Christian Kern:
Die Partei im Rücken

Während Vorsitzender Christian Kern die Oppositionsrolle als Auftrag versteht, wünschen sich große Teile der SPÖ so schnell wie möglich in die Regierungsverantwortung zurück. Da bleibt wenig Platz für Kompromisse.

von Fakten - Christian Kern:
Die Partei im Rücken © Bild: Walter Wobrazek

Schon ein einziger Anruf kann die Seele der Sozialdemokratie offenbaren. Mit etwas Glück gerät man an den Anrufbeantworter einer SPÖ-Organisation. Und dieser teilt dem Anrufer dann vielleicht auch mit, dass werktags zwischen zwölf und 13 Uhr keine Gespräche angenommen werden. Genau so ist es nämlich, das wahre Wesen der SPÖ: Nach außen offen und modern, doch tief drinnen steckt die politische Bewegung in den Strukturen der 70er-Jahre fest. Also mitten in einer Zeit, in der eine ungestörte Stunde Mittagspause als unabänderliches Menschenrecht galt.

Diese von Tausenden Funktionären seit Jahrzehnten gepflegte Grundeinstellung wird nun infrage gestellt. Nach einer anfänglich eher zögerlichen Geste in Richtung Rot-Blau hat sich die Partei - allein aufgrund schwarz-blauer Anbahnungen - auf die Oppositionsrolle eingeschworen. "Ob dieser Weg der richtige ist, darüber kann immer gestritten werden", sagt Politikwissenschaftler Anton Pelinka, "dennoch halte ich die Opposition für eine unausweichliche Konsequenz für die SPÖ." Es ist bereits das zweite Mal in diesem Jahrtausend, dass die SPÖ aus einer Regierung fliegt (2000 und 2003 gab es bereits Schwarz-Blau). Der Sturz von der Regierungsbank dürfte auch diesmal nicht weniger schmerzen als zuvor.

Dabei hatte im Mai des Vorjahres alles so schön ausgesehen. Und es ging zudem auch sehr schnell vonstatten. Einer eindeutigen Unmutsäußerung von einer Vielzahl von Parteimitgliedern beim Mai-Aufmarsch in Wien folgte der Rücktritt des von großen Teilen der Partei nicht geliebten Vorsitzenden Werner Faymann. Fast genauso rasch erfolgte die Inthronisierung von Christian Kern als neuer SPÖ-Chef und Bundeskanzler. Doch schon davor wurde Kritik an den Politambitionen des damaligen ÖBB-Vorstandsvorsitzenden laut. Nationalratspräsidentin Doris Bures sagte 2014 über Kern: "So, wie ich nicht so eine gute Bahn-Managerin wäre, wäre er nicht so ein guter Politiker." Eine Einschätzung des Parteichefs, die sie später immer wieder zu relativieren versuchte.

Der neue Vorsitzende selbst machte der Partei anfangs Mut, auch neue Wege zu gehen. In seinen ersten Reden wetterte er gegen Verkommenheit, Klischees und Inszenierungen in der Politik - Bereiche, die vielen inner- und außerhalb des politischen Geschehens seit Langem sauer aufgestoßen waren. In seiner selbst gewählten Rolle als Antipolitiker verkörperte Kern außerdem den breitenwirksamsten Vorsitzenden seit Bruno Kreisky und sprach auch Wählerschichten außerhalb der klassischen SPÖ-Klientel an. Für die kontinuierlich Stimmen verlierende Sozialdemokratie eine Situation, die Chancen eröffnet.

Verflogener Mythos

Beziehungsweise eine Situation, die Chancen eröffnet hätte. Noch in dieser Entwicklung blieb die SPÖ mit einem Ruck stecken -die Stimmung kippte. So verabsäumte es der Parteichef am Höhepunkt seiner Popularität im Jänner 2017, Neuwahlen auszurufen. Eine heftige Koalitionskrise mit dem Regierungspartner ÖVP hätte diese Maßnahme durchaus gerechtfertigt. Kern ließ sich von diesem Schritt jedoch abhalten: "Altgediente Abgeordnete wie Josef Cap, die befürchten mussten, nach der nächsten Wahl nicht mehr im Nationalrat zu sitzen, haben ihm davon abgeraten", sagt ein hoher Parteifunktionär.

Zudem kam Kern laut Beobachtern zwar "mit auffallend wenigen eigenen Vertrauten" ins Amt, beauftragte aber umso mehr externe Berater, darunter mindestens einen - den Dirty-Campaigning-Spezialisten Tal Silberstein -, der eine Latte an Altlasten mit sich herumschleppte. All das machte die Kreise innerhalb der SPÖ, die der Ära Faymann nachtrauern oder sich einen "nicht ganz so theoretischen Kurs", so ein langjähriges Parteimitglied, wünschen, nach und nach nervöser. Der Auftritt des neuen Parteiobmanns der ÖVP, Sebastian Kurz, als ernst zu nehmender Mitbewerber um die Wählergunst sowie ein Wahlkampf, in dem die SPÖ von einem Fettnäpfchen ins nächste tappte, brachten den Mythos - der sich all die Monate davor doch um den Erneuerer Kern gerankt hatte - vollends zum Einsturz.

Erste Reihe fußfrei

Kein Wunder also, dass am 15. Oktober das Halten des Stimmenanteils der SPÖ trotz Verlust von Platz eins wie ein Sieg gefeiert wurde - und quer durch die Parteihierarchie für Erleichterung sorgte. "Wir haben mit weit Schlimmerem gerechnet. Angesichts des ganzen Pallawatsch hier ist das ein gutes Ergebnis", so ein SPÖ-Mitglied am 15. Oktober im Festzelt. "Wichtig ist nur, dass wir vor der FPÖ liegen." Die Wahlarithmetik und der Wegfall einer Parlamentspartei (die Grünen werden zwar von der Liste Pilz ersetzt, das Team Stronach scheidet aber aus dem Nationalrat aus) bescheren der SPÖ außerdem ein zusätzliches Mandat.

Christian Kern, der kurz vor der Wahl noch als sicherer Ablösekandidat galt, hat mit diesem Wahlergebnis - das ziemlich genau bei dem seines Vorgängers Faymann liegt -dennoch eine wichtige Hürde genommen. Denn angesichts der schon am Wahlabend sich abzeichnenden Oppositionsrolle war plötzlich keiner der potenziellen Herausforderer mehr interessiert daran, allzu schnell in Kerns Fußstapfen zu treten. Hans Peter Doskozil, der sein Interesse an einer Nachfolge beziehungsweise einer Rolle in einer schwarz-roten oder rot-blauen Koalition niemals offen ausgesprochen hatte, hält sich auch jetzt nobel zurück. "Er sieht sich das Ganze jetzt einmal erste Reihe fußfrei an", hört man aus seinem Umfeld.

Auch Pelinka sieht den Verteidigungsminister zurzeit "in einer Warteposition" für eine zukünftige Regierungsrolle: "Das kann aber noch lange dauern." Umso mehr, als Landeshauptmann Hans Niessl, der - auch aufgrund der eigenen Erfahrungen im Burgenland - eine Koalition mit der FPÖ auch mehrfach öffentlich gutgeheißen hat, mit diesem Ansinnen auf Granit gebissen hat. Freilich auch deshalb, weil die Blauen derzeit weit mehr Interesse an einer Regierung mit der ÖVP an den Tag legen.

Das ist auch ein Grund, warum Parteigranden wie Andrea Kuntzl dem aktuellen SPÖ-Chef einen Vertrauensvorschuss geben: "Aus jetziger Sicht hätte man im Jänner wählen sollen, aber Kern wollte davor noch etwas weiterbringen, das spricht für ihn." Auch Pelinka ist überzeugt: "Solange keine andere Person ähnlich als eine Klammer wirkt, wie das doch Kern im Moment zu tun scheint, wird er sich auch halten können."

Kern macht indes aus der Notwendigkeit eine Tugend und verbessert ganz nebenbei die Gesprächsbasis zu bisherigen Kritikern. So war sein Verhältnis zum Wiener Bürgermeister und SPÖ-Chef Michael Häupl bislang nicht von besonderer Freundschaft geprägt. Immerhin hatte dieser den Medienmanager Gerhard Zeiler als Nachfolger Faymanns ins Spiel gebracht und war während eines Auslandsaufenthalts von der Designierung Kerns überrascht worden, erzählt ein Minister. Nun aber haben Kern und Häupl eine gemeinsame Achse: den Widerstand gegen die FPÖ. Dieser zeigt sich sowohl in einer Ablehnung der künftigen Regierung als auch in dem Nein zu Rot-Blau. "Dass Kern noch hier ist, hat er nur den Wienern zu verdanken", sagt ein Insider.

Linker Bürgermeister

Außerdem sind andere Optionen derzeit rar, so Pelinka: "Es kann immer bessere Köpfe geben. Die Frage ist nur: Wo sind diese versteckt?" Zwei Namen, die immer wieder fallen, sind der von Gesundheitsund Frauenministerin Pamela Rendi-Wagner und der von Klubobmann Andreas Schieder. Schieder - der in dieser Legislaturperiode geschäftsführender Klubobmann sein wird und damit für den eigentlichen neuen Klubchef Kern die parlamentarischen Feinheiten austariert - wird hinter vorgehaltener Hand allerdings immer öfter als künftiger Wiener Bürgermeister genannt. "Häupl will einen echten Linken als seinen Nachfolger aufbauen", so eine Abgeordnete. Der Mitbewerber, der seine Ambitionen auf den Bürgermeistersessel offen ausgesprochen hat, Wohnbaustadtrat Michael Ludwig, soll dieser Job-Description nicht entsprechen, munkelt man im Bürgermeisterbüro.

Rendi-Wagner, vor ihrem politischen Engagement Sektionschefin im Gesundheitsministerium, wird hingegen sehr wohl mittel- bis langfristig als Nachfolgerin ihres Mentors Kern gesehen. "Sie bringt alles mit, was eine Vorsitzende haben muss: Fingerspitzengefühl, Engagement und die Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten", sagt ein Mitstreiter.

Damit sie als erste Frau tatsächlich die Parteispitze erklimmen kann, muss sich in den Hierarchien der SPÖ freilich noch einiges tun. Denn von Halbe-Halbe ist man in der Sozialdemokratie auch im Jahr 2017 sehr weit entfernt. "Selbst für Posten innerhalb einer Ortsgruppe werden noch immer die männlichen Bewerber bevorzugt, unabhängig von Alter und Berufsstand", erzählt eine Sozialdemokratin. Auch auf höheren Ebenen müssen im Zweifelsfall immer die Frauen weichen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Nationalratsabgeordnete Elisabeth Grossmann, die mit Beginn der neuen Legislaturperiode mit Bundesrat Mario Lindner die Plätze tauschen wird.

Generalüberholung

Eine Erneuerung der Partei ist in jedem Fall unumgänglich, meint auch der Politikwissenschaftler: "Die SPÖ muss sich der umfassenden Frage stellen, für wen sie primär Politik macht." Es müsse geklärt werden, so Pelinka, ob das die Gruppe, "die einmal ,Proletariat' genannt wurde", sei, also "die von Migration, Europäisierung und Globalisierung verunsicherten Modernisierungsverlierer der Partei", oder "die wachsende Minderheit der jüngeren, besser gebildeten Modernisierungsgewinner, die in Migration und offenen Grenzen eine Chance und keine Gefahr sehen".

Genau zwischen diesen zwei Polen zieht sich bereits jetzt ein tiefer Riss und: "Der linke Flügel der Partei begrüßt es, dass wir dieses Mal in Opposition gehen, während der rechte Flügel der SPÖ glaubt, dass wir nur mit Regierungsverantwortung langfristig reüssieren kommen", sagt einer, der sich zurzeit noch keinem der beiden Lager zurechnen lassen will. Die Frage der ideologischen Neuausrichtung der Partei scheint damit jedoch aus jetziger Sicht fast unlösbar, will man eine Spaltung - und damit ein FPÖ/BZÖ-Schicksal - verhindern.

Da sich eine Regierungskoalition zurzeit jedoch ohnehin nicht anbietet, hat Kern Aufschub bekommen. Dieses, im längsten Fall fünf Jahre andauernde, Zeitfenster muss er nutzen, um aus der SPÖ eine glaubwürdige und effi ziente Oppositionspartei zu machen. "Allein darauf zu hoffen, dass es die FPÖ, wie schon einmal, von selbst zerbröselt und die SPÖ als einziger Koalitionspartner für die ÖVP übrig bleibt, wird es diesmal nicht spielen", sagt ein Landtagsabgeordneter, "außerdem bringt das nichts. Die SPÖ braucht dringend eine Generalüberholung."

Ob diese nun die Abkehr von "linkslinken Themen" ist, wie ein langjähriges Mitglied fordert, oder doch "ein eindeutiges Njet zur FPÖ", wie es eine andere Funktionärin formuliert, wurde noch nicht ausgestritten. Die Chefin der Sozialistischen Jugend, Julia Herr, fordert erst einmal ein neues Parteiprogramm: "Seit ich dabei bin, wurde diese Neuaufstellung immer nur halbherzig angegangen." Doch schon diese allein würde einiges bewirken: "Für alle, die in den Orts-und Bezirksorganisationen tätig sind, wäre es extrem motivierend, zu wissen, wohin die Reise geht." Aus ihrer Sicht müsse die SPÖ gar nicht weit nach links driften, dafür aber "kantiger und zugespitzter" agieren.

Auch strukturell muss einiges getan werden, stellt ein Bundesländer-Funktionär fest: "Wir haben ganz viele Baustellen in der Partei. Die größten sind die Landesorganisationen im Westen des Landes." Hans-Peter Martin, Buchautor und Kurzzeit-EU-Abgeordneter der SPÖ, sieht das größte Problem indes in Wien: "Die Löwelstraße (die Zentrale der Bundespartei, Anm.) ist ein Problemhaus und wird seit der Ära Vranitzky intellektuell und personell immer weiter entkernt."

Wolle man die Oppositionsrolle tatsächlich ausfüllen, brauche es wieder eine starke Machtbasis - außerhalb von Parlament und Ministerien.

Der Solidarität verpflichtet

Für den Politologen Pelinka stellt sich zumindest der inhaltliche Weg eindeutig dar: "Die SPÖ muss sich künftig auf Europa und die Konsequenz, die ein verdichtendes Europa für eine der Solidarität verpflichtete Partei hat, fokussieren." Gelingt ihr das, hätte sie auch wieder ein Angebot an die Wählerinnen und Wähler.

Ob aus dem Manager Kern mit seinen Kenntnissen der Usancen in der Wirtschaft so schnell ein Klassenkämpfer werden kann, den eine Oppositionspartei an ihrer Spitze braucht, bleibt abzuwarten. Noch spannender ist die Frage, welche Teile der Partei ihn auf diesem Weg begleiten werden. Kern sieht gelassen in die Zukunft: "Ich bin der nächste Spitzenkandidat, so das meine Freunde auch wollen."

In diesem Zusammenhang sind die altmodischen Anrufbeantworter in den SPÖ-Häusern das kleinste Problem der Partei. Sie werden vermutlich ohnehin schleichend von den Mailboxen der Diensthandys abgelöst.

Diese Modernisierung der SPÖ passiert damit quasi fast von allein.