Wiener Gurgeltests: Ein Auftrag nach Maß?

Während der Sinn von Corona-Massentests auf dem Prüfstand steht, schließt Wien einen neuen Rahmenvertrag mit einem Großlabor. Das Volumen: 1,4 Milliarden Euro. Der Ausschreibungstext liest sich, als könne die Anforderungen des Rathauses nur ein einziger Bieter erfüllen: Lifebrain.

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Corona - Wiener Gurgeltests: Ein Auftrag nach Maß? © Bild: News/Matt Observe

Wiens Stadtregierung hatte in den vergangenen Tagen viel zu tun. Neben Vorbereitungen auf mögliche Auswirkungen des Krieges in der Ukraine ging es darum, die pandemischen Kronjuwelen gegen Angriffe von außen zu verteidigen: das PCR-Massentest-Programm "Alles gurgelt". Ein Programm, das nirgendwo sonst derart intensiv vollzogen wird, täglich mehrere Millionen Euro kostet und das letztendlich vom Bund bezahlt wird. Zumindest noch bis Ende März.

Die vorliegende Recherche zeigt einen möglichen Grund dafür, warum die politischen Hauptproponenten des Programms, Bürgermeister Michael Ludwig und Gesundheitsstadtrat Peter Hacker, "Alles gurgelt" mit Zähnen und Klauen verteidigen: Abseits der Scheinwerfer der Öffentlichkeit nahm Wien den bisher über eine Rahmenvereinbarung des Bundes abgewickelten Großauftrag selbst in die Hand und schrieb die Dienstleistung neu aus. Anfang Februar, als die Dashboards im Tagesrhythmus neue Infektionsrekorde vermeldeten, die Kapazitäten der Spitäler jedoch bei Weitem nicht erschöpft waren, fiel die Entscheidung: Der bisherige Projektpartner und Generalunternehmer Lifebrain soll Wien auch die nächsten zwei bis vier Jahre mit Gurgelsets, der dazugehörigen Logistik und Laboranalysen von Corona-PCR-Tests versorgen. Gesamtwert der Beschaffung: 1.400.000.000,00 Euro.

60 Prozent der PCR-Tests in Wien

Bemerkenswert an der Zuschlagsentscheidung ist nicht nur das Ausmaß, das in etwa den Testkosten für ganz Österreich im Jahr 2021 entspricht. Liest man die Vertragsbedingungen der Ausschreibung und vergleicht diese mit vorangegangenen Vergaben des Bundes, dann fällt auf: Die festgeschriebenen Eignungskriterien scheint einzig und allein der bisherige Partner Lifebrain erfüllen zu können. Ist auch das Teil des "Wiener Wegs", den die Hauptstadtregierung stets gegenüber allen anderen Methoden des Pandemiemanagements hervorgestrichen hatte?

Bisher war es stets so, dass das Wiener Programm für verdachtslose Massentestungen auf Corona-Infektionen aus Rahmenvereinbarungen abgerufen wurde, die die Bundesbeschaffung GmbH in den vergangenen Pandemiejahren abgeschlossen hatte. Und dies - im Gegensatz zu anderen Bundesländern und praktisch allen Ländern Europas - reichlich. Etwa 50 von bisher 160 Millionen in Österreich ausgewerteten Corona-Tests sind in Wien dokumentiert. Bei PCR-Tests ist der Überhang noch deutlicher: Hier sind es 43 von 72 Millionen (Stand: 1. März). Zwar fordert der Bund die Durchführung dieser Tests grundsätzlich von den Ländern ein, das Ausmaß, mit dem Wien dieses Projekt vorangetrieben hat, sucht weltweit jedoch seinesgleichen. Bis heute vertritt die Stadtregierung den Standpunkt, dass "Alles gurgelt" international vorbildlich sei.

Wien versteht den Bund nicht mehr

Erst Anfang März steht dazu Gesundheitsstadtrat Peter Hacker am Rednerpult im Wiener Gemeinderat. Es ist 9.30 Uhr, als er hinter dem Plexiglasschutz die rote Maske abnimmt, das Smartphone auf "lautlos" stellt und beginnt, die Massentests gegen Kritiker zu verteidigen. Etwa in Richtung Bundesregierung, die die Abgeltung mit Ende März einstellen will. Hacker sagt, "so ein Instrument wegbröckeln zu lassen, während uns die halbe Welt darum beneidet, ist mir nicht nachvollziehbar".

»So ein Instrument wegbröckeln zu lassen, ist mir nicht nachvollziehbar«

Und Hacker sagt auch, dass die Massentests der Grund dafür gewesen seien, dass während der Infektionswelle mit der Delta-Variante in Wien deutlich weniger Menschen an Covid verstarben als im Rest von Österreich. Gegenüber den Abgeordneten spricht er sogar den neuen Rahmenvertrag an. Weil der des Bundes schlecht sei und deshalb zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten geführt habe, habe man die Ausschreibung nun selbst durchgeführt. "Sehr erfolgreich", wie er feststellt. Auch andere Bundesländer hätten dies versucht, nur hätten sich dort keine Bieter gefunden. "Nur wir waren in der Lage, einen Zuschlag zu erteilen." Zum Auftragsvolumen und zum Ausschreibungstext sagt Hacker nichts. Und er sagt auch nicht, dass man die Corona-Dashboard-Daten auch zu Ungunsten des Wiener Testregimes lesen kann. Das Fazit könnte nämlich ebenfalls lauten: außer Spesen nichts gewesen.

Die Gegenrechnung

Vergleicht man nämlich den fundamentalsten aller Werte, die Zahl der Todesopfer pro Bundesland und 100.000 Einwohner, dann bleibt - gerechnet seit Beginn der Pandemie - vom "Erfolg" wenig übrig. 159 Covid-Tote pro 100.000 Einwohner liegen nur geringfügig unter dem Bundesschnitt (166). Länder wie Vorarlberg (122) oder das häufig kritisierte Tirol (115) unterbieten den Wiener Wert trotz erheblich geringerer Testdichte sogar deutlich. Am anderen Ende der Skala liegen mit den höchsten Todesraten übrigens Kärnten (208) und die Steiermark (211).

Legt man es weniger drastisch an und analysiert statt der Todesopfer nur die amtlich durchgemachten Infektionen, dann zeigt sich erneut das gleiche Bild. Das viele Testen hatte ganz offenbar wenig Einfluss auf die Zahl der Genesenen pro 100.000 Einwohner. In Wien liegt dieser Wert bei 25.187. Niederösterreich (24.129), die Steiermark (23.513) und das Burgenland (19.148) liegen trotz erheblich weniger Tests weit unter den Wiener Zahlen.

Alle hier ausgewiesenen Werte wurden von News mit Stichtag 1.3.2022 auf Basis offizieller Daten von Gesundheitsministerium, AGES und Statistik Austria berechnet.

Welchen Nutzen haben Massentests? Kein anderes Bundesland hat mehr Corona-Tests durchgeführt als Wien. Dennoch: Weder Todes- noch Genesenenzahlen deuten darauf hin, dass Wien besonders gut (oder schlecht) durch die Pandemie gekommen wäre.

Trotzdem lobte Wiens Bürgermeister Michael Ludwig zuletzt in einem ausführlichen Interview im ORF-Fernsehen "sein" System. Er argumentierte, dass er eigentlich nur mache, was ihm der Bund vorschreibe. Und dass man nur so, nämlich mit verdachtslosen Massentests, frühzeitig "infizierte Personen aus der Infektionskette herausnehmen kann".

Was der Bürgermeister nicht sagt

Beide Aussagen Ludwigs sind jedoch unscharf. Ja, der Bund hat die Aufgabe des Screenings der Bevölkerung an die Bundesländer delegiert, das Ausmaß jedoch nicht vorgeschrieben. Und dass Wien wegen seines Testprogramms gegenüber den Bundesländern insgesamt besser dastehe, das bestätigen die Gesamtzahlen ebenfalls nicht.

© News/Matt Observe/Bildmontage GOLD IN RÖHRCHEN. Corona-Tests sind in Österreich von der Politik gefragt. Die Kosten übersteigen die der Impfung um ein Vielfaches. Das ist international einzigartig

Dennoch plante Wien im Hintergrund und über den Jahreswechsel, das Programm fortzusetzen und erheblich auszubauen. Dazu schrieb die Magistratsabteilung 15, der Gesundheitsdienst, die erwähnte Rahmenvereinbarung im Wert von 1,4 Milliarden Euro aus. Und verlangte erstaunliche Voraussetzungen. Die Details dazu stehen in den Musterverträgen.

Röhrchen macht den Unterschied

In ihnen ist beispielsweise recht genau festgeschrieben, wie die verwendeten Testkits auszusehen haben. Zum Beispiel steht da unter Punkt 5.1.1: "Die Testkits haben ein Gurgelset bestehend mindestens aus Gurgellösung, Transferröhrchen und Probenröhrchen zu enthalten." Das klingt harmlos, schließt jedoch ganz automatisch schon einige potenzielle Mitbieter aus. Zum Beispiel das Salzburger Großlabor Novogenia, das Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und Vorarlberg versorgt. Oder die Covid-Fighters aus Niederösterreich, die bis zum Auffliegen eines Vergabefehlers Österreichs Schulen mit Gurgeltests versorgten. Beide Anbieter haben nämlich gar kein "Transferföhren" im Set. Anstatt des Strohhalms sind ihre Probenröhrchen an der Öffnung geweitet, Nutzer spucken die Gurgellösung direkt aus dem Mund ins Gefäß.

Alles Zufall?

Tatsächlich beinhaltet jedoch auch das Testset des Zentrums für molekulare Diagnostik sogenannte Transferröhrchen. Das Set wird in einigen Ländern und Schulen, etwa im Burgenland, in der Steiermark und in Kärnten, eingesetzt. Allerdings ist man nicht Projektpartner des Wiener Großlabors Lifebrain, das in Sachen Logistik einen Partner hat, der als einziger die genau formulierten Anforderungen der Stadt Wien erfüllen kann. Genau damit lässt sich nun durch Recherche rekonstruieren, wer offensichtlich ins Anforderungsprofil des Rathauses passen sollte.

Definiert wird das in den Verträgen über die Zahl der Ausgabe- und Abgabepunkte der Testkits. Vom Vertragspartner ist gefordert: "Zur bestmöglichen Abdeckung (...) sind mindestens 150 Ausgabestationen und 600 Abgabestationen sowie an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen mindestens 50 Abgabestationen flächendeckend in ganz Wien bereitzustellen."

Dazu muss man wissen: Für Aus- und Abgabe der Tests hat Lifebrain die Handelskette Rewe mit im Boot. Ist es Zufall, dass die Drogeriekette Bipa, über die die Ausgabe erfolgt, in Wien laut Telefonbuch 152 Filialen betreibt? Also nur um zwei mehr als gefordert. Und ist es ein weiterer Zufall, dass als Abgabestationen 625 Rewe-Filialen (Bipa, Billa, Billa plus und Penny) nutzbar sind? 65 davon übrigens als Tankstellenshops, die auch an Sonn- und Feiertagen geöffnet haben und damit die Erfordernis der Wochenendabgabestellen ebenfalls fast punktgenau erfüllen. War der Auftrag auf einen Wunschkandidaten hingeschrieben?

"Nein, dies wäre rechtswidrig", schreibt dazu das Büro des für die MA 15 zuständigen Gesundheitsstadtrats Peter Hacker. Vielmehr hätte man, um potenzielle weitere Bieter ins Boot zu holen, die Ausschreibungsfrist sogar noch verlängert.

Rathaus verteidigt sich

Warum aber waren die Anforderungen an die Zahl der Aus- und Abgabestellen nahezu ident mit dem Filialnetz des aktuellen Lifebrian-Subunternehmers Rewe? "Für die Stadt Wien war es wichtig, ein zumindest gleichwertiges System zum Bestehenden zu bekommen", heißt es. Zudem hätte es auch keine Einsprüche von vermeintlich benachteiligten Mitbewerbern gegeben.

Der, der den Zuschlag erhielt, betrachtet das Verfahren aus anderer Perspektive. Michael Havel hat in den vergangenen Monaten Politiker und Journalisten aus dem In- und Ausland durch jenes Großlabor geführt, dem er als Geschäftsführer vorsteht. Der gelernte Herzchirurg sagt, dass es einer der Vorteile des Alters sei, alles, wirklich alles frei heraus sagen zu können.

Zwischen den Fronten

Tatsächlich scheint der 67-Jährige keiner zu sein, der lange um den heißen Brei redet. "Die Neuausschreibung", sagt er, "war Sache der Gemeinde Wien. Lifebrain war Bieter und hatte nichts damit zu tun." Und er äußert sich auch dazu, warum "sein" Projekt nun bei einigen Leuten ins Zentrum der Kritik rückte. "Die ganze Sache ist zu einem Match zwischen schwarzen Landeshauptleuten und dem sozialdemokratischen Wien geworden", glaubt er.

»Die Sache ist zu einem Match zwischen den Ländern und Wien geworden«

In Havels Beobachtung liegt zweifellos Wahrheit. Während die Testsysteme in den Ländern bis zuletzt viel Sand im Getriebe hatten, funktionierte das Wiener Angebot für die Bevölkerung wie am Schnürchen. Und noch etwas anderes wurmte die ÖVP-Landeshauptleute: Michael Ludwig hatte es geschafft, den finanziellen Test-Freibrief des Bundes politisch für sich selbst zu nutzen. Umfragen zeigten ihn zuletzt bei 47 Prozent. In den Ländern gelang dieses Kunststück nicht.

Die nächste Welle kommt bestimmt

Auch wenn durch die neue Rahmenvereinbarung noch keine unmittelbare Pflicht zu Leistungsabrufen entsteht: Dieses äußerst vorteilhafte System will sich Wiens SPÖ nicht so einfach wegnehmen lassen. Unter diesem Aspekt muss man Maßnahmen verstehen, die zuletzt für ein Beibehalten der "Gratis"-Tests warben. Via Twitter argumentierten die Sozialdemokraten der Hauptstadt, dass nur Massentests jene 1.200 Arbeitsplätze sichern würden, die durch das Programm erst entstanden. Der Bürgermeister wiederholte das Argument via Medien, und Lifebrain-Chef Havel unterstützte den Rückzugskampf mit einer Inseratenkampagne. Slogan: "Alles gurrrgelt! Das Erfolgsprogramm aus Wien, um das uns die ganze Welt beneidet."

Mit dem Ende der Gratistests Ende März wird es auch bei Lifebrian ruhiger werden. Die Verträge für die nächste Welle sind aber schon unterschrieben.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 09/2022.