürgerin. Sie promovierte 1991 zur Doktorin der Medizin und ist seit 2001 Oberärztin und stellvertretende Leiterin an der Intensivstation der Universitätsklinik für Anästhesie und Intensivmedizin in Innsbruck. Friesenecker ist Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin, kurz ÖGARI.

Frau Professor Friesenecker, eigentlich geht es in der Medizin darum, nach Möglichkeit zu heilen und Leben zu retten. Nun sollen Sie plötzlich über Leben und Tod entscheiden. Wie geht es Ihnen mit diesem Paradigmenwechsel?
Alles andere als gut, das können Sie mir glauben. Lassen Sie mich zunächst aber nur eines festhalten, was mir ganz wichtig ist. Man muss erkennen -und das wurde bisher zu wenig gelehrt -, dass man nicht alle Menschen heilen kann. Diese Menschen muss man in Würde sterben lassen, das Sterben zulassen und sie dabei begleiten, egal, wie lange es dauert. Wir müssen in der Intensivmedizin regelmäßig entscheiden: Nehmen wir eine Patientin überhaupt noch auf der Intensivstation auf, macht das, was wir technisch anbieten können, überhaupt noch Sinn? Die Sterbesituation zuzulassen und gut zu begleiten, war schon immer unser Job - vielleicht nicht von allen als solche erkannt. Aber jetzt kommt da eine komplett andere Sterbesituation auf uns zu.

Und zwar die Triage.
In der Triagesituation treffen wir eine Entscheidung unter Zeitdruck zu einem Zeitpunkt, zu dem wir nicht genügend Informationen haben -und das Ganze dann auch noch unter Ressourcenknappheit. Das heißt: Ich kann nicht mehr jeden Patienten wie unter normalen Bedingungen versorgen, sondern muss entscheiden, wer die knappe Ressource bekommt. Und Patienten, die diese Ressource sonst auch bekommen hätten, werden sie nun, weil sie eine schlechtere Überlebenschance als andere haben, nicht oder nur in schlechterer Qualität bekommen -und mit großer Wahrscheinlichkeit sterben.

Wie kann man sich das im klinischen Alltag vorstellen?
Jetzt ist es bereits so, dass wir sogenannte elektive Operationen - das heißt, OPs, für die vordergründig kein großer Zeitdruck besteht - wegen der Triagesituation absagen. Das klingt jetzt recht harmlos, ist es aber definitiv nicht: Denn darunter fällt beispielsweise auch der Koronariker, also der Herzpatient, der immer wieder starke Herzschmerzen hat, der Nitrospray nimmt, der unter Medikamenten steht, der irgendwie noch so leben kann. Der kommt auf die Station, hätte eigentlich morgen seinen OP-Termin, der wird aber verschoben. Der Patient liegt dann auf der Beobachtungsstation, wird dort zwar überwacht, bekommt dann doch einen Herzinfarkt - und stirbt. Wenn er planmäßig operiert worden wäre, wäre er wahrscheinlich nicht gestorben.

© Ricardo Herrgott Die tiefliegenden Nebel lichten sich - und langsam wird klar, was nun im Rahmen der Triage auf Medizinerinnen wie Barbara Friesenecker zukommt

Und das ist derzeit der Alltag in unseren Krankenhäusern?
Eine Kollegin in einem anderen Krankenhaus etwa hatte erst kürzlich genau so einen Fall: Die Herzpatientin war gerade einmal 57, als sie verstarb.

Eine Patientin, die im Grunde noch leben könnte?
Ja, genau. Und was man auch noch sagen muss: Unter Triagebedingungen wird die Versorgung für alle schlechter. Wenn wir wegen Covid und der hohen Anzahl an Covid-Patienten triagieren, bedeutet das schlechtere Medizin für alle. Ich nenne unseren momentanen Zustand "Triage light". Das ist der Zustand, in dem wir bereits eine Spur kritischer hinschauen müssen, und zwar nach dem Motto: "Der ist so schlecht beinander, da werden wir vielleicht keine Intensivtherapie mehr machen, da es andere gibt, die ein bessere Chance haben." Auch wenn wir es sonst wahrscheinlich doch noch versucht hätten. Üblicherweise haben wir dieses Problem in unserem Gesundheitssystem nicht, und wir können alle mit allem versorgen, was notwendig ist.

"Triage light" klingt für den Laien ein wenig zynisch -ist das denn auch Selbstschutz?
Ja, schon. Denn vergessen Sie eines nicht: Eine Operation ist immer indiziert, sonst würde man sie ja gar nicht erst anberaumen. Aber nehmen wir etwa eine Chemotherapie her oder eine Tumoroperation: Ein Tumor kann unter Umständen in drei, vier Wochen progressiv weiterwachsen, Metastasen bilden - und der Patient hat dann eine wesentlich schlechtere Prognose, nur weil seine Operation verschoben werden musste. Auch das passiert derzeit.

Momentan wird an unseren Spitälern also unnötigerweise gestorben?
Wenn Sie es ganz hart formulieren wollen: Ja. Es wir vermehrt gestorben, weil die Ressourcen nicht ausreichend vorhanden sind. Und bevor die Covid-Kurven hinuntergehen, werden sie noch knapper werden, da bin ich mir ziemlich sicher.

Wie groß ist denn die Verunsicherung in der Ärzteschaft, die Angst vor dem, was sich da gerade aufbaut?
Die Ärzteteams sind wie die Pflegerinnen und Pfleger erschöpft, das Ganze ist körperlich und emotional anstrengend. Dazu kommt dann noch die Angst davor, in eine wirklich schwere Triagesituation zu kommen: in eine Situation, wo ich zehn Patienten vor mir liegen habe, alle sind quietschblau, jeder bräuchte eigentlich einen Beatmungsschlauch, weil er sonst stirbt, jeder bräuchte ein Intensivbett - und ich habe genau ein Bett, ein Beatmungsgerät, eine Herz-Lungen-Maschine.

»Hart formuliert: In den Spitälern wird unnötig gestorben«

Was macht man denn in so einer Situation?
Wir müssen jetzt alle erfahrenen Ärzte und Pflegepersonen in jene Bereiche bringen, wo die Erstansicht des Patienten und letztendlich primär die Triage stattfindet, also in die Ambulanzen, die Schockräume. Zudem haben wir in der ÖGARI, der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin, eine Checkliste (siehe Kasten rechts) zusammengestellt, um auch unter Triagebedingungen noch möglichst gute und nachvollziehbare Entscheidungen zu treffen.

"Gute Entscheidung" ist in so einem Fall doch ziemlich relativ, oder?
Sie kann gut sein, sie kann unter Umständen nicht so gut sein - weil sie unter Zeitdruck und Informationsmangel getroffen werden muss.

Was macht das mit einem?
Das macht einen seelisch fertig, man ist unzufrieden und unglücklich. Man denkt sich: Jetzt habe ich vielleicht jemanden zum Sterben geschickt, der wahrscheinlich eine Chance gehabt hätte. Und danach kann es dann schon durchaus sein, dass Angehörige kommen und sagen: "Hätten Sie den Opa behandelt, dann hätte er überlebt, ich verklage Sie wegen unterlassener Hilfeleistung." Deswegen auch die Checkliste, so kann ich wenigstens dokumentieren, dass ich mir sehr wohl Gedanken gemacht habe. Aber die Ungeheuerlichkeit besteht im Grunde darin, dass uns die Politik und die Nicht-Geimpften überhaupt in so eine Lage versetzen.

Wieso muss Triage, wie sie vorher erwähnten, unter Informationsmangel betrieben werden?
Weil der Patient unter Umständen so schlecht beisammen ist, dass man ihn selbst nicht mehr befragen kann - nach Vorerkrankungen, nach Medikamenten, die er einnimmt, nach seinen Wünschen und Wertvorstellungen im Falle einer Verschlechterung seines Zustandes. In der momentanen Corona- Situation bekomme ich als Informanten nämlich meist nicht einmal die Angehörigen zu Gesicht, weil die oft ja gar nicht ins Krankenhaus dürfen. Mit einem Schwerkranken, der vor mir liegt, keine Luft bekommt und nur noch keucht, kann ich kein vernünftiges Gespräch führen. Ich bekomme von ihm also nicht die Information, die ich für eine fundierte Entscheidung eigentlich bräuchte und normalerweise auch habe.

Im Grunde sind Ihre Checklisten also ein Versuch, untragbare, unzumutbare Entscheidungen doch irgendwie möglich zu machen?
Genau. Das sind keine ethisch ausdifferenzierten Kriterien, sondern Kriterien, die ich heranziehen muss, um zumindest irgendeine Form von Orientierungshilfe im Stress und unter Zeitdruck zu haben. Die Lotterie ist übrigens auch eines dieser ethischen Notverfahren nämlich wenn ich keine Anhaltspunkte dafür habe, wer die bessere Prognose hat.

© Ricardo Herrgott

Das heißt, die Ultima ratio in Ihrem Job ist momentan das Zufallsprinzip?
Momentan noch nicht, mit Betonung auf noch. Aber wenn die schwere Triage kommt, werden die Entscheidungen immer weniger fundiert.

Spielen wir folgende Situation durch: Sie haben auf der einen Seite einen Covid-Patienten mit gröbsten Atemnot-Problemen, den Sie nicht befragen können - und andererseits einen Herzpatienten, dessen Krankengeschichte Sie vergleichsweise gut kennen ...
Triage bedeutet, dass immer der Patient mit der höchsten Überlebenswahrscheinklichkeit die Ressource - Intensivbett, Beatmung, Herz-Lungen-Maschine - bekommt. Und im Grunde ist es gleichgültig, ob der ein Covid-Patient ist, ob der geimpft ist oder nicht oder ein ganz anderer Patient. Immer muss ich versuchen, einzuschätzen: Wie krank ist der eine, wie krank der andere? Und wenn ich weiß, dass es sich um einen ungeimpften Covid-Patienten handelt, so weiß ich auch: Er hat wahrscheinlich ein schlechteres Outcome und eine sehr große Wahrscheinlichkeit für einen sehr schweren Verlauf.

Und wenn sich beide in sehr, sehr ähnlichem Zustand befinden?
Bei gleichem zu erwarteten Outcome - gleiche Risikofaktoren, ähnliche physiologische Situation, ähnliche Blutwerte - würde ich mich für den entscheiden, der versucht hat, sich selbst zu schützen und seinen Solidarbeitrag für unser Gesundheitssystem geleistet hat. Ich glaube, in der Triagesituation wäre das fair.

Aber doch auch unmenschlich - nicht zuletzt für jenen oder jene, der diese Entscheidung zu treffen hat?
Und genau diese Erwartung ist es, die uns derzeit unter ganz besonders großen emotionalen Stress setzt: Ich muss aufgrund der Wahrscheinlichkeit und aufgrund meiner Erfahrung - wirkt die oder der für mich schon eher sterbend? - eine subjektive Entscheidung treffen: Der wird wahrscheinlich sterben, und der kriegt das Intensivbett. Und unter diesen Bedingungen zu arbeiten, ist eine absolute Zumutung. Man weiß, dass Ärzte und Pflegepersonen, die schon so arbeiten mussten, ins Burn-out gehen und oft schwere psychische Probleme bekommen. Viele brauchen danach psychologische Betreuung, denn mit derart weitreichenden Entscheidungen musst man erst einmal leben.

Woher wissen Sie das?
Das ergaben Untersuchungen aus Italien, wo ja triagiert wurde. Dort wurde im Rahmen der massiven Überlastung aufgrund der plötzlichen großen Zahl an Schwerstkranken schlussendlich allein nach dem Alter triagiert und die Altersgrenze auf 60 Jahre runtergeschraubt - aber das Alter alleine ist in der Medizin immer ein schlechtes Entscheidungskriterium. Wenn ein Patient dunkelblau wird und schwere Atemnot hat, und Sie intubieren ihn nicht, geben keinen Sauerstoff und führen keine begleitende Intensivtherapie durch, dann ist dieser Mensch in wenigen Minuten tot, egal, wie alt er ist. Und dann haben Sie Ihre Ambulanz voll mit vielen Menschen in ähnlichem Zustand - wie entscheiden Sie?

»Ich bin 60 - in Bergamo wäre ich 'aussortiert' worden«

Sagen Sie es mir.
Es bleibt im Maximalstress irgendwann nur mehr das Alter. Ich bin soeben 60 geworden, ich wäre in Bergamo "aussortiert" worden zum Sterben. Man muss sich als Arzt, der keinerlei Zusatzinformationen hat, so weiterhanteln: Je älter jemand ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für Komorbiditäten, also für eine oder mehrere Begleiterkrankungen, die zur Grunderkrankung dazukommen. Desto größer ist statistisch gesehen auch die Wahrscheinlichkeit, dass er gebrechlich ist. Und je gebrechlicher jemand ist, desto weniger hält er schwerwiegende medizinische Behandlungen aus.

Aussortiert? Allein schon das Wort ist semantisch schwerst belastet.
Da gebe ich Ihnen absolut Recht. Und das ist, was die Ärztinnen und Ärzte derzeit so fertig macht - nämlich, dass sie dann keine Lege-artis-Medizin mehr betreiben können.

Im Grunde ist es doch eine zutiefst faschistische Entscheidung zu sagen, der Alte ist weniger wert als der Junge.
Richtig, und das darf man unter normalen Umständen auch auf wirklich gar keinen Fall. Es steht sogar in unserer Verfassung, dass eine Diskriminierung wegen des Alters verboten ist. Ja, unter hohem Triagedruck macht man immer schlechtere Medizin - dennoch muss man in so einer Situation im Extremfall Entscheidungen treffen, sonst wären alle tot.

Dass Triage in unserem vergleichsweise opulent ausgestatteten Gesundheitssystem überhaupt zum Thema wurde - erfüllt Sie das mit Ärger?
Es gibt Menschen, die haben sich impfen lassen, um für sich selbst einen besseren Schutz zu erzielen und solidarisch ein Gesundheitssystem aufrecht zu erhalten, in dem im Normalfall gottlob jeder bis hin zum Nichtversicherten alles bekommt, was notwendig ist und hilft. Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch, der in diesem Solidarsystem sehr abgesichert lebt, auch einen gewissen Solidarbeitrag leisten muss. Die Impfpflicht hätte sinnvollerweise schon viel früher kommen müssen, dann wären unsere Intensivstationen jetzt nicht so überlastet. Die jetzige Welle war absolut vorhersehbar, deswegen fühlen wir uns von der Politik auch komplett im Stich gelassen. Leute, die sich oft nur oberflächlich mit der Thematik beschäftigten, wurden nicht vernünftig und adäquat aufgeklärt, stattdessen wurde auf politisch opportune Heilsversprechungen gesetzt. Nun ist Wut keine medizinische Kategorie, aber als Privatmensch sage ich Ihnen: Das macht mich manchmal ziemlich, ziemlich wütend. Und sprachlos.

Das heißt, es wurde abgewägt: Menschenleben oder Wählerstimmen - was ist wichtiger?
Ja, das glaube ich schon. Und jetzt muss man auf Kosten der Gesellschaft, der Ärzteschaft und der Pflegekräfte das Feuer löschen.

Dieses Interview erschien ursprünglich im News 47/2021.