"Konnte der Oma nicht mehr baba sagen"

Ein Jahr eingesperrt: Die Pandemie und deren Bekämpfung bringen Österreichs Jugend an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Immer mehr Kids haben mit massiven psychischen Problemen zu kämpfen. Kinder, Eltern, Experten - wir sprachen mit allen Betroffenen.

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Wir Kinder der Krise - "Konnte der Oma nicht mehr baba sagen" © Bild: iStockphoto.com

In diesem Fall war gut gemeint das Gegenteil von gut: "Ich will gesund bleiben, deswegen bleibe ich jetzt öfter daheim", fiepste ein munteres Kinderstimmchen noch zu Beginn der Pandemie in den Aufklärungsspots des Gesundheitsministeriums. "Und unsere Familienausflüge am Wochenende verschieben wir auf später."

Damals konnte und wollte noch keiner ahnen, dass "später" auch zwölf Monate danach noch nicht gekommen ist. "Wir haben Kinder, die mit ein paar kurzen Unterbrechungen seit einem Jahr zu Hause sitzen und von denen erwartet wird, dass sie ihr Leben daheim komplett alleine strukturieren", holt Katrin Skala, Oberärztin an der Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, aus. So entstehe die Atmosphäre eines Druckkochtopfes, in der die Stimmung immer häufiger explodiere.

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Das belegen, neben zahlreichen Studien und Umfragen, auch die Zahlen der Jugendhelpline Rat auf Draht: Dort nämlich nahmen im Zeitraum von Februar 2020 bis März 2021 die Anrufe wegen schulischer Überforderung im Vergleich zum selben Zeitraum der beiden Vorjahre um 159 Prozent zu. Bei Schlafstörungen betrug die Zunahme 64 Prozent, bei psychischen Problemen 45 Prozent.

»Wir bemerken eine Häufung von Fällen einer neuen Symptomatik Essstörungen«

So weit die nackten Zahlen. Was Kinderpsychiaterin Skala in ihrem Klinikalltag auffällt: "Wir bemerken eine Häufung von Fällen einer neuen Symptomatik Essstörungen." Kinder und Jugendliche, die sich mit intensivem Onlinesport fit zu halten versuchen, würden "einfach zu essen vergessen" und bedrohlich abnehmen. Zudem habe Skala seit Ausbruch der Pandemie auch eine starke Zunahme an Angst- und Zwangsstörungen registriert: "Ich habe etwa einen gerade einmal sechsjährigen Buben in Behandlung, der sich nach dem Tod seiner Großmutter unablässig die Hände wäscht - obwohl sie hochbetagt an Herzversagen starb, glaubt er, er könnte als vermeintlicher Virenüberträger schuld daran sein." Auch die Fälle von "suizidal intendiertem" Medikamenten- oder Drogenmissbrauch hätten in den vergangenen Monaten, zumindest in Skalas persönlicher Wahrnehmung, stark zugenommen.

Wie 75 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher in einer aktuellen News-Umfrage fordert auch sie namens der Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie eine möglichst rasche Rückkehr zum schulischen Normalbetrieb.

Zoë, 14: "Nachts liege ich wach und weine"

Treusorgende Eltern, zwei Geschwister, ein gemütliches Eigenheim im Großraum Wiener Neustadt: Die heute 14-jährige Zoë hatte das perfekte Umfeld für eine glückliche Kindheit. Doch als sie gerade einmal acht Jahre alt war, brach es in sich zusammen: Der Vater verstarb an Krebs. Es war ein plötzlicher Tod, die Krankheit hatte einen rasanten Verlauf genommen - zu einer Zeit, als Zoës jüngstes Geschwisterchen gerade einmal ein paar Wochen alt war und die Mutter, eine Unfallchirurgin, soeben ihre Karenz angetreten hatte. Nun musste die Mutter, um ihre dezimierte Familie zu erhalten, also raschestmöglich wieder zurück ins Berufsleben, zurück in den ermüdenden Schichtdienst im Krankenhaus. Und Zoë erwuchsen praktisch über Nacht völlig neue Aufgaben im Familienverband: Plötzlich war sie es, die sich umfassend um die jüngeren Geschwister zu kümmern hatte.

Quälende Schuld. Doch zunächst war da diese völlige Fassungslosigkeit. "Warum musste er sterben, warum ausgerechnet er?" Das war die Frage, mit der sich Zoë von Anfang an herumschlug. Lange, erzählt sie, sei sie das Gefühl nicht losgeworden, dass jemand aus seinem Umfeld, womöglich sogar sie selbst, Schuld daran trage. Um all das aufzuarbeiten, kam sie bis zu sechsmal pro Monat ins Regenbogental nach Leobersdorf - das ist ein Therapiehof, auf dem Familien in schwierigen Lebenssituationen wie bei Krankheit, Tod und Trauer umfassend begleitet werden (detaillierte Informationen unter regenbogental.at). Doch dann kamen die Lockdowns, kam das Homeschooling, das Distance Learning - und Zoë war mit einem Mal noch öfter auf sich allein gestellt.

© Ricardo Herrgott

"Schon vorher habe ich meine Geschwister in der Früh aufgeweckt, ihnen die Jause zubereitet, dann am Nachmittag bei den Hausaufgaben begleitet", erzählt sie. Auch um den Haushalt habe sie sich so weit als möglich gekümmert, gekocht, gesaugt. "Das ist irgendwie ganz automatisch passiert." So etwas wie Normalität, sagt Zoë, die Gymnasiastin, habe es für sie eigentlich nur in der Schule gegeben. "Das waren die Stunden, in denen ich so sein konnte wie alle meine Freundinnen." Doch dann hatte die neue Corona-Normalität auch von Zoës Vormittagen Besitz ergriffen. "Plötzlich musste ich mich auch darum kümmern, dass mein zwölfjähriger Bruder seine Arbeitsaufträge gewissenhaft erledigt und dass sich meine sechsjährige Schwester sinnvoll beschäftigt." Und irgendwann, sagt Zoë, sei ihr das dann alles zu viel geworden. "Tagsüber war noch alles irgendwie normal, doch abends, wenn ich im Bett lag, ging es mir schlecht: Ich habe geweint, konnte stundenlang nicht einschlafen."

Langsam, ganz langsam hat Zoë nun wieder in ihren Therapierhythmus zurückgefunden, in Form von kleinen Kunstprojekten, Rollenspielen, Gesprächen und niedergeschriebenen Texten versucht sie, ihre akuten und aufgestauten Sorgen zu verarbeiten. "Im Hier und Jetzt Befindlichkeiten auszudrücken, an einem Ort der Geborgenheit Belastungen abzuladen und somit dazulassen - das ist für junge Menschen wie Zoë ganz, ganz wichtig", sagt Susanne Graf-Redl, Kunsttherapeutin und Traumpädagogin im Regenbogental. "Weitere Schulschließungen und Lockdowns würden ihr massiv schaden."

Sophie, 9: "Konnte der Oma nicht mehr baba sagen"

Die Oma, erzählt die neunjährige Sophie, die Oma sei ihre "beste Freundin" gewesen: "Und sie war eine starke beste Freundin, die mich oft von der Schule abgeholt hat und mit der ich über alles geredet habe." Immer wieder habe ihr die Oma gegen den ersten Hunger Wurstsemmeln mitgebracht, deswegen nannte Sophie sie auch "meine Semmel-Oma." Doch ihr eigentlicher Vorname war Stella. War: Am 18. April 2020 verstarb Stella, verstarb Sophies "Semmel-Oma" mit gerade einmal 59 Jahren: Krebs, ein Gehirntumor. Am Samstag, dem 14. März, hätte Stella eigentlich noch einen Tag daheim im Kreise ihrer Familie verbringen dürfen. Danach sollte eine Operation stattfinden, um abzuklären, wie die weitere Behandlung auszusehen habe. Die Familie, das sind Sophie, deren dreijähriges Brüderchen und deren Eltern Evi und Markus. Markus ist Stellas Sohn, Evi die Schwiegertochter. Und alle freuten sich auf diesen einen ganz besonderen Tag. "Stella war so eine leidenschaftliche Oma, und wir wollten ihr alle noch einmal Kraft und Hoffnung für das Bevorstehende geben", sagt Evi.

Doch einen Tag zuvor hatte Bundeskanzler Kurz den ersten Lockdown für 16. März angekündigt - und so ließ man Stella aus Gründen der Generalprävention erst gar nicht mehr aus dem Spital. Und die Enkerln nicht mehr zu ihr. Auch ein Abschied mittels Videotelefonie war für die Kleinen nicht mehr möglich, da Stella nach der planmäßigen OP körperlich so rasch abbaute, dass sie ihr Handy nicht mehr bedienen konnte. Mittlerweile war sie in eine Pflegeeinrichtung verlegt worden, wo gerade einmal erwachsene Besucher sporadisch Zugang hatten, aber Kinder unter gar keinen Umständen. "Verzweiflung, Trauer und Zorn über unsere Machtlosigkeit begleiten uns seither Tag für Tag", schildert Evi. "Es bricht einem das Herz, wenn man sieht, wie sehr gerade Sophie unter dem Verlust leidet." Das Ganze, sagt Evi, sei für ihre Tochter "wie ein Filmriss" gewesen.

© Ricardo Herrgott

In der Trauergruppe. Um den plötzlichen Tod der Oma verarbeiten zu können, hätte ihn Sophie zunächst einmal begreifen müssen. Und um ihn begreifen zu können, hätte sie sich zunächst verabschieden müssen. "Wie sollen Kinder denn sonst verstehen, dass etwas zu Ende ist, dass man einen geliebten Menschen nicht mehr sehen kann? Wie sollen sie denn sonst lernen, loszulassen?", ärgert sich Regenbogental-Chefin Weiss-Beck. Schließlich sei es dann so weit gewesen, dass Sophie professionelle Begleitung gebraucht habe.

Wenn, ja wenn es denn die legistischen Covid-Rahmenbedingungen zulassen, ist Sophie nunmehr in regelmäßiger Betreuung am Leobersdorfer Therapiehof. Im Rahmen einer Einzeltherapie mit Tieren und einer Trauergruppe mit anderen Kindern beginnt sie, sich zu öffnen und über ihren Verlust zu sprechen.

"Ich hätte der Oma ja noch so viel sagen wollen", platzt es aus Sophie heraus. Und: "Ich habe der Oma nicht einmal mehr baba sagen können." Seither schreibt Sophie Karten, die sie an die Oma adressiert und in denen sie ihr mitteilt, was in ihrem Alltag so passiert, seit sie nicht mehr da ist. Sie schreibt auch, dass die Bäckerei, in der Stella die Wurstsemmeln für Sophie kaufte, nunmehr zugesperrt ist.

Die Erstanlaufstellen

Hier bekommen Kinder, Jugendliche und Eltern unbürokratisch Unterstützung:

  • Rat auf Draht: kostenfreie Beratung unter der bundesweiten Durchwahl 147
  • Helpline des Bundesverbandes der Österreichischen Psychologinnen: 01/5048000
  • Servicetelefon der Wiener Kinder-und Jugendhilfe: 01/40008011, täglich zwischen 8.00 und 18.00 Uhr

David Pesendorfer hat drei Kinder, die sich sehnlichst eine "normale" Schule wünschen. Und wie geht es Ihren Kindern? Schreiben Sie uns: pesendorfer.david@news.at

Der Beitrag erschien ursprünglich in der News-Ausgabe 12/2012.