Jetzt spricht die
Corona-Kronzeugin

Tote und jede Menge Infizierte: Der Umgang mit Corona in einem steirischen Altersheim wird zum Kriminalfall. Nun spricht erstmals jene Bewohnerin, die die Ermittlungen ins Rollen brachte.

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Corona-Kronzeugin © Bild: Ricardo Herrgott

Seit am 16. März das Maßnahmengesetz zur Bekämpfung von Covid-19 in Kraft trat, sind Österreichs Alten-und Pflegeheime geschlossene Anstalten. Wie geht es den dort untergebrachten Hochrisikogruppen?

Gegen zwei Tiroler Einrichtungen wird ermittelt, nun rückt auch ein steirisches Haus in den Fokus: Anwältin Karin Prutsch erstattete Anzeige, die Staatsanwaltschaft Graz bestätigte, dass die Kriminalpolizei wegen des Verdachts der grob fahrlässigen Tötung und der vorsätzlichen Gemeingefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten ermittle: Konkret soll das Pflegepersonal bis zum 4. April ohne Schutzausrüstung gearbeitet haben. "Wir weisen diesen Vorwurf entschieden zurück", teilt die Heimleitung mit. "Wir sind in ständigen Austausch mit den Behörden, Ärzten und unserer Hygienefachkraft."

Die aktuellen Entwicklungen zur Corona-Krise in Österreich

Zwölf Menschen sollen laut Anzeige seit Auftreten der Corona-Krise im Heim verstorben sein, sechs von ihnen seien zuvor Covid-positiv getestet worden, 39 weitere Personen seien mit Stand Mitte April mit dem Virus infiziert. "Wir bitten um Verständnis, dass wir aus Datenschutzgründen keine Angaben zu Krankheiten und Todesursachen unserer Bewohner machen", so die Leitung.

Nun konnte News mit jener Heimbewohnerin sprechen, deren Beobachtungen die Ermittlungen auslösten -und die somit zu Österreichs erster Corona-Kronzeugin wurde. Ihr Name wurde aus Datenschutzgründen geändert.

Gerda, worum geht es Ihnen hier eigentlich: um Schuld und Bestrafung?
Nein, nein, es geht mir darum, dass endlich aufgeräumt wird. Es gab hier von oben herab keine Kontrolle, und da ich selbst jahrelang Pflegerin war, weiß ich: Ohne Kontrolle funktioniert in der Pflege gar nichts. Ich möchte für jene reden, die nicht mehr reden können - oder es nicht dürfen, verstehen Sie? Wenn etwas nicht passt, muss man aufstehen und sagen: Das ist jetzt nicht mehr in Ordnung, da gehört was geändert! Und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Viele haben sich schon bei mir bedankt, einer hat sogar den Hut vor mir gezogen. Weil ich einfach nicht will, dass hier was totgeschwiegen wird.

Totgeschwiegen - was denn konkret?
Hier herrschte ein Durcheinander, das reinste Chaos - keiner hat gewusst, was er tun soll, weder bei der Essensaufteilung noch bei der Pflege. Das alles war die reinste Katastrophe! Alle sind planlos herum gerannt und waren überhaupt nicht koordiniert.

Erzählen Sie bitte der Reihe nach
Seit dem 12. März war unser Heim für alle Besucher gesperrt, hinein durfte nur noch, wer draußen an der Glocke anläutete. Am 13. März ist meine Tochter noch gekommen, das war vorher ausgemacht, sie hatte für mich und andere Bewohner noch Besorgungen gemacht. Wir sind drei Meter auseinander gesessen. Da kam der Pflegedirektor und Hygienebeauftragte und hat uns einen großen Vortrag gehalten. Er drohte sogar mit der Polizei, falls sie noch einmal kommen sollte. Er selbst hat sich dann drei Tage darauf krank gemeldet und wurde bis heute nicht mehr gesehen. Mittlerweile habe ich erfahren, dass erselbst Covid positiv war.

Womit er nicht der einzige gewesen sein dürfte. Aber kommen wir zum eigentlichen Grund Ihrer Anzeige, nach der die Staatsanwaltschaft die Kriminalpolizei mit Ermittlungen beauftragte.
Am darauffolgenden Donnerstag, dem 19. März, wurde die Zimmerquarantäne beschlossen: Das heißt, die Bewohner durften überhaupt nicht mehr raus, das Essen wurde ihnen ins Zimmer gebracht. Aber das Personal ist zu diesem Zeitpunkt noch immer ohne Schutzmasken unterwegs gewesen! Das kam mir von Anfang an komisch vor: Zuerst heißt es, wir kämpfen gegeneine Pandemie, und das Virus breitet sich schnell aus, und trotzdem wird hier, wo im Grunde fast jeder ein Risikopatient ist, nicht reagiert das hat mich zornig gemacht. Sie hätten von Anfang an ihre Mitarbeiter schützen müssen, umso die Bewohner zu schützen. Erst Anfang April ist aus einem anderen Haus eine Diplomkrankenschwester gekommen, die gesagt hat, sie wäre jetzt die Hygienebeauftragte. Aber die Schutzkleidung, also die Einwegmäntel, sind erst am 11. April ausgegeben worden, das habe ich selber gesehen. Von meinem Zimmer habe ich einen direkten Blick auf den Ausgang und die Halle, deswegen habe ich da relativ viel mitbekommen. Die Zeit ohne Schutzmasken dauerte etwa bis zum 26. März, also rund zehn Tage.

Das heißt, vom 16. März an, als das Covid Maßnahmengesetz in Kraft traft, gab es keinerlei Schutzausrüstung?
In meinem Umfeld hatten die Leute nichts. Später habe ich erfahren, dass alles im Lager ist, doch nur der eigentliche Hygienebeauftragte, der ja im Krankenstand war, hatte den Schlüssel. Das Lager wurde dann erst von der Behörde geöffnet.

Wann und wie wurden die Heimbewohner getestet?
Zunächst sind Bewohner nur getestet worden, wenn sie irgendwie auffällig waren, wenn sich erste Symptome zeigten. Die Mitarbeiter, die mit diesen positiven Bewohnern in Kontakt waren, wurden dann in Heimquarantäne geschickt die mussten 14 Tage wegbleiben. Dadurch haben so viele Mitarbeiter gefehlt, dass die Pflege natürlich zu kurz gekommen ist. Die, die in Quarantäne waren, wurden ja nicht nachbesetzt.

Wie hat sich das auf den Alltag ausgewirkt?
Die Menschen, die eine Vollpflege brauchen, etwa meine Zimmerkollegin, mussten in der Früh teilweise bis halbzehn darauf warten, bis sie einmal kurz aus dem Bett raus kamen und ein Frühstück bekommen haben. Normal wird umsieben mit dem Tagdienst begonnen, dann werden die Leute gepflegt und mobilisiert, dann gibt es Frühstück. Aber alleine in dem Bereich, wo ich untergebracht bin, sind 60 Bewohner wer kümmert sich denn nun um die alle?

Wie war denn das nun mit Ihrer Zimmerkollegin?
Die Maria ist 72, sie hat Krebs, einmal geht es ihr besser, einmal schlechter, sie ist eine Palliativpatientin. In der Früh, wenn sie einen trockenen Mund hatte, habe ich ihr etwas zum Trinken gegeben, aber das habe ich vorher auch schon gemacht. Als dann aber plötzlich Zimmerquarantäne herrschte, habe ich fast alles für die Maria übernommen: Ich bin mit ihr Zähneputzen gegangen, habe ihr das G'sichterl eingeschmiert, ihr den Rücken massiert, weil sie das einfach braucht.

Weil Sie das Personal darum gebeten hat?
Nein, von mir aus, und zwar aus gutem Grund: Ich habe das zu einem Zeitpunkt übernommen, zu dem man noch nicht wusste, wer von den Mitarbeitern Covid positiv war und wer nicht. Ich wollte sie ganz einfach schützen und schauen, dass sie möglichst wenig Kontakt zum ungeschützten Personal hat.

Sie haben sich also seit die Zimmerquarantäne herrschte, um Maria gekümmert?
Ja, richtig. Ich habe ihr auch die Medikamente gegeben, ich habe ihr beim Essen und Trinken geholfen und ihr immer wieder die Hände desinfiziert.

Und weder Sie noch Ihre schwerstkranke Zimmerkollegin wurden jemals auf Corona getestet?
Doch, aber erst am 14. April. Und stellen Sie sich vor: Ich war negativ, aber die Maria, die war positiv.

Und dann?
Daraufhin wurde sie in den vorderen Trakt verlegt, der Durchgang dorthin wurde mit einer Kette versperrt, damit die Bewohner nicht durchmarschieren können. Es gibt ja hier viele demente Bewohner, die nicht begreifen können, was Zimmerquarantäne eigentlich bedeutet, und einfach ein bissel herumspazieren wollen, die sich einfach nicht auskennen. Ich hoffe, dass es der Maria gut geht, ich habe sie seither nicht mehr gesehen. Ich sage mir zur Beruhigung immer wieder vor: Die Maria, die ist trotz allem ein Stehaufweiberl.

Und Sie selbst? Hatten Sie nicht trotz eines negativen Ersttests Angst, Maria könnte Sie angesteckt haben?
Ich sagte, ich will nochmals getestet werden, da ich ja ständig mit ihr Kontakt hatte, zum Glück verlief letztendlich dann auch dieser Test negativ. Zum Glück -denn ich bin Hochrisikopatientin: Ich leider unter der chronischen Lungenkrankheit COPD, bin zuckerkrank

Kleiner Exkurs: Sie sind gerade einmal 54 Jahre alt, warum sind Sie eigentlich im Pflegeheim?
Es war am Abend, ich war auf dem Weg ins Schlafzimmer ,es war nur eine kleine Stufe -ich bin unglücklich gestürzt. Meine Patellasehne war kaputt, deswegen hatte mich mein Knie im Stich gelassen. Ich war alleine in der Wohnung, wartete drei Stunden auf Hilfe. Erst viel später, nach einer Magnetresonanz, wurde festgestellt, dass fünf Lendenwirbel, ein Steißwirbel und drei Brustwirbel gebrochen waren. Die Folgen nahmen mich so schwer mit, dass ich letztendlich im Rollstuhl landete. Seit zwei Jahren bin ich im Pflegeheim, erst im vergangenen Dezember wurde ich operiert, nun kann ich zumindest mit dem Rollator wieder ein bissel gehen.

Sie erwähnten eingangs, dass Sie zuvor selbst Heimpflegerin waren...
Ich war Pflegeassistentin bei einer gemeinnützigen Organisation, im Pflegeberuf habe ich mehr als 20 Jahre Erfahrung. Ich weiß daher, wie es in Pflegeheimen eigentlich zugehen sollte. Es gibt Menschen, die machen das mit dem Herzen, die machen das gerne. Im Umgang mit älteren Personen ist sehr, sehr wichtig, wie man mit ihnen spricht, ob man zuhören kann, das gehört alles dazu, und plötzlich...

...herrscht Zimmerquarantäne. Als Pflegerin haben Sie wohl einen Blick dafür, wie sich das auf Ihre betagten Mitbewohner auswirkte?
Du musst einen alten Menschen verstehen, der will wissen: Wie lange dauert denn das, wann ist das denn endlich vorbei? Teilweise war die Reaktion: Was ist, wenn mit mir etwas passiert, wenn ich sterbe, und ich sehe meine Kinder oder meinen Mann nicht mehr? Das ist hier eine allgegenwärtige Angst. Die, die bereits verstorben sind, konnten ihre Verwandten ja nicht mehr sehen. Wenn du im Alter körperlich Hilfe brauchst, aber im Kopf noch klar bist, kommst du mit den meisten Dingen soweit zurecht. Aber wenn du dich nicht mehr wehren kannst und auf andere angewiesen bist, bist du teilweise hilflos. Und ausgeliefert. Und es ist kein schönes Gefühl, wenn du diese Hilflosigkeit siehst. Da kannst du als Bewohner dann zur Pflegerin nimmer sagen: "Nimm dir eine Schutzmaske, damit du mich nicht anhustest." Du bist wie ohnmächtig.

Und im Grunde eingesperrt?
Ja, aber ich verstehe es, weil ich klar denken kann. Man sieht denen, die sich nicht artikulieren können, an, wie sie leiden.

Früher gab es am Mittwoch immer Bingo, dann gab es einen Rollstuhl-oder Rollatorparcours und Schnapsturniere. Im vorigen Jahr bin ich noch Schnapserkönigin geworden, als echte Steirerin kannst du das ganz einfach. Jetzt geht es nicht einmal mehr, die Ressourcen der Bewohner zu aktivieren. Durch die Personalknappheit musste die Pflege vernachlässigt werden.

Bei jemandem mir Ihrer Krankheitsgeschichte, deren Zimmernachbarin positiv getestet wird -bei dem muss ja ein ziemlich gruseliges Kopfkino abgehen?
Ich habe mir immer und immer wieder gesagt: Nein, ich kriege das nicht, weil ich das nicht kriegen darf -mein positives Denken und der Versuch, mich selbst zu schützen, das hat mir sehr geholfen. Was mich natürlich schwer belastete: Binnen kürzester Zeit sind so viele Leute verstorben, insgesamt zwölf -und das innerhalb von etwa 14 Tagen. Sechs von ihnen waren zuvor Covid-positiv getestet worden, bei den anderen kann man nicht sagen, ob sie Corona hatten. Insgesamt 39 weitere waren Mitte April positiv. Am Anfang wurden ja nur die getestet, die Halsweh bekamen oder Temperatur und Husten hatten.

Aufgrund Ihrer Anzeige ermittelt nun die Kriminalpolizei. Die Heimleitung lässt auf Anfrage mitteilen, "dass wir aus Datenschutzgründen keine Angaben zu Krankheiten oder Todesursachen unserer Bewohnerinnen uns Bewohner machen dürfen". Woher haben Sie denn nun Ihre Informationen?
Ich bin eine, die sich durchfragt, wenn sie was wissen will. Ich bin mit allen gut, da funktioniert das. Und entschuldigen Sie, dass ich das so deutlich sage: Ich bin eine von denen hier drinnen, die noch völlig klar denken können. Ich kann lästig sein und herumfragen.

Einem Bericht der "Steirerkrone" zufolge soll in Ihrem Heim in diesen Tagen auch eine Frau an ihrer Serviette erstickt sein. Kannten Sie sie?
Ja, die kannte ich gut. Die saß oft bei mir auf der Terrasse, die hat so gerne gejausnet. Wenn ich was nicht mochte, hat sie mich immer gefragt: "Wem g'hört denn das?" Und ich habe gesagt: "Jetzt g'hört es dir!"

Die Verstorbenen -hatten Sie die zum Teil besser gekannt?
Ja natürlich. Eine Dame war trotz ihres Alters eine ausgesprochene Schönheit, die ist jede Woche zum Friseur gegangen und hat sich auch geschminkt, sie war so lebenslustig. Ein anderer, der war früher beim Bundesheer, der litt stark an Parkinson, der ist immer auf mich zugekommen, hat sich zu mir gesetzt -da habe ich dann mit ihm gewürfelt, bis er wieder aufgestanden ist und weitermarschierte. Dann war da eine Dame, die blind war, aber trotzdem immer an allen Gruppenaktivitäten teilgenommen hatte, sei es am Bingo, sei es am Kegeln -sie alle sind in diesen Tagen an Corona verstorben.

Wie geht es Ihnen damit, wenn Sie daran denken, dass diese Menschen womöglich alle noch leben könnten?
Ich war wirklich schockiert. Ich bin auf die Terrasse raus, habe für alle ein Kerzerl angezündet und für sie gebetet. Ich bin stark, aber man braucht manchmal schon etwas, an dem man sich anhalten kann. Und eines noch: Ich möchte mich trotz allem bei den Mitarbeitern bedanken, die hier in derart schwierigen Zeiten ihren Job machen.

Der Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (17/20) erschienen!