Warum hat Opa Gottfried keine Angst?

Spätestens seit der Pandemie wundern sich viele über - gerade - ältere Menschen, die offenbar keinerlei Ängste haben. Sie machen einfach weiter und fügen sich den Gegebenheiten. So auch Gottfried, 86.

von Liebes Leben - Warum hat Opa Gottfried keine Angst? © Bild: Nathan Murrell

Christian und Anne studieren Psychologie und Medizin. Um die verborgenen Ängste ihrer Ursprungsfamilie zu bewältigen, haben die Geschwister instinktiv Studienrichtungen gewählt, die auf professionelle Hilfestellung und Heilung ausgerichtet sind. Beide kommen zu mir in Therapie. Typisch: Junge Menschen wie sie übernehmen von Kindheit an die Verantwortung für alles und jedes - vor allem für ihren engsten Familienkreis. Hier liegt ein klassischer Fall von Rollenumkehr vor. Damit ist gemeint, dass Kinder schon früh ihre Eltern beratschlagen und ihrerseits beeltern.

Der Ausdruck "Beelterung" bezeichnet die Elternschaft für mehr biologische denn soziale Eltern sowie schon im Kindesalter die Übernahme von Verantwortung für jüngere Geschwister. Christian und Anne litten am verantwortungslosen Verhalten ihrer Eltern, die beide über weite Strecken partysüchtig und unreif waren. Kinder sollen aber nicht in diese Zwickmühle geraten, für Vater und Mutter "die besseren Eltern zu sein"! Für alles Verständnis zu zeigen und durch Überangepasstheit ("Bravsein") das Fehlverhalten von Mutter und Vater auszugleichen. Genau das ist der Grund, warum sich Menschen quasi stellvertretend in Psychotherapie begeben, weil sie sich um die wirklich kranken Menschen Sorgen machen.

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Christians und Annes Großvater Gottfried rückt schließlich als Vorbild in den Fokus in der Therapiegespräche: Seit der Pandemie fällt ihnen auf, dass er der gelassenste Part in der gesamten Familie ist. Während sich alle anderen Sorgen um ihn machen, sei für Opa Gottfried verblüffender Weise die Welt in Ordnung geblieben! Einschränkungen und Maskenpflicht sind für ihn "einfach so". Nun geht es für Christopher und Anna um die Frage, wie der Opa nach zwei Herzinfarkten und einem Autounfall so "gechillt" sein kann. Die Antwort: Eben darum! Menschen, die schon viel im Leben durchgemacht haben, halten sich oft für resistent. Nahezu unsterblich. Gleichsam unkaputtbar. Wie nun den Großvater zur Einsicht zu bringen, dass auch seine Belastbarkeit Grenzen hat? Die Antwort: am besten gar nicht! Gottfried ist es gewohnt, schicksalhafte Bedingungen fraglos anzunehmen. Sein häufigster Ausspruch, den seine Enkel zitieren: "Das ist so." Oder: "Das war halt damals so." Radikale Akzeptanz! Gottfrieds Generation hatte gelernt, Unveränderliches hinzunehmen, ohne es ständig zu hinterfragen, weil, ja weil es ganz einfach "so ist".

Ist das Weisheit oder Systemkonformität? Sind Menschen wie Gottfried naiv und unreflektiert? Oder Lebenskünstler? Alles mag ein bisschen zutreffen. Diffuse Ängste produzieren Stresshormone, und diese schwächen das Immunsystem. Dass Gottfried durch sein ungebrochenes Urvertrauen mit den Veränderungen in der Pandemie klarkommt, aber auch, dass er ganz einfach sein Leben lebt und sich auf das konzentriert, was er tun und verändern kann. Er werkelt gern in seinem Keller, fährt mit dem Auto zum Supermarkt und umsorgt seine bettlägerige Frau. Sein Leben macht Sinn. Er fragt nicht, er macht einfach. Und Gottfried lebt das Leben weiter, ob mit oder ohne Pandemie. Ganz gewiss ist dieser ungebrochene, fast naive Glaube an das Leben nach der Devise "irgendwie geht's immer weiter" sein Lebenselixier. Christian und Anne spüren, dass sie bei Gottfried Enkelkinder sein können. Er braucht sie nicht, um sich von ihnen befürsorgen zu lassen, er ist als Opa für sie da. Er lebt das Leben ohne große Angst. Warum? Das war schon immer so.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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