Eine Generation
unter Hausarrest

Knapp 1,7 Millionen Menschen sollen bis auf Weiteres in ihren Wohnungen bleiben. Gerade für unsere alten, alleinstehenden Mitbürger beginnt ein Leben in Einzelhaft: Wie gehen sie damit um? Und wie können wir alle von ihnen Gelassenheit lernen?

von Corona - Eine Generation
unter Hausarrest
© Bild: Ricardo Herrgott/News

Nein, nein, beschwichtigt Johann, da müsse schon mehr daherkommen, um ihn von seinen ganz alltäglichen Ritualen abzuhalten. Jeden Tag, so gegen 16 Uhr, kredenzt er sich selbst ein Gläschen Martini Rosso und veredelt es mit einem Schlückchen Gin. "Wer seine Gewohnheiten vernachlässigt, vernachlässigt sich selbst", sagt er. Im vollgerammelten Holzregal über seinem Schreibtisch stehen alle sieben Bände von "Harry Potter". Dreimal hat er sie schon von vorne bis hinten gelesen. Und irgendwie, das spürt er, bricht nun wohl die Zeit für ein viertes Mal an.

© Ricardo Herrgott/News JOHANN, 83, ALLEIN ZU HAUS: ANGST, ABER KEINE PANIK

Johann ist 83 Jahre alt, lebt alleine auf 50 Quadratmetern in Wien-Ottakring und gehört aufgrund seines Alters und der Langzeitfolgen einer schweren Erkrankung zur sogenannten Corona-Hochrisikogruppe. Knapp 15 Prozent aller Infizierten jenseits der 80 Jahre versterben an dem weltweit wütenden Virus, das ergeben Statistiken aus dessen Herkunftsland China.

Das Millionenprojekt

Und für uns in Österreich bedeutet das: Mitbürgerinnen und Mitbürger jenseits der 65 sollten, so weit der dringliche Appell des Bundeskanzlers, ihre eigenen vier Wände für die nächsten Wochen tunlichst nicht mehr verlassen. Zur Verdeutlichung: Das sind unterm Strich fast 1,7 Millionen Menschen -mehr, als in allen Landeshauptstädten zusammen leben. So viele, wie vor zehn Jahren noch in ganz Wien wohnten!

Unter ihnen befinden sich zwar viele, die noch den Partner oder die Partnerin an ihrer Seite haben, viele, die in den nunmehr fast hermetisch abgeschotteten Pflege-und Altenheimen untergebracht sind und dort rund um die Uhr betreut werden. Doch am Härtesten und Unvermitteltsten trifft die Corona-Epidemie wohl all jene, die alt sind und alleine leben. Menschen wie eben Johann. Oder Elfriede.

Der Gesellschaft enthoben

Elfriede sitzt alleine in ihrer Wohnung im neunten Stock unweit des Pratersterns. Von ihrem Balkon aus sieht sie auf die Weiten der Geisterstadt Wien hinunter, auf das weitläufige Grün des Praters. Dort oben aber ist Elfriede bis auf die rührige Einkaufshelferin des Roten Kreuzes und den Morgenbesuch der Fürsorgerin der menschlichen Gesellschaft völlig enthoben.

© Ricardo Herrgott/News ELFRIEDE, 97, ALLEIN ZU HAUS: DANKBAR TROTZ ALLEM

Der Sohn und die Schwiegertochter, die beiden Enkerln und die zwei Urenkerln, kurzum, alle, die sie bislang betreuten und versorgten - sie sind nunmehr mit Besuchsverbot belegt. Am 11. März 2020 feierte Elfriede ihren 97. Geburtstag. Kaum zehn Tage liegt das zurück, und trotzdem erscheint es wie ein Datum aus einer anderen Zeit. Gemeinsam mit der Enkelin, die extra aus Köln angereist war, war man noch gemütlich auswärts essen. Nun wärmt sich Elfriede tagtäglich die Mahlzeiten auf, die ihr zu Wochenbeginn geliefert werden. Hausarrest unter verschärften Bedingungen, so würden wir das aus der Perspektive unserer rastlosen Vergnügungs-und Leistungsgesellschaft taxieren. "Was wollen Sie, ich habe meine Lieben ja am Telefon um mich, kann reden, wann immer mir danach ist - einsam und alleine würde ich mich nur fühlen, wenn man auf mich vergisst." So taxiert das Elfriede. "Ich fühle mich gar nicht eingesperrt, ich habe ja zwei Balkone."

Andere misten jetzt ihre Garderoben und begehbaren Schränke aus, intensivieren, um kör perlich in Bewegung zu bleiben, den Frühlingsputz bis ins Neurotische. Elfriede hingegen nutzt die Zeit der Isolation, um all ihre Erinnerungen zu sortieren. Denn dafür bedarf es keiner Turnübungen, bei denen man, wie vor ein paar Wochen passiert, hilflos über den Teppich stolpern könnte -sondern ausschließlich geistiger Beweglichkeit. Und für die ist Elfriede dankbar.

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"Warum", fragt sie sich, "sollte ich ausgerechnet jetzt in Panik verfallen?" Fast ein Jahrhundert an Lebenserfahrung hat sie bereits hinter sich, viel Schmerzliches hatte sie zu verwinden, viele Glücksmomente hatte sie ausgekostet. Aber alles in allem ist sie sehr zufrieden mit dem, was sie hatte. Und das wiederum macht sie zufrieden mit dem, was sie hat.

"Viele Menschen", sagt die renommierte Wiener Psychologin und Psychotherapeutin Brigitte Sindelar, "schaffen es nicht mehr, sich einfach nur mit sich selbst zu beschäftigen." Aber mit ein bisschen Übung könne man sich durchaus in die neue Situation einfinden.

Hinausgehen darf Elfriede also bis auf Weiteres nicht mehr. Aber in sich gehen, das kann sie. Und zurückdenken.

Der Tod des Vaters. Den Krieg hatte er überlebt, doch kurz darauf verhungerte er am Weg nach Wien. Für Elfriede, die junge Frau, ein schwer verwindbares Trauma. Lange, bis weit in die Fünfzigerjahre hinein, lebte sie, die einstige Buchhalterin, in höchster Bescheidenheit. Doch mitten in diese Zeit fiel auch ihr größtes Glück, ihr größter Reichtum. Der 12. April 1947, die Hochzeit mit Georg, ihrem "Schorschi". Seit sie sich als Siebzehnjährige beim Tanz ineinander verschaut hatten, waren sie unzertrennlich. Bis Georg vor fünf Jahren verstarb. Seither steht ein gerahmtes Bild auf Elfriedes Wohnzimmertisch: ihr Mann und sie. Wenn bei Elfriede nicht gerade der Fernseher läuft und sie sich Geschichts-oder Naturdokumentationen ansieht, so ist dieses Bild für sie eine Art Fernseher ins Gestern.

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"Es gibt keinen Stunde, in der ich mich nicht an den Georg oder irgendein gemeinsames Erlebnis erinnere", sagt sie. Kameraden fürs Leben, das seien sie gewesen. Und genau das sei auch, worauf es in diesen Tagen ankomme. "Die Menschen müssen einander Kameraden sein, dann schaffen wir das schon, auch diese Zeiten werden vorübergehen."

"Die Kraft der Erinnerungen stärkt die Widerstandskraft der Seele gegen besondere Belastungen", erklärt Expertin Sindelar. Und genau diese seelischen Widerstandskräfte sind es, die wir nun alle benötigen.

Das Hiobs-Stakkato

Bewohnerin von Altersheim mit Covid 19 infiziert; Personal in Quarantäne; Grenzen zu Tschechien und zur Slowakei zu; Engpässe bei Pflegekräften; ganze Abteilungen an Krankenhäusern gesperrt; immer mehr Ärzte unter Quarantäne; bislang fast alle Corona-Toten Teil der Hochrisikogruppen: Die Live-Ticker der Newsportale verbreiten mittlerweile im Minutentakt Hiobsbotschaften, der mediale Alarm mutiert wie ein bösartiges Virus von der raren Ausnahme zur unumstößlichen Regel. Und keiner, der wachen Geistes ist, kann sich dieser Informationsflut entziehen.

Aber was tun, wenn all das ungefiltert und unbesprochen auf einen einzelnen, alleinstehenden Menschen niederprasselt? Was tun, wenn da niemand ist, mit dem man sich persönlich darüber austauschen, mit dem man die Last der Sorge irgendwie teilen kann? Wie Johann, 83, auf unabsehbare Zeit allein zu Hause in seiner kleinen Wohnung in Wien-Ottakring. "Natürlich mache ich mir so meine Gedanken", sagt er. "Und wenn ich sagen würde, ich hätte keine Angst, so wäre das eine Lüge."

Doch Johann versucht, sich mit seiner Angst auch in seiner nunmehrigen Einzelhaft zu arrangieren, ihr gerade im Gefängnis seiner eigenen vier Wände möglichst wenig Raum zu gestatten. "Mein Körper ist zwar reparaturbedürftig, aber mein Gehirn ist voll in Ordnung", sagt er. Meistens sitzt er, weil ihm Gicht und Muskelkrämpfe immer wieder zu schaffen machen. Doch in Telefonkontakt mit der Außenwelt steht er, wie er sagt, "laufend". Und lächelt verschmitzt über sein kleines Wortspiel. Früher, da traf er sich regelmäßig mit all den alten Freunden und Bekannten beim Heurigen. Das eine Mal traf man sich draußen in Grinzing, das andere Mal in der Dornbacher Pfarre, zu der auch ein paar Weingärten gehören. Nun hat Johann die Flasche mit dem gemischten Satz, die ihm die Einkaufshilfe des Roten Kreuzes mit all den anderen Lebensmitteln vom Supermarkt brachte, daheim auf dem Wohnzimmertisch stehen. "Bis vor Kurzem habe ich mit all diesen Menschen noch persönlich angestoßen -jetzt telefonieren wir halt miteinander, und zwar wirklich regelmäßig, sodass der Kontakt nicht abreißt." Es gehe jetzt darum, Rituale beizubehalten, bekräftigt Psychologin Sindelar.

Johann wohnt im zweiten Stock, doch auch den Draht nach ganz, ganz oben hält er ohne Wenn und Aber aufrecht. Am Abend vor dem Schlafengehen und in der Früh nach dem Aufstehen wird konsequent gebetet. "Ich bin fest davon überzeugt, der Herrgott hilft einem dabei, dass man nicht zugrunde geht. Das heißt aber nicht, dass im Leben immer alles so ist, wie man es sich wünscht."

Kein Wunschprogramm

Nun aber ist es eben vorerst so, wie es ist. Doch Johann hat nicht vor, daran zu verzweifeln, nein, ganz im Gegenteil. Denn da sind sehr wohl noch Wünsche, über die er jetzt sehr intensiv nachdenkt, künftige Reisen, die er sich ausmalt - und die direkt an Erlebtes aus der Vergangenheit anknüpfen. Fotos, Reiseprogramme, Eintrittskarten zu den großen Sehenswürdigkeiten, all das hat Johann, der gelernte Buchhalter, fein säuberlich archiviert. Da sind die dicken Fotoalben seiner Trips, in die er sich in Tagen wie diesen oft und gerne vertieft. Bis auf Russland hat er bereits jedes europäische Land bereist, in Südamerika war er, in China, sogar in Tibet. "Ich habe Heinrich Harrers Aufzeichnungen verschlungen, weil ich mir dachte, dass ich dort wohl niemals hinkommen würde." Dann war er doch dort, sogar zweimal. Und nun bringen ihm Bilder die Erlebnisse zurück.

Auf seinem dunkelbraunen Vitrinenschrank stehen fünf Segelschiffmodelle dicht an dicht und parallel ausgerichtet wie eine stolze Flotte. Einmal, ein einziges Mal würde Johann gerne selbst auf einer großen Yacht mitfahren. Irgendwann, wenn das Land wieder offen ist und die See möglichst ruhig. Denn Johann hat immer wieder Gleichgewichtsstörungen. Also wartet er, bis sich die Wogen der Welt wieder glätten.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 12/20

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