Sie stehlen uns das Alter

von Ältere Frau © Bild: iStockphoto.com/RapidEye

Hallo, hören Sie mich?", fragt eine Stimme am Telefon. "Ja, sicher hör ich Sie, taub bin ich noch nicht", antwortet Judith. Sie hat den Lautsprecher eingeschaltet, das Telefon neben den Herd gelegt und geht wie jeden Morgen die paar Schritte vom Kühlschrank zum Esstisch, stellt Butter, Käse und Marmelade vor die beiden Teller, holt zwei Tassen aus einem weißen Schrank mit runden, verzierten Holzgriffen und zwei Messer aus der Bestecklade. "Ich rufe Sie an, weil sie über 65 sind und wir vom Sozialdienst alle Pensionisten fragen, ob auch alles in Ordnung ist", sagt die Stimme. Judith legt drei Scheiben Brot in den Toaster, ist unruhig und nervös, ein Messer fällt zu Boden, sie nimmt die falsche Marmelade aus dem Kühlschrank. Robert steht schweigend in der Tür, bis aus dem Telefon wieder ein "Hallo" kommt und er zu Judith sagt: "Jetzt antworte ihr doch!" "Sprich doch du mit ihr", sagt Judith. "Sag ihr, es geht uns blendend, sag ihr, unsere Enkelin hat heute morgen ihre Feier für die Hochzeit abgesagt, zum dritten Mal, jetzt heiratet sie am Standesamt ohne ihre Großeltern, Freunde und Verwandte. Manche haben wir seit Jahren nicht gesehen!" Dabei beugt sie sich über das Telefon und spricht besonders laut. "Das tut mir aber leid", sagt die Stimme. "Aber sind Sie wenigstens gesund?"

Gesundheit

"Ja, sind wir", sagt Robert laut. Er steht immer noch in der Tür. "Das ist doch das Wichtigste, und der Lockdown ist auch bald vorbei, dann wird ihre Enkelin sicher die Hochzeitsfeier nachholen", sagt die Stimme. "Nein, wird sie nicht!", reagiert Robert gereizt. "Es reicht ihr, voriges Jahr verschoben, das Jahr zuvor ""Natürlich können wir warten, wir haben doch Zeit", fällt Judith ihm ins Wort. "Was ist schon ein Jahr, wenn du 30,40 oder 50 bist. Letztes Jahr die Promotion von David, unserem Enkel, dann der 75. Geburtstag meines Mannes, den wir groß feiern wollten, und unsere goldene Hochzeit. Alles abgesagt. Was bleibt uns noch? Der Esstisch, das Sofa und der ORF?"

"Es geht doch allen so", versucht Robert, sie zu beruhigen. Die Stimme am Telefon spricht weiter, doch die beiden hören nicht zu.
"Allen? Welche allen? Eben nicht", fährt Judith ihn an. "Du willst es nicht wahrhaben, aber wir haben keine Zeit mehr, es ist zu spät zum Verschieben, zu spät für alles, worauf wir uns gefreut haben!"
"Was meinst du mit zu spät?", fragt Robert. Er schlüpft hinter ihr vorbei und setzt sich auf seinen Platz auf der Bank hinter dem Esstisch.
"Hallo, hören Sie mich noch?", fragt die Stimme.
"Ja, ich höre Sie", sagt Judith. "Ich kann Ihnen meinen Alltag der letzten Monate beschreiben, was so rund um mich passierte. Es war für meine Freundin Sofia zu spät, als ihre Enkelin den ersten Geburtstag feiern sollte, den zweiten wird sie versäumen, egal, ob Lockdown oder nicht. Es war für Getraut zu spät, als wir ein paar Monate nicht Karten spielen konnten, sie lag dann im Krankenhaus und hat es nicht geschafft. Es war für Susanne zu spät, als wir mit dem Tennisspielen wieder anfangen durften, sie sitzt jetzt im Rollstuhl."
"Das tut mir leid", sagt die Stimme leise.

Freunde

"Einer meiner Freunde stürzte mitten in der Nacht in seiner Wohnung, keiner war da, ihm zu helfen, der andere nahm eine Überdosis, weil er die Einsamkeit nicht mehr ertrug", sagt Robert. "Ich konnte nicht einmal zum Begräbnis gehen. Trotzdem, ich geb nicht auf!" "Du gibst nicht auf, versuchst du es mit lustig was bleibt dir denn ohne deine Kaffeehausrunde und deinen Tennisklub?", fragt ihn Judith. "Die Spaziergänge mit Alfred, immer derselbe Hügel, was wirst du tun, wenn er stolpert und sich das Bein bricht?" "Ich weiß nicht", antwortete Robert. "Vielleicht geh ich allein oder erschieß mich." Judith lacht. "Du und erschießen, du hast im Prater an der Schießbude noch nie eine Blume getroffen, wenn du auf deine Schläfe zielst, schießt du dir garantiert die Nasenspitze weg." Sie lachen beide, dann sagt Robert: "Du hast ja recht, wie immer schon, einmal Lehrerin, immer Lehrerin die Pension haben wir uns sicher anders vorgestellt." Sie schweigen beide.

"Hallo?", sagt die Stimme aus dem Telefon.
"Ja, wir sind noch da, und wissen Sie was, erzählen Sie das ruhig weiter: Sie stehlen uns das Alter", sagt Judith plötzlich laut. Robert dreht sich zu ihr: "Wie meinst du das? Wir haben unsere Pension, sind noch gesund, bisher hat uns niemand etwas weggenommen, wieso stehlen?"
"Was du beschreibst, ist ein Überleben und nicht das Leben, das Leben im Alter. Dazu gehören Menschen. Menschen, die mir nahe sind, die mir wichtig sind, an deren Leben ich teilnehmen kann, wenn ich kaum mehr ein eigenes habe, sei doch ehrlich, wir erleben uns durch andere, durch unsere Kinder, Enkel und Freunde nimmt man uns das weg, bleibt nur mehr das Überleben übrig." Robert zuckt mit den Schultern und schweigt. Die drei Brotscheiben springen aus dem Toaster. Judith steckt sie in einen silbernen, verzierten Toastständer.

Helfen

"Wie könnten wir Ihnen denn helfen?", fragt die Stimme.
"Ach hören sie doch auf, Sie können ruhig auflegen, es ist alles in Ordnung hier", sagt Judith ins Telefon. Während die Stimme sich wieder meldet, wendet sie sich an Robert: "In welchem Hotel haben wir den Toasthalter eigentlich gestohlen? Ich kann mich nicht mehr erinnern." Robert lacht und sagt, es könnte in Schottland gewesen sein.
"Du hast recht", sagt Judith. "Es war in St. Andrews, als Georg noch dort studierte. So stolz ist er jetzt auf seinen David. Dass sein Sohn in Oxford das Doktorat machte, hat ihn mehr gefreut als sein eigenes. Und wir durften es als Video bewundern, weil keiner dabei sein konnte. So etwas kann man nicht einfach verschieben, das kommt nie wieder, zumindest für uns nicht. Da redet der Bürgermeister von Solidarität und nimmt sich das Recht, uns beiden unsere täglichen Banalitäten zu stornieren, bevor einer von uns krank wird und langsam zugrunde geht."
"Du klingst richtig verbittert, so bist du sonst nicht", sagt Robert.
"Dein Toast wird kalt", sagt Judith. Doch Robert sitzt ruhig, und keiner der beiden beginnt mit dem Frühstück. Sie schweigen wieder.
Bis Robert plötzlich auffährt und sagt: "Hallo, sind Sie noch da?"
"Ja, sagt die Stimme. "Ich würde Ihnen ja gerne helfen."

Normalität

"Hier ist meine Geschichte, damit Sie uns besser verstehen", sagt Robert. "Unser Tennisklub war einmal zu und dann wieder offen, und jedes Mal, wenn wir wieder spielen durften und wir alten Deppen uns im Klubhaus trafen, hat einer gefehlt. Es war wie bei den zehn kleinen Negerlein, alle paar Wochen ist einer weggestorben oder wurde krank, kam einfach nicht mehr, und wir haben es gar nicht bemerkt. Normalerweise sind viele dort jeden Tag, auch wenn sie nicht spielen, schauen den anderen zu und warten, ob sich jemand zu ihnen setzt, bringen eine Zeitung und haben das Gefühl nicht allein zu sein. Und plötzlich müssen sie zuhause bleiben. Es sind diese Wiederholungen, die wir im Alter genießen, und ganz plötzlich ohne Warnung enden. Jetzt sitz ich zuhause, aus Solidarität mit den Nicht-Geimpften, erklärt man mir, verstehen Sie, was das für die Älteren bedeutet?"
"Ich muss jetzt leider aufhören und andere anrufen, das war sehr interessant, ich wünsch Ihnen alles Gute", sagt die Stimme.
"Na ja, sehr freundlich waren wir nicht zu der", sagt Robert.
"Na und? Sie hat uns doch gefragt, so sind wir wenigstens einiges losgeworden, wem hätten wir es sonst sagen sollen?", antwortet Judith.

"Und, geht's uns jetzt besser?", fragt Robert. Judith schüttelt den Kopf. "Mich kann niemand beruhigen. Ich fühl mich betrogen, irgendwie ungerecht behandelt wie damals als Kind, wenn mich meine Mutter verdächtigt hat, die letzte Schokolade aufgegessen zu haben, dabei war es meine jüngere Schwester, aber mich haben sie bestraft, ich hatte keine Chance, egal, wie ich mich gewehrt hatte. Jetzt behandeln sie uns wie alt gewordene Kinder, dreimal geimpft und bestraft für die Fehler der Anderen."