Der Teufel lauert in der Sakristei

Jack B. wurde als Kind von einem Diakon sexuell missbraucht. Bis heute plagen ihn psychische Probleme. Denn der mutmaßliche Täter lebt immer noch in Freiheit – gedeckt vom hohen Klerus, wie Bischof Alois Schwarz. Eine Geschichte über Vertuschung, Verrat und Verletzungen

von Chronik - Der Teufel lauert in der Sakristei © Bild: www.lukasilgner.at

Wenn Jack B. anfängt, von den Ereignissen in seinem Leben vor über 30 Jahren zu erzählen, ersticken Tränen seine Stimme. Dann dauert es ein paar Sekunden, bis er sich wieder fasst und weiterreden kann. Und was er dann erzählt, lässt den Zuhörer erschaudern. Es ist die Geschichte eines elfjährigen Buben, der bei jeder Gelegenheit von seinem ­Religionslehrer und Diakon sexuell missbraucht wird. Brutal, systematisch, skrupellos. Meist passiert es direkt vor der Messe, im Zimmer der Jungschar oder in der Sakristei. Die Fenster mit Tischtüchern und Laken verhängt, damit auch niemand von den brutalen Vorgängen hinter den Kirchenmauern erfährt.

Im Stich gelassen

Wenn man Jack B. das erste Mal trifft, glaubt man, er hätte das Weinen schon vor langer Zeit verlernt. B. ist ein muskulöser Mann, kahlrasiert, groß. Er wirkt abgebrüht. Hinter seinem weit geöffneten Hemd blitzt eine große Tätowierung auf seiner Brust hervor. Es ist die böse Fratze des Teufels. Ein passendes Bild angesichts seiner Geschichte. Einer Geschichte, in der das Opfer nicht nur von der Kirche, sondern auch von der Justiz im Stich gelassen wird. Und in der ein mutmaßlicher Täter von den Spitzen des österreichischen ­Klerus gedeckt wird.

Ein Schicksal beginnt

Das Leben des heute 44-jährigen B. beginnt bereits schicksalhaft. Im Alter von sechs Monaten wird er seiner Mutter, ­einer alkoholkranken Prostituierten, vom Jugendamt entzogen und kommt in das SOS-Kinderdorf Moosburg in Kärnten. Dort erfährt er das erste Mal in seinem Leben Liebe, wie er heute sagt. „Die Mutti“, wie er seine Erzieherin dort nennt, nimmt ihn fürsorglich auf. Als strenggläubige Frau schickt sie ihn sonntags in den Gottesdienst. Bald beginnt er zu ministrieren. Bald passiert etwas, das sein Leben für immer verändern wird. „Die anderen Kinder in der Schule konnten sich von ihrem Taschengeld immer Chips und Cola kaufen. Ich war neidisch, weil ich mir das nicht leisten konnte.“ Deshalb stiehlt er eines Tages 20 Schilling aus dem Opferkörbchen. Beobachtet wird er dabei von seinem späteren Peiniger T.* (Name der Redaktion bekannt). „Er hat mich in der Folge sofort unter Druck gesetzt, indem er mir drohte, dass er meine Kinderdorfmutter und den Kinderdorfleiter gut kennt, und wenn ich nicht das mache, was er von mir verlangt, wird es mir schlecht gehen. Mir würde ­sowieso niemand glauben. In der Folge hat mich Diakon T. in den Jungscharraum bestellt“, wird Jack B. viele Jahre später bei einer Zeugenvernehmung aussagen. Lange konnte er seiner Kinderdorfmutter nichts davon erzählen. Zu groß war die Scham. Zu schwerwiegend die Angst, ihr katholisches Weltbild zu zerstören. Das Verhältnis zu ihr leidet darunter. „Die Mutti war alles, was ich gehabt habe, und er hat sie mir ­genommen“, sagt B. und beginnt wieder zu weinen.

© www.lukasilgner.at „Er hat mir alles genommen“

Unter Druck gesetzt

Drei Jahre lang wird sein Martyrium dauern. Drei Jahre lang muss er stets eine halbe Stunde vor der Abendmesse in die Kirche kommen. Wenn er sich wehrt, beginnt T. ihm wieder zu drohen. Um sein Opfer noch mehr zu demütigen, benotet ihn T. im Religionsunterricht als Einzigen mit ­einem „Nicht genügend“. Kommentiert haben soll er das mit dem Worten „Schau her, was ich für eine Macht habe und was ich mit dir alles machen kann“.

Jack B. wird daraufhin immer ver­haltensauffälliger. Seine Noten werden schlechter. Er provoziert Lehrer und Mitschüler. Und er kassiert wegen kleinerer Delikte Vorstrafen. Als Konsequenz wird er mit 14 Jahren in das SOS-Kinderdorf nach Klagenfurt verlegt. B. ist zunächst erleichtert. Endlich kann T. keine Macht mehr über ihn ausüben. Glaubt er zumindest. Denn auch hier lauert ihm T. bei der Bushaltestelle oder vor der Schule auf, um ihn einzuschüchtern. „Er hat mir gedroht, dass ich niemandem etwas erzählen darf, sonst werde ich alles verlieren.“ Zwar haben die Übergriffe ein Ende gefunden, aber der psychische Druck auf Jack B. wird immer größer. Nach jedem Treffen schrubbt er sich mit einem Metallschwamm ab, bis er blutet. „Ich habe mich so schmutzig gefühlt“, erzählt er. Schließlich landet er für zwei Monate in der Jugendpsychiatrie und in weiterer Folge in einem Heim für schwererziehbare Jugendliche in Niederösterreich. Dort beginnt er eine Lehre als Dachdecker, bricht sie aber wieder ab. Es folgen Jahre der Verdrängung.

Selbstverletzung

28 Jahre lang gelingt es ihm, die Erlebnisse tief in seinem Inneren zu vergraben. Doch dann, 2013, tauchen sie wieder auf. Ganz plötzlich. Er beginnt wieder, sich selbst zu verletzen. Dieses Mal mit Zigaretten, die er auf seinem Unterarm ausdrückt. Und er gibt sich dem Alkohol hin. Zwei bis drei Flaschen Wodka am Tag sind es zuletzt.

Als der Leidensdruck zu groß wird, wendet sich B. zunächst an die „Kommission gegen Missbrauch und Gewalt“ der Diözese Gurk-Klagenfurt. Bischof zu diesem Zeitpunkt ist Alois Schwarz. Es ist ein Schritt, den er bis heute bereut. Eigentlich ist die Kommission in Bezug auf die Betroffenen zur Verschwiegenheit verpflichtet. Doch in diesem Fall soll sie seine Daten an den mutmaßlichen Täter weitergegeben haben. „Eines Tages stand er dann plötzlich vor meinem Haus“, so B. Vor lauter Angst ist er wie versteinert, öffnet nicht die Tür. Danach ändert er seinen Namen und beginnt dafür zu kämpfen, dass T. endlich für seine Taten betraft wird. Ab diesem Zeitpunkt bezeichnet er sich nicht mehr als Opfer, sondern als Betroffenen.

Überraschenderweise spricht sich die Klagenfurter Kommission gegen eine Schadenszahlung aus, wie aus einem Schreiben, das News vorliegt, hervorgeht. Erst als er sich an die Klasnic-Kommission, die „Unabhängige Opferschutzanwaltschaft“ der katholischen Kirche, wendet, werden ihm 15.000 Euro und 80 Therapiestunden zugesprochen.

2015 landet der Fall schließlich bei der Staatsanwaltschaft Klagenfurt. In der Anklageschrift werden T. schwerer sexueller Missbrauch von Unmündigen und der Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses vorgeworfen. Die Glaubwürdigkeit von Jack B. wird nicht nur mit einem psychia­trischen Gutachten, das seine posttraumatische Belastungsstörung bestätigt, bezeugt. Sondern auch mit der Tatsache, dass ihm die Klasnic-Kommission 15.000 Euro zugesprochen hat. Er ist damit ein anerkanntes Opfer. Auch heißt es, dass eine Verjährung nicht infrage komme, da die 20-jährige Frist mit dem 28. Lebensjahr des Opfers beginne und somit erst 2022 ablaufen würde. Doch genau dies wird für Jack B. später noch zum Knackpunkt.

Bischof als Zeuge

T. verweigert im Zuge der Ermittlungen die Aussage. Und auch gegenüber News will er keine Stellungnahme abgeben. ­Konfrontiert via Telefon brüllt er lediglich „Sind Sie ganz deppert oder was?“ in den Hörer und legt auf.

Seine Anwältin führt die Beschuldigungen in ihrem Einspruch auf eine „rege Fantasie“ von Jack B. zurück. Die 15.000 Euro seien „irrtümlich“ an B. ausgezahlt worden. Das Schreiben der Anwältin legt auch ein brisantes Detail offen: Darin wird nämlich Alois Schwarz, damaliger Bischof von Kärnten und künftiger oberster Hirte von Niederösterreich, als Zeuge angeführt. Er muss also über den Fall informiert gewesen sein. Und er scheint bereit gewesen zu sein, den mutmaßlichen Täter zu decken. Unternommen hat er nichts. Weder rechtliche noch disziplinare Schritte.

Gegenüber News äußert sich Bischof Alois Schwarz so: „Ich kenne den angesprochenen Herrn Diakon T. persönlich, er war jedoch zum Zeitpunkt und seit meinem Amtsantritt in der Diözese Gurk-Klagenfurt im Jahr 2001 nicht mehr im diakonalen Dienst in der Pfarre Moosburg eingesetzt.“ Auch sei er im Zuge des Gerichtsverfahrens zu keinem Zeitpunkt als Zeuge geladen gewesen. Das hat aber den einfachen Grund, dass es gar nicht erst so weit kam und das Verfahren eingestellt wurde. Ganz allgemein hält Bischof Schwarz fest, dass es ihm ein großes Anliegen sei, Missbrauch und Gewalt präventiv zu begegnen und, bei Bekanntwerden eines Falles, an der Wahrheitsfindung offensiv mitzuarbeiten. Die „Plattform Betroffener kirchlicher Gewalt“, die sich seit Kurzem mit dem Fall von Jack B. beschäftigt, sieht das anders: „Es besteht kein Zweifel für uns, dass ­Bischof Schwarz in die Vertuschung des Falls involviert ist.“ Aus dem Umfeld des Bischofs hört man, dass T. selbst für die 15.000 Euro aufgekommen sein soll. Dies sei „Strafe genug für den Diakon“, soll der Bischof einem Insider gesagt haben.

Jack B. reicht das nicht. Im Herbst 2016 bekommt er die erschütternde Nachricht: Das Oberlandesgericht Graz stellt das Strafverfahren gegen T. ein. Als Begründung wird die abgelaufene Verjährungsfrist angeführt. Denn: Zum Tatzeitpunkt, also in den 80er-Jahren, waren derlei Handlungen noch nicht in diesem Ausmaß strafbar. „Auf den gegenständlichen Fall kommt das Strafgesetzbuch von 1974 zur Anwendung“, so Rechtsanwältin Katharina Braun, die für News den Fall analysiert hat. „Nach dieser alten Gesetzeslage unterliegt die Tat einer Verjährungsfrist von zehn Jahren. Die Strafbarkeit wäre damit schon 1997 beendet gewesen.“ Erst ein Jahr später trat die verlängerte Verjährungsfrist für Sexualverbrechen von 20 Jahren in Österreich in Kraft. Dennoch kritisiert Braun: „Bei einer Privatperson okay, aber sich als Kirche auf die Verjährung zu berufen, das finde ich nicht in Ordnung.“

Rechtsanwalt Gernot Steiner, der B. in diesem Verfahren vertreten hat, erklärt es so: „Selbst wenn ein Paragraf eindeutig ist, werden sich Juristen bemühen, eine andere Auslegung zu finden. Einfach deshalb, weil man bestimmte Interessen vertritt oder zu vertreten hat.“

Letzte Hoffnung

Für Jack B. beginnt daraufhin erneut eine Zeit der Hoffnungslosigkeit. In der Nacht tauchen wieder die Bilder aus der Vergangenheit auf, er kann nicht schlafen, seine Wohnung nicht mehr verlassen. Suizid­gedanken plagen ihn. Vor einem Monat startet er seinen letzten Versuch. Er wendet sich an die unabhängige „Plattform Betroffener kirchlicher Gewalt“. Er hofft, dass diese ihm nach all den Enttäuschungen weiterhelfen kann. Die Plattform sucht nun nach möglichen weiteren Opfern von T. Und hofft so, zivilrechtlich gegen den Diakon vorgehen zu können. „Der Fall macht einmal mehr deutlich, wie kirchliche Organisationen vertuschen und verleugnen und wie stark belastend es für die ­Opfer ist, wenn die Täter nie vor Gericht gestellt werden und nur mit kirchlichen Almosenzahlungen abgespeist werden“, sagt ein Mitarbeiter.

Jack B. zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Er ist sichtlich unruhig, zittert, schwitzt. Das liegt nicht nur an der Geschichte, die er gerade erzählt hat. B. versucht seit ein paar Tagen, trocken zu bleiben. Er will endlich alles hinter sich lassen. Er will, dass der Täter zur Rechenschaft gezogen wird. Und dass er nun abschließen kann. „Ich wollte nur ein normales Leben haben, ein Leben in Würde“, sagt er und nimmt noch einen ­tiefen Zug.

Dieser Artikel ist ursprünglich in der Printausgabe Nr. 24/2018 erschienen!