"Wir brauchen nur ein bisschen mehr Disziplin"

Komplexitätsforscher Stefan Thurner über den Sinn von Corona-Ampeln und die Aussagekraft der nackten Infektionszahlen

Der Komplexitätsforscher Stefan Thurner erforscht anhand von Daten, wie sich die Coronapandemie entwickelt, erklärt den Sinn von Ampelfarben und errechnet -abseits von Corona - zum Beispiel Modelle für die grüne Wende in der Wirtschaft.

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Pandemie - "Wir brauchen nur ein bisschen mehr Disziplin" © Bild: Matt Observe/News
Stefan Thurner, 51, studierte Theoretische Physik und Wirtschaftswissenschaften. Seit 2009 ist er Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der MedUni Wien. Seit 2015 leitet er den von ihm mitinitiierten Complexity Science Hub Vienna (CSH). 2017 wurde er zum "Wissenschaftler des Jahres" gekürt. Seit Ausbruch der Corona- Pandemie erstellt er auch Prognosen für die Regierung. Am 28. September erscheint sein Buch "Die Zerbrechlichkeit der Welt"(edition a). Die Corona-Ampel des CSH findet sich auf www.csh.ac.at

News: Sie beschäftigen sich seit Beginn der Pandemie mit den Infektionszahlen, erstellen auch Prognosen für die Regierung - wie ernst ist die Lage derzeit: Sind wir am Beginn der zweiten Welle oder schon mitten drin?
Stefan Thurner: Wenn man vom exponentiellen Wachstum ausgeht, sind wir noch nicht in der zweiten Welle. Aber die Zahlen steigen schnell, und die Verdopplungszeiten sind schon wieder sehr kurz. Es ist extrem schwer vorherzusagen, ob es zu einem exponentiellen Wachstum kommen wird, weil das konkrete Verhalten der Bevölkerung darauf einen großen Einfluss darauf hat, wie die Infektionskurven verlaufen. Das macht die Sache derzeit extrem unübersichtlich. Warum gibt es in Spanien so viele neue Fälle, warum ist Deutschland weit weniger betroffen als Österreich? Das hat damit zu tun, wie diszipliniert die Leute die Basisregeln einhalten.

Und diszipliniert heißt?
Abstand halten, Maske tragen. Und keine Partys in zu kleinen Räumen feiern. Dass es in Österreich die Möglichkeit gibt, in "geschlossenen Gesellschaften" zu feiern, ist unverantwortlich, gefährlich und einfach dumm.

Ist die Entwicklung in Österreich noch umkehrbar?
Ich würde davon ausgehen, dass das möglich ist. Man sieht in vielen Ländern, sobald sich die Disziplin ein bisschen erhöht, flachen die Kurven ab.

»Jetzt ist der Zeitpunkt, wo man die Entwicklung nicht übersehen sollte. «

Der Complexity Science Hub betreibt seit April eine Corona-Ampel, die im Unterschied zur Regierungsampel ausschließlich aufgrund der Infektionen pro 10.000 Einwohner schaltet. Man sieht hier, wie sich das Land schon über den Sommer von Grün auf Gelb färbt. Hat man die Beschränkungen zu früh gelockert?
Vielleicht war das gar nicht falsch, das zu tun, um Stress aus der Bevölkerung rauszunehmen. Aber jetzt ist der Zeitpunkt, wo man die Entwicklung nicht übersehen sollte. Die Zahlen sind sehr viel schlechter als im Sommer, auch wenn diese mit geringerer Sterblichkeit und nicht ausgeschöpften Bettenkapazitäten in den Spitälern einhergehen.

Ist diese Relativierung ab einer gewissen Zahl von Neuerkrankungen noch gerechtfertigt? Das Ansteckungsrisiko ist viel höher.
In den USA und Schweden hat man gesehen: Ab einer gewissen Zahl von Fällen wird es viel schwieriger, durch Maßnahmen das Infektionsgeschehen wieder hinunterzudrücken. Das ist die große Gefahr. Man hat in Österreich auch sehr schön gesehen: Durch das frühe und strenge Eingreifen im März ist die Kurve bei uns rasch wieder hinuntergegangen. Es gab einen spitzen Peak, anders als in den USA, wo noch während der ersten Welle ein zweiter Peak aufgetreten ist. Das wäre ein Worst-Case-Szenario. Und es erfordert ja nicht so unendlich schwere Maßnahmen: ein bisschen mehr Disziplin und das Bewusstmachen, dass man das kollektiv machen muss und sich nicht als Einzelner ausnehmen kann.

Bei der Ampel der Bundesregierung werden die Infektionszahlen interpretiert und z. B. das Alter der Infizierten, die Verfolgbarkeit der Cluster oder freie Intensivbetten einbezogen. Bei der Ampel des CSH stehen Teile Österreichs längst auf Rot. Wie plausibel erscheint Ihnen die Regierungsampel?
Seit der dritten Schaltung letzten Montag werden die Färbungen ähnlicher. Unsere Intention Anfang April war, eine Maßzahl zu geben, wo ich sehe, wie wahrscheinlich es ist, dass ich jemanden treffe, der mich potenziell anstecken kann. Ab zehn positiv getesteten Fällen pro 10.000 Einwohnern in einem Bezirk innerhalb von 14 Tagen steht die Ampel auf Rot. Die Idee dabei war auch, dass man das international macht und die Grenzen wieder öffnen kann. In Regionen, die die gleiche Farbe haben, kann man sich untereinander bewegen, es ist gleich gefährlich. In Regionen, die Rot sind, sollte man nicht fahren. Die Regierungsampel verwendet zusätzliche Indikatoren. Das macht Sinn, wenn das mit eindeutigen Maßnahmen gekoppelt ist.

Ist es aber derzeit noch nicht.
Das ist eine Katastrophe, finde ich. Die Intention war großartig. Es gibt nicht viele Länder, wo man versucht, die Maßnahmen durch ein übergreifendes System so lokal wie möglich zu halten. Das ist im Prinzip brillant. Aber: Mit welchen Faktoren man die Ansteckungszahlen auch anreichert, die Ansteckungswahrscheinlichkeit ändert sich durch freie Betten oder das Alter der Betroffenen nicht. Das ist aber, was unsere Ampel zeigen soll. Die Regierungsampel soll zeigen, welche Maßnahmen wo gelten. Ich hoffe, dass es gelingt, hier ein österreichweit geltendes Schema zu schaffen, nachdem man Maßnahmen auf lokaler Basis reduziert oder verschärft. Wenn man am Schluss Maßnahmen doch quer über das ganze Land legt, bringt die Ampel ja nichts mehr.

Umgekehrt: Wenn ich am Dienstag in Wien mit Orange aufwache, sich aber gegenüber dem Gelb des Vortages nichts ändert, dann ist das ein Widerspruch zu dem, was wir die letzten Monate über die Ampel gelernt haben: dass das mit Maßnahmen einhergeht. Die Bereitschaft der Bevölkerung und der Medien, mitzumachen, ist da.

Es gab die Kritik, dass bei der Regierungsampel die Politik hineinspielt.
Natürlich sind die Entscheidungen politisch getrieben. Das ist ja auch richtig, weil es die Aufgabe der Politik ist, über die Maßnahmen zu entscheiden. Ich sehe unsere Ampel daher auch ein bisschen als Korrektiv. Würde die Regierungsampel zu sehr abweichen, wäre das vielleicht ein Zeichen, dass sie "zu politisch" geschaltet wird.

Wie geht es einem Wissenschaftler überhaupt, wenn Zahlen von der Politik "interpretiert" werden? Der kleine Bruder der Interpretation ist der Zweifel, oder?
Zweifel ist sogar der große Bruder. Wissenschaft ist von Natur aus immer anfechtbar. Wenn einer sagt, ich liege falsch und kann das auch beweisen, sage ich: "Wunderbar, danke, das bringt uns insgesamt weiter." Zum Anfang der Krise hat es wohl so gewirkt, als gebe es Uneinigkeit der Wissenschaftler. Aber genauso muss es sein: Der Fortschritt und die Kontrolle kommen durch Uneinigkeit, Wettkampf und Konkurrenz. Wer am Schluss die besseren Vorhersagen hat und auch weiß, warum, gewinnt. Die Politik muss interpretieren, nur halt nicht zu viel. Das ist die Kunst.

»Ich verstehe auch Aussagen wie "Den Impfstoff wird es bis Ende des Jahres geben" nicht. «

Eine Vorhersage kam Ende August vom Bundeskanzler: Er sehe Licht am Ende des Tunnels. Haben Sie das in Ihren Zahlen auch gesehen?
Ich weiß nicht, woher diese Art von Prognosen kommen. Ich hätte das Ende August sicher nicht so formuliert. Ich verstehe auch Aussagen wie "Den Impfstoff wird es bis Ende des Jahres geben" nicht. Man weckt falsche Erwartungen, die, wenn sie dann nicht stimmen, Vertrauen doch eher reduzieren.

Das CSH hat auch die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen erforscht. Also: Was wirkt, und was könnten wir uns sparen?
Wir haben uns angesehen, welche Maßnahmen Staaten eingeführt haben und wie sich daraufhin ihre Infektionskurven entwickelt haben. Was nicht verblüffend war: Maske, Abstand, Schulschließungen funktionieren. Kleine Gruppen zu verbieten, bewirkt mehr als sehr große Events, einfach, weil es viel mehr davon gibt. Verblüffend war aber, dass softe Maßnahmen wie, die Bevölkerung zu informieren und aufzuklären, im Ranking der Wirksamkeit sehr gut liegen. Von oben verordnete Maßnahmen wirken nicht unbedingt besser als ein breiter Konsens in der Bevölkerung, dass man das aus Verantwortungsbewusstsein so macht. Die berühmte Eigenverantwortung funktioniert, wenn auch nicht in allen Ländern gleich gut. Man muss den Leuten nichts befehlen.

Sie haben vorher den Effekt von Schulschließungen genannt. Die sind umstritten - und von Eltern gefürchtet.
Auch in den Schulen muss man dafür sorgen, dass es weniger dicht ist. Und: Damit ich in den Schulen nicht flächendeckend stärkere Maßnahmen setzen muss, muss man logistisch besser werden. Tests müssen einfach schneller funktionieren. Das gleiche gilt für das Contact Tracing. Dass man es noch immer nicht geschafft hat, das innerhalb eines Tages zu machen -das wäre eigentlich die Aufgabe über den Sommer gewesen. In einer Studie haben wir gezeigt, wie wichtig Geschwindigkeit ist: Allein, dass die Rufnummer 1450 am Anfang gut funktioniert hat, die Leute zuhause getestet wurden, anstatt in der Ambulanz oder beim Arzt andere anzustecken, hat Wien etwa dreimal so viele Coronafälle erspart.

© Matt Observe/News Stefan Thurner

Die Forscher des CSH haben die Mobilität der Bevölkerung in Coronazeiten untersucht. Mit welchem Ergebnis?
Wir haben uns mit anonymisierten Telekomdaten angesehen, wie sich die Menschen in unterschiedlichen Phasen bewegt haben. Mittlerweile sind wir da wieder fast auf dem Stand vor Corona. Während des Lockdowns gab es drastische Unterschiede im Bewegungsradius zwischen Männern und Frauen.

Belegen die Bewegungsmuster die Beobachtung, dass Frauen z. B. durch Homeschooling und Kinderbetreuung stärker an zuhause gebunden waren?
Für die Altersgruppe der 20bis 40-Jährigen ist das ein wesentlicher Faktor. Aber es gibt diesen Effekt auch in anderen Altersgruppen, da brauchen wir eine andere Erklärung. Ich hätte ja eher gedacht, dass es in der Krise nicht mehr so sehr darauf ankommen, ob Mann oder Frau. Das Gegenteil war der Fall.

Und noch ein weiteres Corona-Projekt: wie sich Angst und andere Emotionen in sozialen Medien verbreiten. Welche Gefühlslage sieht man da derzeit? Macht sich womöglich auch Unmut und weniger Bereitschaft, Coronamaßnahmen zu befolgen, breit?
Eine Arbeitsgruppe am Complexity Science Hub monitort Twitterdaten, um den Zeitverlauf von Emotionen in Österreich zu verfolgen. Das war besonders interessant nach dem Lockdown, wo negative Emotionen wie Aufregung und Trauer sehr hoch waren, aber zugleich auch positive Emotionen wie pro-soziale Gefühle. Derzeit sieht man wieder einen kleinen Anstieg dieser Emotionen nach dem Sommer. Was das für die Bereitschaft bedeutet, bei Maßnahmen mitzumachen, wissen wir leider nicht.

Machen wir uns bei Corona auch zu viele Sorgen?
Wenn man immer hört, die Freundin einer Freundin hat einen Fall im Bekanntenkreis und so weiter, hat man das Gefühl, das Virus sei ganz nahe. Aber: Wenn bei uns die Ampel auf Rot schaltet, sind gerade zehn von zehntausend Menschen erkrankt und die meisten davon hoffentlich nicht auf der Straße. Man hört immer nur von den zehn, von den restlichen 9.990 erzählt keiner. Die sollte man in seine Überlegung einbeziehen und sich nicht narrisch machen.

Der Complexity Science Hub hat zu Beginn der Coronakrise viele Projekte gestoppt, um Expertise freizumachen. Was würden Sie erforschen, wenn Corona vorbei ist?
Zwei Dinge: Ich möchte die Möglichkeit für grüne Wende in der Wirtschaft besser verstehen. Man kann nicht einfach der Wirtschaft, das CO2 abdrehen, das würde zu viele Arbeitslose produzieren, und die Bereitschaft, mitzumachen, wäre gering. Aber wenn man weiß, wie die Firmen in Produktionsnetzwerken zusammenhängen, und dann noch, wer wie viel CO2 produziert, kann man herausfinden, welche dieser Firmen CO2 minimieren können, ohne dass es einen großen Einfluss auf Arbeitsplätze und Produktivität hat. Man könnte im Idealfall eine optimale Wende berechnen, etwa durch individualisierte CO2-Steuern. Ob die Politik so etwas dann verwenden will, ist ein anderes Thema. Aber die Wissenschaft muss ja einmal ein paar mögliche Optionen auf den Tisch legen.

Und das Zweite?
Ich möchte herausfinden, warum die Gesellschaft zur Zeit zerfällt. Wo war der Punkt, an dem sich eine Gesellschaft, in der sich nicht jeder mochte, aber die viele Meinungen zugelassen hat, in viele kleine Bubbles oder Echokammern verwandelt hat, die sich gegenseitig hassen? In diesen bekommt man ein vollkommen verzerrtes Bild der Welt, das relativ einfach von Datenmonopolisten manipuliert werden kann und wo demokratische Meinungsfindungsprozesse unmöglich werden.

Ist dieser Prozess reversibel?
Das wollen wir herausfinden. In vereinfachten Modellen sieht man, der Kipppunkt hängt mit der Anzahl der "Freunde" zusammen. Je mehr man hat, desto eher ist man in der Phase der Bubbles. Durch die sozialen Medien ist die Zahl der Kommunikationspartner explodiert. In den 1980er-Jahren hatten wir noch Vierteltelefone.

Heißt: Weniger Kommunikationspartner machen uns toleranter?
Ganz genau. Im Jahr 2000 haben wir noch gedacht, dass das Internet uns alle objektiv und weniger kleingeistig macht. Genau das Gegenteil ist passiert.