Nach Mädchen-Mord:
Bewohner fassungslos

Nach dem Mord an einem siebenjährigen Mädchen in einem Gemeindebau in Wien-Döbling zeigen sich die Bewohner fassungslos. Die beste Freundin des Opfers spricht über den tragischen Verlust und den Täter – auch sie war schon bei ihm zu Hause, auch sie hätte es treffen können

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Chronik - Nach Mädchen-Mord:
Bewohner fassungslos

Wo zuvor Kinder verstecken spielten, sich im Ballspielen oder Seilspringen maßen, wo ihr Geschrei von den senfgelben Wänden und den weißen Wohnungsfenstern widerhallte, wo sie trotz der vielen Verbotsschilder Tricks am Skateboard geübt und vielleicht die erste Zigarette geraucht haben. Dort, wo sich nicht jeder vertraute, aber zumindest jeder kannte und auch beste Freundschaften geschlossen wurden, ist heute nichts mehr wie vorher. Es regnet, ist kühl und grau, der Hof liegt leer und leise da – ganz anders als noch vor einer Woche, als die Sonne vom Himmel brannte und Hadisha noch am Leben war.

Wer durch das mächtige, stählerne Gittertor in das Innere des Dittes-Hofs in Wien-Döbling tritt, direkt am lauten und vielbefahrenen Gürtel gelegen, braucht nicht lange nach den Spuren des grausamen Verbrechens zu suchen: Kerzen, Engelsstatuen, Teddybären und Hunde aus Plüsch, Puppen, Briefe, Zeichnungen und Blumen erinnern daran, dass hier etwas Schreckliches passiert ist. Und zwar etwas, das Ermittler, Journalisten, aber vor allem die Bewohner dieses Gemeindebaus noch lange beschäftigen wird: Wie konnte ein siebenjähriges Mädchen vor den Augen und Ohren von mehr als 500 hier lebenden Menschen einfach verschwinden? Wie konnte es zwischen etwa 15 und 17 Uhr in einer dieser 285 Wohnungen dazu kommen, dass dem Mädchen mit einem Brotmesser der Hals fast durchtrennt wurde? Wie konnte sie dann in einen Plastiksack gesteckt und im Restmüll entsorgt werden, bis am nächsten Tag ihre aus dem Sack ragenden Beine von Müllmännern entdeckt wurden, ohne Blutspritzer auf der Kleidung? Wie konnte ein 16-jähriger Bursche ein solches Verbrechen begehen, weil er laut eigener Aussage „nicht gut drauf“ war? Wie konnte er den Tatort, die Duschtasse und den durch das Blut verstopften Abfluss noch so rasch reinigen, bevor seine Eltern vom Einkaufen zurück nach Hause kamen? Wie konnte er diese furchtbare Tat bei der Polizei derart emotionslos gestehen – ganz ohne Reue? Über all dem schwebt ein großes „Warum?“.

© Heinz Stephan Tesarek Der Gemeindebau in der Heiligenstädter Straße wurde Tatort eines brutalen Mordes

Trauernde Kinder

Durch den Regen sind die Andenken durchnässt, die Angehörige und Nachbarn als Zeichen ihrer Anteilnahme für das ermordete Mädchen hingelegt haben. Die Handschriften auf den Briefen sind verwischt. Eine Zeichnung aber sticht hervor, sie steckt in einer schützenden Plastikfolie. Zwei Mädchen sind darauf zu sehen, mitten im Gemeindebau unter bewölktem Himmel. „Hadish, ich bin ser traurik, weil du bist geschtorben“, steht daneben. Dieses Bild stammt von der achtjährigen Amira*. Sie erklärt uns die Zeichnung: „Das bin ich, und das ist Hadisha“, ganz ruhig sagt sie das, „denn Hadisha ist meine beste Freundin.“

Amira weiß inzwischen, dass Hadisha gestorben ist. Ihr Vater hat ihr erklärt, dass Gott sie mitgenommen hat. „Aber warum macht Gott so was?“, fragte Amira ihn dann. „Gott will das nicht, der Mensch will das so“, und mehr ist auch ihrem Vater zu diesem unvorstellbar grausamen Tod der besten Freundin seiner Tochter nicht eingefallen. Dabei hätte es sie genauso treffen können. Auch Amira kannte nämlich ­Robert K., den 16-jährigen mutmaßlichen Mörder sehr gut. „Er hatte auch eine Katze, die wir sehr lieb hatten und immer streicheln wollten“, sagt Amira, „er hat uns beide oft von der Schule heimbegleitet.“ Einmal sei sie auch bei ihm in der Wohnung gewesen: „Ich kann nicht glauben, dass er das gemacht hat, warum denn?“ Stille.

© Heinz Stephan Tesarek Amira hat ihre beste Freundin verloren. „Ich kann das einfach nicht glauben“, sagt sie

Wie ein Amoklauf

Auch Experten finden auf diese Frage bis dato keine Erklärung. Holger Eich ist klinischer Psychologe und Leiter des Unabhängigen Kinderschutzzentrums in Wien. „Wenn jemand so etwas macht, hat er sich das mit Sicherheit mehrfach überlegt“, sagt Eich, „dass er das aus einem Affekt ­heraus gemacht hat, glaube ich nicht.“ So eine Tat begehe niemand aus einem spontanen Beschluss heraus. Dabei behauptete Robert K. in seiner polizeilichen Einvernahme, dass das Mädchen „zur falschen Zeit am falschen Ort war“. Er sei, sagte er aus, „einfach nur allgemein voller Wut“ gewesen. Das Opfer habe er nicht speziell gewählt, es hätte jeden treffen können.

Psychologe Eich vergleicht diesen Mord mit einem Amoklauf, dem auch Tötungsfantasien und eine gewisse Planung vorausgehen. Ein solcher würde meist dann durchgeführt, wenn sich die Möglichkeit böte – so wie offenbar an jenem Freitagnachmittag im Dittes-Hof für Robert K. Ähnlich wie bei einem Amoklauf könne man auch hier besondere Empathielosigkeit und das Streben nach Aufmerksamkeit beobachten. Sichtbar sei das bei dem ­vergleichsweise schnellen und kalten Geständnis geworden, aber auch die Entsorgung der Leiche spräche dafür.

In einem verzweifelten Video-State­ment im tschetschenischen Fernsehen erzählt Roberts Vater kurz nach der ersten großen Live-Pressekonferenz der Wiener Polizei am Dienstag, dass die Beamten ihn konfrontiert hätten mit der Frage, ob die Eltern denn gar nichts Auffälliges im Verhalten des Burschen gemerkt hätten. Und dass Robert K. in der Einvernahme auch zugab, bereits seinen zehnjährigen Bruder im Visier gehabt zu haben – auch ihn wollte er töten. Der Vater gewöhne sich nun an den Gedanken, dass sein Ältester wahrscheinlich an einer schweren Psychose leide. Psychologe Eich seufzt: „Es wäre für uns alle eine Beruhigung, wenn man die Tat mit einer psychischen Erkrankung erklären könnte, aber das glaube ich in diesem Fall nicht, jedenfalls soweit ich es beurteilen kann.“

© Heinz Stephan Tesarek Noch immer legen täglich Menschen Rosen und Engel für Hadisha in den Hof

Mord unter Kindern

Zwei 18-Jährige, die ein paar Tage später am frühen Abend im Hof stehen und in ihren Handys herumtippen, wissen mehr: „Ich bin hier aufgewachsen“, sagt einer der beiden, der seinen Namen nicht sagen möchte, „es gab immer mal Raufereien oder so, aber so eine Tat, das gab es noch nie.“ Auch die Teenager ringen nach Worten und stottern herum. Alle haben sie nach Hadisha gesucht. Jeder kannte Robert K. Trotzdem habe es Kleinigkeiten gegeben, die ihnen manchmal seltsam vorkamen. Denn seit einigen Jahren sei Robert mehr und mehr zum Einzelgänger mutiert, erzählen alle Jugendlichen einstimmig, die man im Hof so antrifft. Er sei wenig rausgegangen und habe meistens nur noch für die Schule gelernt. Robert besitzt ein Stipendium für das katholische Regina-Maria-Gymnasium im Nobelbezirk Döbling. „Wenn er überhaupt einmal herauskam, dann hat er nur mit den kleinen Kindern gespielt, nie mit uns Gleichaltrigen. Erst vor Kurzem hat sich ein Nachbar darüber aufgeregt, dass er immer mit den jüngeren Mädchen im Hof spielt.“

Eine ähnliche Situation beschreibt auch Idris*. Der 15-jährige Kurde ist der ältere Bruder der kleinen Amira, sie wohnen ein paar Stiegen weiter vom Tatort. Sorgen hat er sich eigentlich, sagt er, nie um seine kleine Schwester gemacht, und die sich auch um sich selber nicht. „Ich war immer mutig, aber Hadisha hat sich oft gefürchtet“, sagt die achtjährige beste Freundin. „Manchmal hab ich sie an der Hand genommen, wenn sie Angst hatte, weil ich wollte sie immer beschützen.“ Wenige Tage vor Hadishas Tod seien sie einem älteren Mann begegnet, erzählt die Volksschülerin, der ihnen etwas nachrief. Während Amira sich nichts dabei dachte, habe ihr Hadisha zugeflüstert: „Wir wollen doch nicht getötet werden.“ Dies sagte sie zu einem Zeitpunkt, als die Gefahr nicht von jenem Mann ausging, sondern von der Nachbarsstiege, wo Robert K. möglicherweise bereits seinen Tötungsfantasien nachhing. Eines fällt sehr schnell auf, wenn man mit den Kindern und Jugendlichen im Dittes-Hof über den mutmaßlichen Mörder, bis zum vergangenen Freitag noch einer von ihnen, spricht: Niemand kennt ihn tatsächlich mit seinem Namen „Robert“. Viele haben sogar noch nie von einem Robert gehört – doch den Typen, dessen Foto viele Zeitungstitel ziert, identifizieren sie trotzdem sofort. Sie nennen ihn anders: Ansor* (der echte Name ist der Redaktion bekannt). Dies war vermutlich sein eigentlicher Name, sein tschetschenischer, den er hier im Dittes-Hof zwischen seinen Kumpels noch immer trägt.

Dass solche Namensänderungen gerade in der tschetschenischen Community ein weit verbreitetes Phänomen sind, erklärt ein ehrenamtlicher Bewährungshelfer, der im österreichischen Strafvollzug Insassen aus Russland und den Föderationsstaaten betreut. Seinen Namen will er vor der Öffentlichkeit geheim halten. „Anfang der 2000er-Jahre, als der Großteil der tschetschenischen Familien nach Österreich flüchtete, beantragten diese neue, unverdächtige Vor- und Nachnamen, die nicht sofort auf die kaukasische Herkunft schließen lassen“, erläutert der Experte. Auch bei anderen Verbrechen ist dies immer wieder evident geworden: Bei einer Agenten-Blutfehde 2014 am Wiener Stadtrand zum Beispiel hieß der tschetschenische Haupttäter Wolfgang F. – eigentlich aber Suliman E.

Besonders beliebt sei neben dem klischeehaft österreichischen „Meier“ zum Beispiel auch der Nachname „Berger“ – eine Anspielung auf die Gebirge in der tschetschenischen Heimat. Fürstlichere Nachnamen wie beispielsweise „König“ oder „Graf“, weisen dabei auf einen höheren sozialen Status des Familienoberhaupts hin.

Untergetaucht

Laut Opferanwalt Nikolaus Rast wünscht sich Hadishas Mutter zusammen mit ihrer ebenfalls tschetschenischen Familie, künftig nicht mehr im Dittes-Hof leben zu müssen, um nicht täglich an das Geschehene erinnert zu werden. Jeder Gang führt sie an den Mistkübeln vorbei, wo ihre Tochter gefunden wurde. Wiener Wohnen bestätigte inzwischen, dass man bereits eine Wohnalternative in einem anderen Gemeindebau für die Familie gefunden habe. Währenddessen ergießt sich in den sozialen Medien eine Welle des Hasses, gespeist aus Vorurteilen und Rassismus, über die Familie.

Auch die Eltern des mutmaßlichen Täters sind samt Bruder im Moment abgetaucht und werden wohl auf lange Sicht ausziehen. Der Tschetschenien-Experte hält das für nachvollziehbar: „Hier gibt es ja jetzt nicht nur die Angst vor einer möglichen Vergeltung, sondern man darf nicht vergessen: Diese Familie hat ihr Gesicht verloren.“ Der familiäre Ehrbegriff besäße besonders in der tschetschenischen Community nämlich einen extrem hohen Stellenwert. „Ein Mord gilt als Schande für die ganze Familie.“ Trotzdem: Auch in Tschetschenien ist Blutrache ein Kapitalverbrechen und wird von der Justiz geahndet. „Diese Tat an dem Mädchen kann man – anders als zum Beispiel einen Ehrenmord – wirklich nicht kulturell erklären, das hätte genauso gut irgendein anderer, auch ein Österreicher machen können.“

Die Eltern der kleinen Amira tröstet das wenig. Sie haben Angst, ihre Tochter alleine nach draußen zu lassen. „Bitte pass gut auf, sage ich ihr nun jeden Tag“, so Amiras Vater. Und dabei glitzern Tränen in seinen Augen.

Dieser Artikel ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 20/2018) erschienen!