Castingshows können nerven, aber auch emotional entlasten

Heidi Klum überrascht in jeder Staffel von "Germany's Next Topmodel" mit neuen Definitionen erstrebenswerter Eigenschaften, die Menschen herausragend und besonders machen. Dabei ist nicht mehr, so heißt es, das Äußere, sondern sind vielmehr Diversität, Ausstrahlung und Persönlichkeit entscheidend.

von LIEBES LEBEN - Castingshows können nerven, aber auch emotional entlasten © Bild: Nathan Murrell

Alles klar, offiziell schaut fast niemand "Germany's Next Topmodel". Und dennoch sind die Einschaltquoten konstant hoch und entlud sich die Empörung auf Twitter, als Heidi Klum bis zum Halbfinale das so genannte "Best Ager Model" Lieselotte von Folge zu Folge weiterkommen ließ. Kandidatin Lieselotte polarisierte weniger mit ihrem Alter von 66 Jahren als mit ihrer ungezwungenen Art, das Model-Business und die Chance, die sich einem in Heidis Show darbietet, ihren Mitstreiterinnen zufolge offenbar nicht ernst genug zu nehmen.

Was aber fesselt Menschen, teils skurrilen Modeshootings beizuwohnen, in dieser Staffel die Models in Ballonkleidern in taumelnder Höhe auf einer Schwingstange und vor dem Finale in brennenden Kleidern zu beobachten? Was befriedigen Formate wie "Germany's Next Topmodel","Deutschland sucht den Superstar","Popstars" und ähnliche Dauerbrenner? Studien zufolge geht es dem Publikum um reale Emotionen, die sie sich abholen können, wenn sie bei Heidi Klum &Co mitfiebern. Und es geht um "Mood Management". Das emotionale Mitschwingen hat folgende wünschenswerte Wirkung auf unsere Befindlichkeit:

1. Ablenkung und Entlastung. Wir werden gleichsam befreit von unseren Sorgen und der Schwere des Alltags. Wer Models in schwindelnder Höhe um den Status "der einen, die Germany's Next Topmodel wird" kämpfen sieht, findet nicht nur den ultimativen Thrill, sondern gerät ins Träumen angesichts bombastischer Roben und des feenhaften Stylings, was dem Effekt von Märchen und Fantasy-Filmen gleichkommt.

2. Identifikation. Nachdem in aller Regel lauter No-Names, also noch unentdeckte Menschen bei GNTM und DSDS teilnehmen, empfinden wir eine große Nähe zu ihnen. Sie haben Identifikationspotenzial.

3. Spirituelle Werte. Ja, richtig gelesen. In säkularisierten Zeiten, in denen Religion längst nicht mehr Einfluss und Stellenwert hat wie vormals, stellen junge -und jetzt eben auch schon ältere Frauen -die neuen Heiligen dar.

Durch die psychologische Brille betrachtet, erfahren sie mit jedem Weiterkommen in die nächste Runde moralische Aufwertung, indem sie sich qualifizieren, "schön genug","gut genug","des Aufstiegs würdig" zu sein. Wie in Märchen und Mythen müssen zuerst Mutproben bestanden werden, um sich als Held und würdig, als König oder Königin ein Reich zu regieren, die Klum'schen Topmodel-Anwärterinnen erfahren ihre "Heiligsprechung" mit jedem Foto, das Heidi ihnen übergibt.

4. Unterhaltung und Entspannung. Wir sehen zu, wenn andere bewertet werden, was uns paradoxerweise nicht nur zerstreut, sondern entspannt. Während die einen "gut genug" sind, hat es bei den anderen "leider nicht gereicht." Den Maßstab und die Norm setzen subjektive, meist intuitive Bewertungen von Jurymitgliedern, zu denen nun auch die 18-jährige Leni Klum zählt.

5. Verehrungskult. Das Finale bei Heidi Klum überstrahlt immer alles Vorstellbare. Wie eine Göttin wird sie an einem unsichtbaren Seil in die "Studio-Manege" hinabgelassen, wo sich dann die Gladiatorinnen der Schönheit um den begehrten Titel matchen. Denn "nur eine kann Germany's Next Topmodel" werden. Ich nenne das den "Prinzessin-auf-der-Erbse-Effekt": Die letzte Kandidatin, die auserwählt wird, darf der Göttin Heidi Klum im Model-Olymp nun auf Augenhöhe begegnen. Initiation beendet. Glotze aus. Und niemand will's gesehen haben, denn es ist ja zum Fremdschämen, wie schrecklich schön es war.