Dirk Helbing: "Wir stehen
vor einem Systemwechsel"

Die Coronakrise ist omnipräsent. Einige reagieren panisch, andere durchaus besonnen. Warum wir uns nicht von der Panik unserer Mitmenschen anstecken lassen und worauf wir unsere Aufmerksamkeit stattdessen richten sollten, erklärt der Soziologe und Physiker Dr. Dirk Helbing im Gespräch mit News.at.

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vor einem Systemwechsel" © Bild: iStockphoto.com

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Gibt es Menschen, die weniger anfälliger für Panik sind? Oder trifft es früher oder später jeden?
Nein, es wird nicht jeden treffen. Jene, die genügend Selbstvertrauen haben und gut vorgesorgt haben, werden die Nerven behalten. Übrigens erlebe ich um mich herum bisher noch keine Panik. In Berlin ist alles ruhig.

Wer ist besonders für panische Verhaltensweisen prädestiniert?
Jene Menschen, die besonders verwundbar sind: gesundheitlich, ökonomisch oder sozial. Daher müssen wir uns solidarisch mit ihnen zeigen. Denn Panik kann ansteckend sein.

Panik kann ansteckend sein, ist es aber nicht zwangsläufig?
Die einen lassen sich anstecken, die anderen versuchen, panische Leute zu beruhigen. Man sollte das Letztere tun.

»Es beginnt ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte«

Die Coronakrise hat einen Run auf Toilettenpapier ausgelöst. Warum gerade Toilettenpapier?
Meiner Meinung nach hätte es auch ein anderes Gut sein können. Vielleicht war es Nudging*. Man wollte den Menschen durch die Blume sagen, dass es an der Zeit ist, Vorräte für ein paar Tage zu Hause zu haben. An Essen und Trinken denkt jeder ...

Welche Mechanismen werden in uns in Gang gesetzt, wenn wir in Panik verfallen?
Es werden bestimmte Areale des Gehirns aktiviert, die eine Art Überlebensinstinkt aktivieren, aber uns nicht mehr klar denken lassen. Es entsteht ein Tunnelblick, und der ist in unserer modernen Gesellschaft nicht hilfreich.

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Welche Verhaltensweisen fördert Panik typischerweise zutage?
In anderen Fällen einen Fluchtinstinkt, etwa dann, wenn man das Gefühl hat, in einer dichten Menschenmenge erdrückt zu werden. Bei Corona bringt das natürlich nichts.

Toilettenpapier-Hamsterkäufe sind bedenklich, aber noch nicht gefährlich. Ab wann wird Panik denn wirklich gefährlich? Im Allgemeinen und speziell in der aktuellen Krise?
Es könnte zu Übergriffen auf andere Menschen kommen. Das muss man vermeiden. Solidarisch kommen wir am besten durch die Krise.

Wie kann man verhindern, dass die negativen Folgen der Krise ausufern?
Man muss das Überspringen des Problems auf andere Menschen und auf andere Sektoren der Gesellschaft stoppen.

In Ihrem Artikel "Master the Desaster" schreiben Sie, dass sich aus Katastrophenberichten gewisse Gesetzmäßigkeiten ableiten lassen? Welche sind das? Und treffen diese auch auf die Coronakrise zu?
Eine Krise kommt selten allein. Ein großes Problem verursacht häufig andere – infolge der Vernetzung der Systeme. Da man aber die Vernetzung und kausalen Abhängigkeiten oft von früheren Krisen kennt, kann man sich im Grunde genommen auf die nächsten Probleme schon vorbereiten, bevor sie da sind. Eine kurze Reaktionszeit ist entscheidend dafür, die Kettenreaktion zum Stoppen zu bringen und den Schaden zu minimieren.

© Dirk Helbing/Hendrik Ammoser/Christian Kühnert Zum Vergrößern anklicken

Wie können wir verhindern, dass wir jetzt in Panik verfallen?
Lenken Sie sich ab. Überwinden Sie den Tunnelblick. Lesen Sie ein schönes Buch. Hören Sie Musik. Sprechen Sie mit Freunden. Nutzen Sie die Ausnahmesituation, um über Ihr Leben nachzudenken. Was ist wirklich wichtig? Wie wollen wir in Zukunft leben? Welchen Beitrag können Sie dazu leisten?

"Panik" wird gerne auch als "Totschlagargument" verwendet. Bevor die Krise uns erreicht hat, hat schon manch einer seine Sorgen geäußert - und wurde als "panisch" abgetan. Warum?
Die Politik möchte, dass im Land Ruhe und Ordnung herrschen. Gleichzeitig weiß sie, dass wir vor einem Systemwechsel stehen. Wir erleben jetzt eine große Transformation unserer Gesellschaft. Es beginnt ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte. Beobachten Sie das mit offenen Augen, und lassen Sie sich nicht von Corona ablenken, was nur eine vergleichsweise geringe Gefahr für Ihr Leben darstellt.

»Nutzen Sie die Ausnahmesituation, um über Ihr Leben nachzudenken«

Ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte beginnt - wie darf man sich das vorstellen?
Es bietet sich jetzt die Notwendigkeit und Chance, unsere Gesellschaft neu zu gestalten und zukunftsfest zu machen. Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Beziehung zwischen Staat, Unternehmen und Bürgern neu regelt. Die Art und Weise, wie unsere Wirtschaft heute organisiert ist, ist nicht nachhaltig. Sie ist reformbedürftig. Ich gehe davon aus, dass wir bald ein System auf den Weg bringen werden, das Mensch und Umwelt besser dient als das heutige System. Teile davon wären meiner Meinung nach ein neues Finanzsystem, eine Kreislaufwirtschaft und eine Sharing Economy sowie eine partizipative Marktgesellschaft, die wir aktiv mitgestalten können. Jetzt sind Ihre Ideen gefragt!

Was können wir aus der Coronakrise lernen?
Dass wir unser Leben ändern müssen. Unsere Gesellschaft muss resilienter, das heißt krisenfester werden. Ich plädiere für partizipative Resilienz. Das braucht aber digitale Tools, die Hilfe zur Selbsthilfe offerieren und uns vor allem dabei unterstützen, uns gegenseitig zu helfen.

Was genau können wir uns unter partizipativer Resilienz vorstellen? Und wie können wir die Resilienz unserer Gesellschaft erhöhen?
Die Resilienz einer Gesellschaft steigert man durch Backup-Lösungen, Diversität und Dezentralität. Man sollte ein System in autonome Einheiten entkoppeln können, wenn es nötig ist. Partizipative Resilienz meint die Bereitstellung von Tools, die Hilfe zur Selbsthilfe und Nachbarschaftshilfe unterstützen. Je mehr die Bürgerinnen und Bürger selber bewältigen können, desto mehr kann sich der Staat auf die schlimmsten Krisen-Hotspots konzentrieren. Und die Gefahr totalitärer Lösungsversuche sinkt.

»Solidarisch kommen wir besser durch die Krise«

In Österreich werden die Menschen dazu aufgefordert, ihre Wohnung nur in dringenden Fällen zu verlassen. Die Regierung empfiehlt Homeoffice. Menschenansammlungen sind unter Strafe verboten. Was sagen Sie zu diesen Maßnahmen im Sinne des Krisenmanagements?
Sie erscheinen angesichts der Lage sinnvoll. Wenngleich ich die Kontaktverbots-Lösung in Deutschland, verbunden mit Social Distancing, noch etwas besser finde. Wir benötigen aber Transparenz, damit die Einschränkung unserer Rechte nicht politisch missbraucht werden kann. Und es braucht auch Maßnahmen für das Empowerment der Bürgerinnen und Bürger zur Selbsthilfe und Nachbarschaftshilfe. Der Zivilschutz sollte sie eigentlich bereithalten.

Binnen kürzester Zeit formierten sich im digitalen Raum Gruppen, die im realen ihre Hilfe anbieten. Was sagen Sie zu diesem Trend?
Das ist eine tolle Entwicklung und genau im Sinne dessen, was ich sage. Corona ist eine Reifeprüfung für jeden und für die Gesellschaft. Solidarisch kommen wir besser durch die Krise.

Wie können wir uns jetzt schon für die nächste Krise rüsten?
Indem wir Konsequenzen aus der jetzigen ziehen. Schon jetzt droht die Corona-Krise vom Gesundheits- zum Wirtschaftsproblem zu werden. Viele Selbständige, aber auch Laden- und Restaurantbesitzer sowie Unternehmen, kleine wie große, sind in ihrer Existenz bedroht. Es wird wohl erforderlich sein, so etwas wie das Grundeinkommen einzuführen.

© Jannick Timm Dirk Helbing

Zur Person: Dr. Dirk Helbing ist Soziologe und Physiker. Er ist Professor für Computational Social Science am Department für Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie Mitglied des Informatikerdepartments an der ETH Zürich.

*Unter Nudging versteht man laut Wikipedia "eine verhaltensökonomische Methode, bei der versucht wird, das Verhalten von Menschen auf vorhersagbare Weise zu beeinflussen, ohne dabei auf Verbote, Gebote oder ökonomische Anreize zurückzugreifen".