Corona: Die Jugend
als Sündenbock

Jugendliche und junge Erwachsene werden zum neuen Feindbild im Hinblick auf steigende Corona-Fallzahlen. Warum diese Generation ein Recht auf Feiern, Freunde und Freiheit hat und man ihre Bedürfnisse ernst nehmen muss.

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Pandemie - Corona: Die Jugend
als Sündenbock © Bild: News/Matt Observe

Am Wiener Donaukanal fühlt sich das Leben fast wieder wie B. C. an: "Before Corona". Musik tönt aus den Boxen der Bars, es wird geflirtet und Spritzer getrunken. Menschenmassen flanieren über die Promenade. Mit Müh und Not gelingt dabei der Ein-Meter-Abstand zum Vordermann, beziehungsweise zur Vorderfrau. Vereinzelt sitzt man auch brav in Zweier-, Dreier oder Vierergrüppchen. Man merkt: Die Jugend will die letzten Tage dieses verlorenen Sommers noch irgendwie genießen.

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Einen ziemlichen Dämpfer versetzte der Gesundheitsminister dieser wiederaufkeimenden Lebensfreude am 18. August via Twitter: "Reißt euch zusammen und übernehmt Verantwortung!", schimpfte Rudi Anschober. Zusammenreißen sollten sich ihm zufolge jene männlichen, im Schnitt 23,5-jährigen Urlaubsrückkehrer, die die Covid-19-Fallzahlen durch erhöhte Sozialkontakte und Auslandsreisen wieder ordentlich nach oben getrieben haben. Ein Pauschalurteil, das sich auf die gesamte Alterskohorte auswirkt.

Junge als soziale Verlierer

Die Jungen verstehen die Welt nicht mehr. Monatelang keine Freundinnen und Freunde treffen, keine Privatsphäre, keine Selbstbestimmung und heute gelten die Jungen, trotz Lockdown, Home Schooling und Deprivation bald als das Feindbild der Nation. Dabei sind Sozialkontakte für junge Menschen nicht nur einfach ein Zeitvertreib, sondern beeinflussen aus entwicklungspsychologischer Sicht die eigene Identitätsfindung maßgeblich.

Wie wichtig Freundschaften für junge Menschen sind, erklärt Psychologin Brigitte Sindelar: "Die Lebensphase der 'emerging adulthood' ist die Lebensphase des Übergangs vom Jugendlichen zum Erwachsenen, also das Alter zwischen etwa 18 bis Ende 20. In der Zeit geht es um die Orientierung und Weichenstellung im eigenen Erwachsenenleben, um die Festigung der eigenen Identität und der eigenen Position in der Gemeinschaft. Daher ist das soziale Leben junger Menschen stark auf die etwa Gleichaltrigen ausgerichtet, mit denen sie sich eng verbunden fühlen, weil sie gerade ähnliche Lebensaufgaben zu erfüllen haben." Junge Menschen haben durch die Corona-Krise ihre Peergroup verloren und auch das Smartphone kann diesen direkten Kontakt mit Gleichaltrigen nicht ersetzen. "Die Peergroup ist für die Ablösung von den Eltern unentbehrlich. Sie ist der Raum einer eigenen sozialen Welt, auf die die Eltern keinen Zugriff haben. Junge Menschen sind in der Bewältigung der Entwicklungsaufgabe der Autonomie gestoppt und gehemmt worden und wurden auf frühere Entwicklungsstufen zurückgeworfen, und das unerwartet, unvorbereitet, und ohne dass sie darauf einen Einfluss hatten", erklärt Sindelar weiter.

Dazu kommt, dass zentrale Ereignisse, wie etwa die Maturafeier, ausgefallen sind. "Das sind unwiederbringliche Verluste. Es gibt im Laufe des Erwachsenwerdens Festlichkeiten, die eine Art Ritual darstellen, das den Abschluss einer Lebensphase und den Beginn einer neuen Lebensphase markiert: die Lehrabschlussfeier, die Maturafeier, die Maturareise, die Sponsionsfeier, zum Beispiel", so die Psychologin. Junge Menschen haben große Angst davor, das Gefühl der Zugehörigkeit zu verlieren. Diese Angst sei real spürbar, so die Psychologin. Dafür nehme man in diesem Alter auch das Risiko einer Corona-Infektion in Kauf: "Die erscheint weniger bedrohlich als das Gefühl, nicht dazuzugehören. Junge Menschen gehören zur Risikogruppe der sozial Einsamen, das wissen sie."

Diese als verantwortungslos verteufelte Einstellung hat aber primär mit der bisherigen Lebenserfahrung der Jungen zu tun. "Die Erfahrung junger Menschen mit Krankheit ist üblicherweise, dass Krankheit etwas ist, was zeitlich begrenzt ist und spurenlos vorbeigeht. Der Mensch zieht aus seiner Vergangenheit Schlüsse, wie die Zukunft sein wird. Daher erwartet der junge Mensch, dass es so bleiben wird. 'Die schweren Verläufe von Corona treffen auch die anderen, die Alten' und nicht sie selbst -so haben sie es bis vor Kurzem gehört." Dabei sind die Folgen der Corona-Krise auch auf die Jugend nicht zu unterschätzen: Posttraumatische Belastungsstörung, Angststörung, psychosomatische Symptome, Leistungs-und Beziehungsstörungen nennt Brigitte Sindelar als mögliche psychische Langzeitfolgen.

Dass also ausgerechnet das Sozialleben der Jungen so geringgeschätzt wird, ist paradox. "Je geringer die eigene Resilienz, also die Widerstandskraft gegen seelische Belastungen, desto größer und nachhaltiger werden die Auswirkungen sein. Wir müssen mit einem deutlich steigenden Bedarf nach psychotherapeutischer Unterstützung rechnen. In unserem psychotherapeutischen Zentrum sind wir bereits damit konfrontiert."

Todesstoß für Nachtgastronomie

Die Unbegrenztheit und Unabsehbarkeit der Corona-Maßnahmen hatte einen Anstieg illegal veranstalteter Partys zur Folge und diese verschlechterten den Ruf der Jungen und auch den der Gastronomie weiter massiv. In ländlichen Gebieten, in denen kaum Möglichkeiten zum sozialen Austausch gegeben sind (bis auf das hiesige Wirtshaus vielleicht), trifft sich die autofahrende Jugend auch Monate nach dem Lockdown noch auf Parkplätzen. Auch wenn Abstandsregeln und Maskenpflicht eingehalten werden, ist die Polizei meist sofort zur Stelle, um die kleinen Gruppen wieder zu zerstreuen, berichten Jugendliche aus dem Bezirk Braunau. Gedroht wurde ihnen mit Besitzstörungsklage. Dass sie wie Verbrecher behandelt werden, verunsichert die harmlosen Jugendlichen noch mehr.

Daneben wird eine ganze Branche systematisch ausgehungert. Musiker und Musikerinnen, Veranstaltende, Clubs, Soundund Lichttechniker und -technikerinnen, Fotografen und Fotografinnen sowie viele andere Selbstständige klagen über Existenzängste und fühlen sich im Stich gelassen. Der Fixkostenzuschuss für die Nachtgastronomie ist für viele deshalb nur ein kleines Zugeständnis, das viel zu spät erfolgt. Viele kritisieren, dass das Problem (nämlich illegale Partys ohne jegliches Sicherheitskonzept) trotzdem nicht an der Wurzel gepackt wird.

Frederika Ferková ist Mitglied des "Hausgemacht"-Techno-Kollektivs und Mitorganisatorin der "Sex-positive-Parties" in Wien, die wichtige und sichere Orte für sexuelle Minderheiten darstellen. Sie prangert vor allem die österreichische Freunderlwirtschaft an, die in Wien dazu führt, dass Events wie das Donauinselfest zumindest in veränderter Form stattfinden dürfen, während unabhängige Clubs zubleiben müssen. "Für Schnitzelgutscheine gab es Geld, für Clubs und Veranstaltende nicht. Was wir wissen: Wer sicher feiern will, muss outdoor feiern. Der österreichische Sommer ist kurz. Nicht nur, dass 800 Veranstaltungen im Rahmen des Kultursommers und des Donauinselfestes der freien Veranstalterszene die Gäste völlig abgraben, es bringt den Gästen auch bei, dass alles immer gratis ist. Und natürlich hat sich die Stadtregierung im Wahljahr strategisch gute Freiluftorte gesichert. Die freie Veranstalterszene wurde weder angeschrieben noch angefragt", bemängelt die 28-Jährige.

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Somit bleibt der Eindruck, dass Künstler und Künstlerinnen, die einen guten Draht ins Rathaus haben, auftreten und Geld verdienen dürfen, während andere durch die Finger schauen, so die Organisatorin. "Es gab weder einen Castingaufruf noch ein Einbinden in irgendeiner Form. Das macht mich wahnsinnig wütend, weil es verlogen ist und man diesen 'Top-Down'-Zugang zur Kultur generell in Wien nicht erst seit Corona beobachten kann."

Auch sie kritisiert das fehlende Verständnis für junge Menschen und die Blindheit der Regierung. Die steigenden Fallzahlen durch junge Urlaubsrückkehrer sieht sie als logische Konsequenz ignoranter Maßnahmen. "Fortgehen ist nicht nur 'saufen' und dumm gelebter Eskapismus. Fortgehen hat einen großen sozialen und kulturellen Faktor. In dem Alter hat man andere soziale Bedürfnisse als beispielsweise ein Familienvater oder eine Pensionistin, die nicht mehr neue Menschen kennenlernen müssen. Für sie aber ist das Café oder Museum nach wie vor offen, sie können ihre sozialen Bedürfnisse ausleben. Junge Menschen können das nicht."

Eine ganze Branche wird ihrer Lebensgrundlage und eine junge Generation ihrer Erfahrungen beraubt. "Wir alle haben sie, die Erinnerungen an die Jugend, an das eine Festival, an den einen Fehler, den man auf einer Party gemacht hat. Wir realisieren nur nicht, wie wichtig das für unsere Identität war", so Ferková. Dass dann auch noch auf die Jungen und ihre Smartphones geschimpft wird, findet sie überheblich. "Wenn ich in nächster Zeit auch nur einen Artikel von einem alten Mann lesen muss, der sich über die Jugend und ihren Hang zum Smartphone echauffiert, dann flippe ich komplett aus. Gerade passiert für junge Menschen das Leben eben nur im Netz und in Apps, wo keine Eltern sind, wie zum Beispiel TikTok. Wo sollen sie sonst hin?"

Negativbeispiel Kroatien

Die Ignoranz der Bedürfnisse junger Menschen sei mitunter ein Grund dafür, dass viele nach Kroatien "Dampf ablassen" gefahren sind. "In Kroatien - wie in vielen anderen europäischen Ländern -haben im Gegensatz zu Österreich die Clubs aufgemacht. Es ist für mich völlig logisch, dass junge Menschen dann auch die Möglichkeit wahrnehmen und einen Club besuchen. Besonders, wenn sie nicht aus einer Bundeshauptstadt kommen und somit nicht mal in den Genuss von Freiluft-Veranstaltungen kommen", meint die Organisatorin.

Ein durchdachtes Sicherheitskonzept könnte sicheres Feiern aber auch hierzulande möglich machen. "Natürlich sollten Öffnungen von Clubs nur mit einem Sicherheitskonzept passieren, diesbezüglich sollte man Kroatien kritisieren und sicherlich nicht junge Erwachsene. Außerdem ist es einfach die Folge davon, dass die Bundesregierung und auch die Länder die Interessen von jungen Menschen konsequent ignorieren."

Ferková versteht aber die Angst vor Cluböffnungen, die Negativbeispiele aus Kroatien bewirken. Sie kritisiert Clubs, die ohne Sicherheitskonzept eröffneten oder unzulänglich kontrollierten. Dabei hätten aber vor allem Clubs die nötigen Kapazitäten, um Auflagen strenger zu überwachen. "Eine Möglichkeit wäre, Einlassslots zu gestalten, dass sich am Eingang nie eine Schlange bildet. Ich würde am Eingang einen Ausweis, eine Telefonnummer und die Meldeadresse verlangen, damit schnell und vor allem verlässlich alle kontaktiert werden können, im Fall eines Falles." Clubs nicht zu überfüllen, Temperaturmessungen am Eingang und Maske am Dancefloor schlägt sie als weitere Maßnahmen vor. Auch andere Veranstaltende wurden kreativ, aber eben nicht erhört. "Der Veranstalter Gerald van der Hint hat zusammen mit dem Wiener Club 'Grelle Forelle' ein mehrseitiges Konzept erarbeitet, das bis heute keine politisch-öffentliche Beachtung fand. Das ist, gelinde gesagt, einfach dumm, da zurzeit einfach Privatpartys ohne Contact Tracing und ohne jegliche Sicherheitskonzepte passieren", so Ferková. Dieser Mangel an Sicherheit könnte sich nicht nur im Sinne der Corona-Fallzahlen negativ auswirken. Auch sexuelle Übergriffe und Diebstähle können durch den Mangel an Kontrolle öfter vorkommen, mahnt die Organisatorin.

Brauchbare Lösungen finden

Dass die Nachtgastronomie monatelang ignoriert wurde und immer noch ignoriert wird, löst das Problem noch lange nicht. Im Gegenteil. Es fördert illegale Veranstaltungen und erhöht Ansteckungen durch mangelnde Hygienemaßnahmen. Dass junge Menschen auf solchen Partys freiwillig Abstand halten, bezweifelt Ferková: "Abstandhalten ist illusorisch und wird nicht eigenverantwortlich wahrgenommen. Vor allem dann nicht, wenn es noch keine Routine ist. Das Masketragen ist möglich, das habe ich schon oft gesehen. Aber für eine solche Überwachung gäbe es ja Securitys und Angestellte, die die Einhaltung der Maßnahmen sicherstellen. Bis es eben Routine wird." Eines ist sicher: Ein Zurück zur Normalität wird es so schnell nicht geben. Langfristige Lösungen zu finden wäre deshalb besser als eine ignorante Verbotskultur zu fördern und die Jungen zu kriminalisieren.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (35/2020) erschienen!