Unsere "Cover your Ass"-Mentalität zeigt die Mutlosigkeit der Gesellschaft

Ungeachtet der von der Regierung angeordneten Maßnahmen gehen Menschen auf die Straße, um dafür einzustehen, woran sie glauben. Die Tatsache, dass sie dabei die Gesundheit anderer gefährden, wird offenkundig ignoriert. Die anderen sehen zu und schweigen. Warum dieses Verhalten auch unsere Zukunft als erfolgreicher Wirtschaftsstandort gefährdet, erklärt Philipp Depiereux.

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Gastbeitrag - Unsere "Cover your Ass"-Mentalität zeigt die Mutlosigkeit der Gesellschaft
Philipp Depiereux treibt seit über zehn Jahren als Gründer und Geschäftsführer der Digitalberatung und Startup-Schmiede etventure den digitalen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft voran – mit neuen Denkweisen und neuen Methoden. Seit 2017 ist etventure ein unabhängiges Tochterunternehmen der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY (Ernst & Young).
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2018 gründete er zudem das Non-Profit-Format ChangeRider, ein Video- und Podcastformat über Pioniergeist statt Panik, Mut statt Angst, Erfolgsgeschichten statt Negativbeispiele zum Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft. Hier erzählen Menschen aus Politik, Wirtschaft, Forschung und Gesellschaft, wie sie den Wandel gestalten, die digitale Transformation vorantreiben sowie Land und Menschen eine lebenswerte Zukunft aufzeigen.

Was dieser Tage vor allem in Deutschland, aber eben nicht nur hier, auf den Straßen vor sich geht, empfinde ich als sehr befremdlich. Wir sind - hier kann ich Österreich guten Gewissens mit einbeziehen - im internationalen Vergleich bislang unglaublich gut durch diese Corona-Pandemie gekommen. Wir haben das systemische Risiko, dass unsere Gesundheitssysteme die Erkrankungen nicht bewältigen können, nahezu perfekt gemeistert. Aber statt stolz zu sein und diese Ausgangssituation jetzt als Chance zu begreifen, unser Wirtschafts-, Bildungs- und Gesellschaftssystem neu, zukunftsoffen und nachhaltig auszurichten, gehen Teile unserer Gesellschaft auf die Straße, um gegen Maskenpflicht und die getroffenen Maßnahmen zu demonstrieren.

Die Demonstrationen sind wohlgemerkt nicht das Problem. Ich finde es großartig, wenn Menschen mutig für ihre Überzeugungen auf die Straße gehen. Aber mit Blick auf die Gefahren, die angesichts aktuell gestiegener Infektionszahlen immer noch von dem Coronavirus ausgehen, ist meine Erwartung, dass die Vorkehrungen und Regeln zur Bekämpfung desselben eingehalten werden. Das gebietet der Respekt gegenüber der Allgemeinheit.

Es gäbe durchaus vieles, wogegen man in Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen protestieren könnte. So sind kleine und mittelständische Branchen unter Druck geraten, ganz schlimm ist der Notstand bei den Hilfsmaßnahmen für Selbstständige. Auch die Tatsache, dass die Pflegeberufe, die vor einigen Wochen noch als systemrelevant im Fokus der Berichterstattung standen und von Balkonen beklatscht wurden, noch immer keine grundlegend besseren Bedingungen erhalten haben, wäre - in Deutschland wie in Österreich - ein Grund zu demonstrieren.

Die verrohte Maskendebatte, die auf den Straßen und in sozialen Netzwerken erbittert geführt wird, ist etwas anderes. Aus den Hygiene-Demos und Montagsmahnwachen ist eine Art Pegida-Bewegung geworden. In Österreich geht man unter dem Deckmantel "Freiheit und Frieden", wie es zuletzt in Bregenz der Fall war, auf die Straße. Hier geht es teilweise um irrationale Argumente und um so genannte Querdenker, die Verschwörungstheorien verbreiten, unsere Demokratie als Diktatur bezeichnen, die es abzuschaffen gelte. Das ist sicherlich ein kleiner Teil unserer Gesellschaft, aber er vergiftet das Klima, unterwandert das Vertrauen in demokratische Institutionen. Und er verbreitet neben den Viren auch Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit.

Verschwörungstheorien gesellschaftlich akzeptiert

Aber wo bleibt der Aufschrei? Hier werden Fake-News, Verschwörungstheorien bis hin zu rechtsradikalem Gedankengut aufgewertet und erfahren gesellschaftliche Akzeptanz, weil sich nahezu niemand von ihnen distanziert. Wir dürfen das nicht dulden. Ich frage mich aber, wo die Vorbilder unserer Gesellschaft sind, wo die Konzern- und Unterrnehmens-Lenker, die Influencer, die Sportler, TV-Stars und die vielen anderen, die sich mühelos Gehör verschaffen können und sich damit mutig den Verschwörungstheorien auf der Straße und in den sozialen Netzwerken sowie in der Presse entgegenstellen. Und noch wichtiger, die mit ihren Statements die große stille Mehrheit bewegen und motivieren, ihrerseits aktiv zu werden. Aber bis auf vereinzelte Reaktionen bleiben sie aus. Die Gesellschaft, wie ich sie beobachte, ist saturiert und hat sich in ihre Komfort-Zone zurückgezogen – trotz oder erst Recht wegen Corona.

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Was es heißt, sich in diese Debatte einzumischen, habe ich selbst erlebt. In dem sozialen Berufsnetzwerk LinkedIn hatte ich erst kürzlich ein Statement gepostet, in dem ich die Menschen, die ohne Abstandsregeln und Mundschutz zu Zehntausenden auf den Straßen demonstrieren, für ihr egoistisches und unsolidarisches Verhalten kritisiere. Es sei nun an der Zeit, als Staat hart durchzugreifen und eine "Zero-Tolerance"-Linie zu fahren. Auch jede(r) Einzelne sei gefragt, sich mutig gegen Menschen, auch aus dem Familien- oder Freundes- und Bekanntenkreis zu stellen, die hier alles leichtfertig aufs Spiel setzen, was wir bis hier hin als Gemeinschaft erreicht haben.

Was dann passiert ist, hat mich wirklich überrascht: In drei Tagen sahen knapp 300.000 Menschen meinen Post, knapp 3.000 versahen ihn mit einem Like und über 1.000 Kommentare kamen zusammen. Was mich fast noch mehr überrascht hat, ist jedoch die Respektlosigkeit und der unverstellte Hass, der mir in einer unglaublichen Vielzahl von Kommentaren von Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern entgegenschlug – wohlgemerkt in einem auf Business fokussierten Netzwerk von Mitgliedern mit Klarnamen und Angaben zu Beruf und Unternehmen. Sie schimpften und beleidigten mich, und weitere Mitglieder des sozialen Netzwerks verbreiteten Fake-News, wie man es sonst nur noch bei US-Präsident Trump erlebt.

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Die "Cover your ass"-Mentalität

Auch wenn ich die Ansichten der Demonstranten nicht teile, die Ignoranz gegenüber den Corona-Regeln und vieles mehr an Art und Weise der Kommunikation und des Protests scharf verurteile – anstatt hier viel Kraft und Zeit darauf zu verwenden, zu kritisieren, was bei den gegenwärtigen Querdenker-Protesten alles falsch läuft: Sie haben eines, was ich in der Breite unserer Gesellschaft vermisse: Mut.

Schuld daran ist die in unserer Gesellschaft weit verbreitete "Cover your Ass"-Mentalität. Dazu gibt es tatsächlich einen Wikipedia-Eintrag, der die Handlung einer Person beschreibt, die sie in einem arbeitsbezogenen oder bürokratischen Kontext vor möglicher späterer Kritik, rechtlichen Sanktionen oder anderen Konsequenzen schützt. Ein Phänomen, das mutige, zukunftsgerichtete Entscheidungen verhindert und uns alle weiterhin in unserer Saturiertheit und Nicht-Veränderungsbereitschaft verharren lässt oder - wie im Fall der Corona-Demonstrationen - die egoistischen Demonstranten gewähren lässt.

Alle haben Angst vor dem Shitstorm

Es geht den CEOs, Sportlern, Influencern und vielen anderen Menschen um Absicherung, die gleichzeitig für Stillstand sorgt. Alle haben Angst vor dem Shitstorm, der unter Umständen auf sie einprasseln könnte. Sie haben Angst, dass ihre Verträge nicht verlängert werden, Bücherkäufe einbrechen, Einschaltquoten zurückgehen, die Follower-Anzahl massiv sinkt oder möglicherweise der laufende Werbevertrag gekündigt wird oder es eben keinen neuen gibt. Dieses Verhalten führt uns geradewegs in die Drittklassigkeit.

Meine Erwartung ist, dass sich allen voran die gesellschaftlichen Vorbilder klar bekennen und sich mutig und faktenbasiert Fake-News entgegenstellen – in der Öffentlichkeit, in den jeweiligen Unternehmen, aber auch im Bekannten- und Familienkreis. Damit zeigen sie, um auf mein Beispiel zurückzukommen, dass die Corona-Leugner mit ihrem Hass und ihren Verschwörungstheorien in Wahrheit eine kleine Minderheit sind. Sie könnten eine längst überfällige Bewegung lostreten – auch für den Wandel.

Denn die Welt ändert sich so schnell und wird sich in Zukunft noch viel schneller drehen - hier müssen wir die Veränderung aktiv mitgestalten. Dies wird aber nur gelingen, wenn wir die unangenehmen Themen ansprechen und mehr Mut in Statements, in der Diskussion und im Wandel zeigen und vor allen Dingen eine offene Diskussions- und Dialogkultur entwickeln!

Dies sind wichtige Grundlagen, um die Transformation von einem erfolgreichen industriellen Europa zu einem erfolgreichen digitalisierten Europa zu gestalten. Es ist ein Kulturwandel und kein Technologiewandel, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht. Das heißt auch den Wandel unter den Aspekten zu gestalten, die uns heute schon wichtig sind, nämlich Werte und Ethik zu berücksichtigen. Wenn wir dies beachten, lassen wir auch keine Menschen in unserer Gesellschaft zurück und verhindern die (weitere) Spaltung unserer Gesellschaft.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. News.at macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.