Alpenland in Aufruhr:
Die Alm-Attacke

Kühe trampeln eine deutsche Wanderin tot. Nun erging ein Urteil, das das ganze Alpenland in Aufruhr versetzt: Bauern sehen ihre Existenz bedroht, Touristiker ihre Gäste ausbleiben und Politiker ein verbesserungswürdiges Regelwerk. Dabei ist das letzte Wort noch gar nicht gesprochen – eine alpine Aufregung und ihre Hintergründe.

von Chronik - Alpenland in Aufruhr:
Die Alm-Attacke © Bild: Ricardo Herrgott

Noch liegt an den Hängen rund um die Pinnisalm viel Schnee. „Oben in der Höhe sind es wohl noch drei, vier Meter“, sagt der Gastwirt. Lawinen sind zur jetzigen Jahreszeit die größte Gefahr. Im Sommer aber, wenn die grünen Wiesen, die frische Luft, die schöne Aussicht und die „strammen Wadeln“ viele Wanderer in die Tiroler Alpenidylle locken, hat die Gefahr ein ganz anderes Gesicht – es sieht lieb aus und hat Namen wie Bea, Blume oder Rabe. So heißen sie, die Kühe des Landwirts Reinhard Pfurtscheller, die im Juli 2014 friedlich auf der Pinnisalm grasten. Dass sie für den tragischen Tod einer Frau verantwortlich sein würden, hat damals noch niemand für möglich gehalten.

Ein tragischer Unfall

Rückblick: Es ist nicht das erste Mal, dass sich Familie M. aus dem deutschen Bad Dürkheim auf einen Urlaub im Tiroler Stubaital freut. Am Campingplatz in Neustift hat sie einen fixen Wohnwagenstellplatz, auf dem sie seit Jahren unterkommt. Vater F.* und der 15-jährige Sohn J. nehmen sich diesmal vor, per Fahrrad anzureisen. Mutter D. fährt mit dem Auto und Familienhund Frodo, einem Kerry Blue Terrier, voraus. Am 28. Juli 2014 entschließt sie sich, die Zeit bis zur Ankunft ihrer Lieben mit einer kleinen Wanderung zu vertreiben – von der Bergstation „Elfer“ über die Karalm zur Innsbrucker Hütte und über die Pinnisalm zurück ins Tal. Doch dort wird sie nie ankommen.

Auf dem breiten Schotterweg, der am gut gefüllten Gasthaus der Pinnisalm vorbeiführt, wird Daniela M., mit Frodo an der Leine, plötzlich von einer Kuhherde eingekreist. Die 700 Kilogramm schweren Tiere kommen von hinten; die Wanderin erkennt den Ernst der Lage erst spät. Zu spät. Denn dann geht alles „ruckzuck“, sagt ein Augenzeuge: Die Kühe beginnen, die Frau mit den Hörnern zu schubsen, sie greift re­flexartig nach dem Hund, kann aber die Leine, die sie mit einem Karabiner an der Hüfte fixiert hat, nicht mehr lösen. Sie kommt vom Weg ab, wird von den Kühen in die Luft gehievt und fällt zu Boden. Zehn Kühe gehen mit Tritten auf die hilflose Frau und ihren Hund los. Dieser kann sich schließlich lösen und rennt davon. Daniela M. aber bleibt regungslos liegen.

„Kein Streichelzoo“

Die deutsche „Bild“-Zeitung titelt nach dem Vorfall: „Die Killer-Kühe vom Stubaital“ und bringt den ersten Stein in einer Debatte ins Rollen, die auch Jahre danach den ganzen Alpenraum spaltet. In deren Mittelpunkt: der Besitzer der Kühe, Landwirt Reinhard Pfurtscheller.

Als News ihn wenige Tage nach dem tragischen Vorfall am Ort des Geschehens besucht, sitzt der Schock tief: „Es ist alles leer in mir“, sagt Pfurtscheller. Dass seine Kühe zu einer solchen Tat im Stande waren, kann er sich nur mit deren Mutterinstinkt erklären, der eingesetzt haben muss, als sie ihre Kälber durch den Hund – der für die Tiere einem Wolf gleichkommt –bedroht sahen. Die Herde war unmittelbar vor ihrer Begegnung mit Daniela M. bereits durch zwei Familien mit Hunden in Aufregung versetzt worden. Mit einer Familie gab es sogar direkten Kontakt. „Die Kühe tun nichts, wenn man sie in Ruhe lässt. Wenn man sie aber streichelt, mit Hunden direkt an ihnen vorbeigeht, können sie gefährlich werden. Das ist kein Streichelzoo“, sagt Pfurtscheller damals.

© Ricardo Herrgott Angriffslustig. Die gutmütige Art der Kühe kann schnell in wilde Angriffslust umschlagen, wenn sie sich bedroht fühlen – besonders von Wanderern mit Hunden

Die Schuldfrage

Die Staatsanwaltschaft erkennt keine Fahrlässigkeit und stellt ihre Ermittlungen bereits im Jahr 2014 wieder ein. Doch Familienvater F. will wissen: Wie konnte das passieren? Warum hat niemand seine Frau gewarnt? Und: Wer ist schuld daran, dass sie jetzt tot ist? Rechtsanwalt Michael Hirm vertritt Witwer und Sohn dabei, Antworten darauf zu finden: „Nachdem das Strafverfahren eingestellt wurde, war ein Zivilverfahren die einzige Möglichkeit, um die Schuldfrage zu klären“, sagt Hirm. „Man muss dafür bestimmte Ansprüche wie Schmerzensgeld oder Unterhaltsentgang einklagen, damit sich ein Richter den Kopf darüber zerbricht, was geschehen ist. Und da sind wir auf einen gestoßen, der sich Mühe gegeben hat, es bis ins letzte Detail zu klären.“

Das Ergebnis: ein 100-seitiges Urteil, das seit vergangener Woche für seine Vorbildfunktion gefürchtet wird. Das Landesgericht Innsbruck stellt darin fest, dass der beklagte Landwirt nach dem Tierhaltegesetz für die Ansprüche der Angehörigen aus dem Vorfall haftet und er rund
180.000 Euro sowie eine monatlichen Rente in Höhe von rund 1.500 Euro an die Hinterbliebenen zahlen muss. Argumentiert wird damit, dass es ihm zumutbar gewesen wäre, die Herde in dem Bereich einzuzäunen, dass die angebrachte Beschilderung nicht ausreichte und dass er – aber nicht die Wanderin – damit hätte rechnen müssen, dass seine Tiere durch Hunde auf dem besonders hochfrequentierten Wanderweg in Aufregung versetzt hätten werden können. „Das ist für mich lebensfremd und ein Wahnsinn“, sagt Ewald Jenewein, der den beklagten Bauern im Rechtsstreit vertritt, „es ist für mich ganz schwer verständlich, dass der Landwirt dafür büßen muss, wenn Leute unvorsichtig mit Hund durch sein Weidegebiet laufen.“

Amerikanisierung der Almen

Dieser Meinung ist auch Thomas Wirnsperger vom Tourismusverband Großarltal, dem Tal der Almen. Kühe gehören hier zum Landschaftsbild dazu und man weise darauf hin, wie man sich in dem Gebiet zu verhalten habe: „Wir sind alle Gäste auf den Grundstücken und haben uns entsprechend zu verhalten. Ich gehe auch nicht durch den Garten einer Familie und rege mich nachher auf, wenn mich deren Hund ins Bein beißt.“ Er hoffe sehr, dass Vernunft in die Diskussion einkehrt, denn es sei faktisch unmöglich, alle Wanderwege einzuzäunen: „Diese ganze Amerikanisierung finde ich sehr tragisch. Wenn wir alle so denken, dann haben wir bald nur mehr Zäune, aber kein Mensch wird mehr einen freien Fuß auf das Grundstück eines anderen setzen dürfen.“ Das würde für den Wandertourismus gravierende Einbußen bedeuten.

Bauer Thomas Seebacher, der in Kärnten rund 30 Hektar Almfläche besitzt, ist das wiederum gänzlich egal. Er will lieber nichts riskieren. Bisher hat er Wanderer geduldet, aber jetzt postet er auf Facebook: „Ab sofort gilt auf meinen Almen im Nockgebiet für Jedermann, -frau und Hund ein absolutes Betretungsverbot. Wir können uns solche Urteile [...] nicht leisten.“ Im Gespräch verschafft er seinem Ärger Luft und meint: „Wenn man solche Urteile hört, dann muss man reagieren.“ Es ist genau das, wovor Alpenvereinspräsident Andreas Ermacora warnt: „Wir müssen die Kirche einmal im Dorf lassen. Das Urteil ist erstens noch nicht rechtskräftig, es gibt noch zwei Instanzen und die Frage des Mitverschuldens muss auch noch geklärt werden.“ Außerdem dürfe man nicht vergessen, dass ein Mensch gestorben sei: „Die Argumentation des Richters hat schon auch was für sich.“

Haus und Hof nicht verloren

Der Anwalt der Kläger, Michael Hirm spricht darüber hinaus davon, dass „medial falsche Summen kommuniziert und vielfach einfach abgeschrieben“ wurde. Man solle vorsichtig sein und nicht gleich schreien, dass das das Ende der Almwirtschaft sein könnte. „Es ist nicht so, dass jeder Bauer jetzt fürchten muss, 100.000 Euro zu zahlen, wenn ihm eine Kuh auskommt.“ Jeder Fall sei als Einzelfall zu betrachten und in diesem Fall sei der Mandant durch den Vorfall seelisch erkrankt, wodurch das Urteil über das Schmerzensgeld hoch ausfällt. Überhaupt wäre es wahrscheinlich, dass die Versicherung des Bauern für die Summe aufkomme und der Bauer Haus und Hof nicht verlieren werde, sagt Hirm. Der Rechtsanwalt der Gegenseite ist sich dessen nicht so sicher und meint: „Das ist noch nicht endgültig geklärt. Wenn das Verschulden zu groß ist, kann eine Versicherung auch aussteigen.“

Bauern sind verunsichert

Kein Wunder, dass gerade unter Bauern die Verunsicherung groß ist. Allein deshalb fordert Alpenvereinspräsident Ermacora: „Es muss möglich sein, im Sinne der Bauern und im Sinne der Wegefreiheit, eine gemeinsame Lösung zu finden.“

Dazu gab es am Mittwoch dieser Woche einen runden Tisch mit Vertretern der Tiroler Landesregierung, des Tourismus und des Alpenvereins. Die Tiroler Grünen schossen den Ball zu Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger und Justizminister Josef Moser. Sie sollen die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Almwirtschaft konkretisieren. Bundeskanzler Sebastian Kurz stellte fest: „Das ist im Interesse aller in einem Tourismusland.“ Bleibt zu hoffen, dass sich solche Lösungen bald finden. Der Schnee schmilzt schließlich schon.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 9/2019