Die letzte
Reise mit Papa

Erinnerungen, ist Nicole überzeugt, sind stärker als der Tod. Deswegen reist sie mit ihrem unheilbar kranken Mann Werner und den beiden Kindern nach Disneyland – obwohl die Ärzte Bedenken haben. Doch Nicole will unbeschwerte Momente sammeln, die ihre Kleinen später einmal mit Papa verbinden

von Chronik - Die letzte
Reise mit Papa © Bild: Copyright 2018 Matt Observe - all rights reserved.

Vor etwa einem Monat, an einem milden Frühherbsttag, besuchte Werner in Begleitung von Nicole die Bestattung seiner Heimatgemeinde, um seine eigene Beerdigung zu organisieren.

„Wer ist der Verstorbene?“, fragte die Kundenberaterin. „Ich – bald“, sagte Werner und lächelte.

Die Kundenberaterin dachte zunächst an einen grimmigen Scherz. Als sie merkte, dass es ihrem freundlichen Gegenüber ernst war, fiel sie aus allen Wolken. Und am Ende des ausführlichen Gespräches umarmte sie Werner. Noch nie habe sie wen getroffen, der so mit dem Tod umgehe. Und ihre Aussage hat Gewicht, denn immerhin ist der Tod ihr Job.

Werner will, dass die Feier zu seinen letzten Ehren nicht allzu pompös und getragen ausfällt. Im Gegenteil: „Auf uns“ von Andreas Bourani soll in voller Lautstärke erklingen. „Besser kann es nicht sein, denkt an die Tage, die hinter uns liegen“, heißt es da in der ersten Strophe. Und dann, zum Mitsingen, der Refrain: „Ein hoch auf uns, auf jetzt und ewig, auf einen Tag Unendlichkeit …“

Zeit zum Wachsen

Es ist das gemeinsame Lieblingslied von Werner und Nicole. Eigentlich war es das von Anfang an, seit sie einander vor gut vier Jahren in der Arbeit kennenlernten. Nicole, heute 32, war damals Angestellte in der Entertainmentabteilung eines Elektrogroßkonzerns. Und Werner, heute 37, war dort der Hausdetektiv.

Nein, Liebe auf den ersten Blick sei es von ihrer Seite aus nicht gewesen, sondern etwas, das Zeit zum Wachsen brauchte, erinnert sich Nicole – während Werner von Beginn an ein Auge auf sie geworfen hatte: Immer, wenn er sie sah, habe er, der Detektiv mit dem eingerahmten Anerkennungsschreiben der Polizei („wegen außergewöhnlicher Leistungen auf dem Gebiet von Überwachung von Verkaufsräumlichkeiten“), eine Riesenshow veranstaltet und vor den perplexen Kunden so getan, als hätte er sie, Nicole, soeben beim Diebstahl ertappt.

Damals habe sie das nicht übertrieben lustig gefunden, aber heute ist es eine Episode voll wärmender Nostalgie. Während Nicole erzählt, greift sie nach Werners Hand. Anfang Juli haben sie bei ihm nach einer Magnetresonanztomographie „Glio­blastom, Grad 4“ diagnostiziert. Das ist die aggressivste Form eines Gehirntumors, und er war bereits auf fünf Zentimeter angewachsen. „Muttertumor“ nannten ihn die Experten, denn da war auch noch ein zweiter, kleinerer, der direkt auf die Hauptschlagader drückte.

Vor der Angst die Leere

Erst war die Diagnose, dann war da Leere, nichts als Leere. Dieses helle, kahle Krankenzimmer, dieser rechtschaffen um Schockbegrenzung bemühte Arzt, all das, erzählt Nicole, habe plötzlich so gewirkt, als sei es nur ein Film und sie bloß eine Außenstehende, eine unbeteiligte Beobachterin. Erst ganz langsam sei die Leere der Angst gewichen. Und Nicole selbst wurde bewusst zum Teil des Ganzen.

Dass der Verlauf in Werners Fall besonders ungünstig sei, hatten ihr die Ärzte tagsüber noch persönlich gesagt. Doch sie fühlte sich wie plattgewalzt, unfähig, auch nur eine einzige Frage zu stellen. Daheim, am Abend, begann Nicole dann zu googeln: Ein Glioblastom entwickle sich meistens innerhalb kurzer Zeit bei Menschen im mittleren Lebensalter; Risikofaktoren seien weitestgehend unbekannt; trotz intensiver Behandlung aus Operation, Strahlen- und Chemotherapie betrage die durchschnittliche Lebenserwartung nur etwas mehr als ein Jahr. All das erfuhr sie im stummen Dialog mit dem Netdoktor. Und weinte leise im Bett, denn im Zimmer nebenan schliefen die Kinder.

Die Kinder – Demian, er ist zwei Jahre alt, seine Schwester Selina sechs. Der Bub ist das gemeinsame Kind von Werner und Nicole, Selina entstammt einer früheren Beziehung, nennt Werner aber seit Jahr und Tag „Papa“. Denn er liebe sie nun einmal wie ein Vater, und sie liebe ihn nun einmal wie eine Tochter, so einfach sei das, sagt Nicole. Doch abgesehen davon ist eigentlich nichts mehr einfach.

Die Nächte der rosa Rosen

Immer wenn Nicole an ihre kleine Familie denkt, dann zieht auch ihre gemeinsame Geschichte mit Werner an ihr vorüber. Wie er sie, nachdem er über eine ihrer Freundinnen diskret ihre Nummer erfragt hatte, zum ersten Mal richtig ausführte. In den „Jagdhof“, das nobelste Lokal der kleinen Wiener Umlandgemeinde, der Werner und Nicole entstammen. Edlen Wein habe er zum Dinner auftischen lassen und danach noch eine Käseplatte.

Nicole erinnert sich, wie er ihr auf den endlosen Nachtspaziergängen durch den Heimatort rosa Rosen von den Hecken der Schrebergärten pflückte. Wie er in dem Pub, in dem sie mittlerweile arbeitete, geduldig ausharrte, bis der letzte Gast gegangen war, damit sie sich nicht alleine auf den Heimweg machen müsse. „Ich passe auf dich auf“, habe er gesagt.

Nicole erinnert sich, wie er ihr, als sich endlich Nachwuchs ankündigte, gleich vier Schwangerschaftstests kaufte, um sich seines Glücks auch wirklich ganz, ganz sicher zu sein. Wie er ihr schließlich, voriges Jahr im Kroatien-Urlaub, kurz vor Mitternacht mitten im Fischlokal kniend, einen filmreifen Heiratsantrag machte – zu einem Zeitpunkt, als ihr „Ja“ nur noch Formsache war.

Und – Nicole erinnert sich an die verspäteten Flitterwochen, die sie für den heurigen Sommer geplant hatten. Gemeinsam mit den Kindern wollten sie ins Disneyland nach Paris. Beide hatten sie eisern gespart, um die kostspielige Reise finanzieren zu können. Ein Hotel im Stil einer alten Küstenvilla in Neuengland sollte es sein. Mittagessen im Kreise der Disney-Prinzessinnen wäre inkludiert, auch ein Fotopass für Schnappschüsse mit allen Figuren, dazu Autogramme. Dann, als Höhepunkt, eine Jause mit Micky und Goofy. „Glioblastom, Grad 4“ prangt wie eine dämonische Chiffre auf dem Ärztebrief neben den Disney-Prospekten.

Werner und Nicole hatten sich trotz lebensgefährlicher Risken zu einer Operation entschlossen. Zu verlieren, dachten sie, hätten sie ohnehin nichts, wohl aber viel zu gewinnen. Oder zumindest ein klein wenig von dem, was ihnen plötzlich so unsagbar viel bedeutete: Zeit. Vielleicht bloß noch Wochen, vielleicht Monate, so genau weiß das keiner, aber immerhin: Zeit.

Neun Stunden lag Werner am OP-Tisch, dann mehrere Tage auf der Intensivstation. Und bis heute ist da dieses Bild, das Nicole nicht aus dem Kopf bekommt: Werner, ohne Bewusstsein und wie gefangen in einem Dickicht aus Schläuchen und Kanülen, daneben ein Sauerstoffgerät. Keiner wusste, wohin ihn dieser Dämmerschlaf tatsächlich führen würde.

In diesem Zustand, beschloss sie, sollten die Kinder ihren Papa nie sehen. Irgendwann, später, sollten es einmal positive Erinnerungen sein, die den Schmerz, das Leid und die Hinfälligkeit überlappen.

Erinnerungen an Papa und Mama, an der Seite ihrer Kids, zwischen Goofy, Donald und Micky Maus, an unbeschwerte Tage, gemeinsam in einer Phantasiewelt jenseits von Ohnmacht und Koma.

Nach Paris will sie mit ihrer Familie noch unbedingt und dort Fotos machen, Fotos, Fotos, Fotos für ein Album würdigen Andenkens, das sie dann für später zusammenstellt. Für den Tag, an dem die Kinder fragen werden: „Wie war der Papa?“

Kritische Phase nach der OP

Doch noch befand sich Werner nach der OP in einem Zustand, den die Ärzte „kritische Phase“ nennen, und vor jedem weiteren Tag stand ein Fragezeichen. Nicole staffierte das Krankenzimmer mit gemeinsamen Fotos aus, Bildern von der Hochzeit, Familienfeiern, von seinem Buben, seinem Mädchen. Da habe er plötzlich geschaut und gelächelt und zaghaft zu sprechen begonnen. „Une“, mehr hat Nicole am Anfang nicht verstanden. Immer wieder nur „une“ – bis er mit der Hand auf ein Foto mit den beiden Kindern deutete. Unsere, das war, was er sagen wollte. Und die Erinnerungen waren es, die ihn weckten. Davon ist Nicole ganz fest überzeugt.

Es begann ein mühsamer Weg. Ein Weg zurück ins Leben – und doch hinein in eine unentrinnbare Sackgasse.

Werner musste neu sprechen lernen, neu buchstabieren. Die Bestrahlungen und Chemotherapien, die nun folgten, kosteten zusätzlich Substanz. Während einer weiteren Magnetresonanztomographie sah er plötzlich helles Licht und langsam fallende Blätter und hörte wie aus dem Nichts eine leise Stimme.

Da waren Tage, an denen er im Rollstuhl saß und Tage, an denen er sich fast ganz normal bewegen und langsam, aber klar und deutlich sprechen konnte. Tage, an denen Nicole Angst hatte, er könnte umfallen wie ein Stück Holz. Und Tage, an denen er plötzlich unbändige Lust auf kleine Unternehmungen verspürte. Ein Spaziergang in die umliegenden Weinberge, ein Besuch beim Friseur oder ein Mittagessen beim Lieblingsinder und danach Kuscheln vor dem Fernseher. Tage mit diesem tröstlichen Beigeschmack des Alltäglichen.

Es gebe jetzt viel, viel wichtigere Dinge als ständig Angst zu haben, befindet Nicole. Am vergangenen Sonntag etwa haben sie und Werner die kirchliche Hochzeit nachgeholt. Die Band spielte „Hallelujah“ von Leonard Cohen. Und auch so hilflos wie am Anfang fühle sie sich nicht mehr, weil sie immerhin das Gefühl habe, etwas tun zu können. Dass Werner sterben wird, daran versucht sie nicht zu denken. Doch auch an ein Wunder, dass laut menschlichem Ermessen ausbleiben wird, will sie sich nicht klammern. Sondern daran, dass sie jetzt noch Zeit miteinander verbringen dürfen. Zeit zu zweit, Zeit als Familie. Als Opfer fühlt sie sich nicht, denn Opfer, das seien etwa jene Menschen, die durch einen Autounfall von einer Sekunde auf die andere aus dem Leben gerissen werden.

Die Sensibilität der Kinder

Demian, der Zweijährige, bekommt von all dem noch relativ wenig mit. Und dennoch, sagt Nicole, spüre er, dass da etwas nicht in Ordnung ist. In diesen Momenten schreit er und ist grantig. Selina, die Sechsjährige, weiß, dass ihr Papa schwer krank ist und überträgt ihre Wut und Verzweiflung über die Krankheit in ihrer Hilflosigkeit auf den Kranken. Einmal, erzählt Nicole, habe sie mit den Fäusten auf ihn eingetrommelt: „Warum musst du krank sein, warum kannst du nicht mehr mit mir spielen?“ Dann hat sie losgeweint und auch Werner und zuletzt Nicole. Und dann habe sie wieder an Paris gedacht. Disneyland – das seien Werner und sie den Kindern und auch sich selbst ganz einfach schuldig.

Die Ärzte waren gegen die Reise, doch Nicole fand eine Palliativkrankenschwester als Begleitung, und so willigten die Mediziner ein. Ein Verein aus der Heimatgemeinde von Werner und Nicole sammelte für die Kosten, denn deren Ersparnisse waren für teure Begleittherapien zur Chemo längst aufgebraucht. Am Montag der kommenden Woche ist es nun endlich so weit: Werner, Nicole, Selina und Demian heben Richtung Frankreich ab. Ihre Koffer sind mit bunten Disney-Motiven bedruckt.

Wenn sie nach vier Tagen zurückkommen, muss sich Werner einer weiteren Chemotherapie unterziehen, komprimierter und intensiver als die erste. Dann wird er merklich an Gewicht verlieren und kaum aufstehen können. Nicole wird neben ihm sitzen und die Reisefotos sortieren. Die Kinder, Werner und sie mit Micky, Donald und Goofy, inmitten einer Fantasiewelt ganz ohne Schmerz. Erinnerungen, stark genug, um zu überleben.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 42 2018