Was kostet Gerechtigkeit?

Walfried Janka lebte als Pflegekind bei einer Kindsmörderin, die ihn quälte und schlug, in einer Grazer Psychiatrie gingen die Misshandlungen weiter. Als junger Mann wurde er kriminell. Nun fordert er eine halbe Million Euro vom Land Steiermark

von Chronik - Was kostet Gerechtigkeit? © Bild: Illustration: Arnulf Rödler

Die Geschichte des Mannes, den wir Meinhard nannten, erschütterte vor einem Jahr die News-Leserinnen und -Leser im ganzen Land. Es war die Geschichte eines Lebens, die weh tat: die einer qualvollen Horror-Kindheit in der Steiermark der 1960er-Jahre und zugleich die eines Mannes, der mit nur 20 Jahren einen Mord an einem Wiener Taxifahrer beging.

Heute ist Walfried Janka 52 Jahre alt. Es ist ein besonderer Moment für ihn, denn heute lässt er sein Pseudonym hinter sich und zeigt nun auch der Öffentlichkeit sein Gesicht. Geboren als Oswald, nahm er nach dem langen Gefängnisaufenthalt den Namen seiner Gattin an. Vergangene Woche klebte er den wohl wichtigsten Brief seines Lebens zu und sendete ihn nach Graz. Das mehrseitige Schreiben enthält eine Aufforderung an das Land Steiermark: Walfried Janka fordert 500.000 Euro Entschädigung – für die Misshandlungen und für die fehlende Bildung in Folge fataler Fehleinschätzungen. Die höchste Schadenersatzforderung, die es in Österreich je gab.

Im Alter von nur zwei Monaten kam Walfried Janka zu einer Pflegemutter, die erst kurz zuvor aus der Haft entlassen worden war. Sie hatte ihr eigenes Kind ermordet und geknebelt in den Mistkübel geworfen. Walfried und zwei weitere Pflegekinder durchlebten in den folgenden Jahren brutalste Erziehungsmaßnahmen und Quälereien. Er sei jeden Tag geschlagen worden, direkt nach der Schule in ein dunkles Zimmer ohne Glühbirne gesperrt und litt an gravierender Mangelernährung. Immer wieder habe er den Satz gehört: „Du hast eh niemanden, wenn ich dich umbringe, schert sich keiner um dich.“ Trotzdem konnte die Jugendwohlfahrt keinerlei Auffälligkeiten feststellen. Das auffallend isolierte und eingeschüchterte Vorschulkind kam in weiterer Folge monatelang in die Heilpädagogische Station im Landessonderkrankenhaus Graz, wo man den dürren Buben weiter körperlich misshandelte und schlug. Erst später erfuhr Walfried, dass seine Peinigerin, die Pflegemutter, später noch einmal wegen Kindesmisshandlung verurteilt wurde. Weil ihm ein Psychologe eine geistige Behinderung diagnostizierte – später von einer Ärztin in einem anderen Gutachten als nicht nachvollziehbarer Fehlbefund bezeichnet –, verbrachte er seine Schulzeit zwischen Schwerstbehinderten und verließ sie als Analphabet. Erst während der Haft brachte er sich selbst Lesen und Schreiben bei.

Wertvolle Dokumente

2013 stellte sich Walfried seiner Geschichte, suchte das Bezirksgericht auf und blätterte sich durch den Akt. Weil man ihn diesen nicht kopieren ließ, fotografierte er ihn heimlich ab. Diese Dokumente sind das Wertvollste, was er besitzt, sie belegen all die grausamen Schilderungen mit Fakten und ermöglichten die News-Recherchen. Aus zumindest drei Stellen geht darin eindeutig hervor, dass die zuständige Bezirkshauptmannschaft Leibnitz Kenntnis darüber hatte, dass sich der Bub in Obhut einer Kindsmörderin befand. Als das Grazer Gewaltschutzzentrum kürzlich die Unterlagen zur Begutachtung anforderte, bot sich ihnen ein überraschendes Bild: Plötzlich fehlten etliche Seiten, auch das ärztliche Gutachten zur Fehleinschätzung der Behinderung war auf wundersame Weise verschwunden (siehe Faksimile). Stattdessen wurden die Blätter teilweise bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet und überhaupt nur 224 von insgesamt mehr als 300 Seiten übermittelt. Das restliche Überbleibsel setzt sich zusammen aus komplett blanken Seiten und massenhaft Schwärzungen, etliche Seiten wurden sogar spiegelverkehrt kopiert, die Inhalte sind überwiegend gar nicht entzifferbar.

Trotz der Lücken gelangte das Gewaltschutzzentrum zu der Entscheidung, den Opferfonds des Landes Steiermark zu reaktivieren und Walfried Janka im Februar dieses Jahres eine Entschädigung in Höhe von 25.000 Euro auszubezahlen, dem bisherigen Höchstsatz. Der Psychiater der Einrichtung, erzählt Janka, habe ihn persönlich angerufen und sein Bedauern ausgedrückt, so etwas habe er in seiner gesamten Berufslaufbahn noch nie erlebt. „Der war entsetzt.“ An die hundert weitere Misshandlungs-Betroffene wendeten sich im Zuge der Reaktivierung an Opferfonds, etliche Prüfungsverfahren laufen noch.

© Heinz Stephan Tesarek Walfried Janka berichtet von einer dramatischen Lebensgeschichte. Heute hat er Haus und Familie, er will eine Entschädigung für die Horror-Kindheit

Von der erhaltenen Entschädigung – umgerechnet gerade mal vier Euro pro Tag seiner ersten 16 Lebensjahre – bezahlte Janka seine Schulden und beglich offene Rechnungen. Er selbst bezieht bis heute lediglich 380 Euro Notstandshilfe, seine Frau arbeitet in einer Bäckerei. Eine Heizung im Haus konnte er bis heute nicht einbauen. Seine 16-jährige Tochter ist auf der HLW, sie wird Matura machen, auch der kleinere Bruder (14) will in ihre Fußstapfen steigen. Janka erfüllt das mit Stolz. Wenn er davon erzählt, leuchten seine Augen. „Andere würden bei so einem Leben wahrscheinlich aufgeben, aber ich habe nie etwas hingeschmissen, ich habe immer gekämpft.“ Niemand könne sich vorstellen, wie hart das gewesen sei. „Aber es ging immer nur um eines: einfach überleben.“

Bis heute leidet Walfried Janka an Schlafstörungen, Selbstvorwürfen und Vertrauensproblemen. Auch körperliche Probleme wie Übelkeit und Kopfschmerzen bestimmen seinen Alltag. Ein aktuelles psychologisches Gutachten, das News vorliegt, attestiert ihm eine posttraumatische Belastungsstörung. Das Gutachten zeichnet darüber hinaus einen eindeutigen ­Zusammenhang zur Kindheit.

Am heutigen Freitag wird auf www.ueberlebt.at Jankas Jugendamtsakt online gestellt und ist damit für die Allgemeinheit einsehbar. Verantwortlich für das Projekt ist der Wiener Markus Drechsler. Der Obmann der Selbst- und Interessensvertretung zum Maßnahmenvollzug schreibt eine Biografie über Walfried Janka. Sie wird im Frühjahr 2019 erscheinen.

Amtliche Entschuldigung

Im Februar erreichte Janka ein Brief – „Mit besten Grüßen“ – vom steirischen Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer sowie Landesrätin Doris Kampus. Es ist eine Art Musterschreiben, an keiner einzigen Stelle wird Bezug genommen auf Jankas persönliches Schicksal. Janka wertet es trotzdem als Schuldeingeständnis. Man bedauere, steht in dem Brief, „dass es in der Vergangenheit bis hin zum heutigen Tag immer wieder zu grausamen Übergriffen auf Kinder und junge Menschen gekommen ist“. Und man wisse auch, dass „diese Schandtaten durch nichts wieder gut gemacht werden können“.

Walfried Janka konnte es nicht fassen, sagt er, es verletze ihn, dass ihm bis heute niemand dieser öffentlichen Stellen und all jener Verantwortlichen in die Augen geblickt und ihm die Hand zur Entschuldigung gereicht habe. „Ich möchte den Landeshauptmann der Steiermark einmal sehen, wenn ihm alle Milchzähne mit einer rostigen Zange gerissen werden und sich nie jemand bei ihm entschuldigt.“

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 20 2018