Wieder einmal purer, herrlicher Brecht

Das postdramatische Theater ist zuletzt in atemberaubender Eile gealtert. Es wird Zeit, dass erstklassige Texte nicht mehr von zweitklassigen Selbstdarstellern zermantscht werden.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Gestern“, so berichtet der Theaterdirektor La Roche in Richard Strauss’ Abschiedskammerspiel „Capriccio“, „traf ich den alten Goldoni, er saß verstimmt im Café de Foi.“ Dort war ich zwar noch nie, aber kürzlich doch in einer vergleichbaren (und ebenso aufgebrachten) Unsterblichkeits-Liga aufhältig. Ich ging die Annagasse hinunter zum Lokal „Sole“, und von dort kamen gerade Ileana Cotrubas, eine der drei größten Sopranistinnen, die ich je auf einer Opernbühne hören durfte, und ihr Mann, der Dirigent Manfred Ramin. Dass ich mich gleich niedergekniet habe, nützte mir nichts: Gleich kamen wir wieder über die Entwicklung der Opernregie ins Diskutieren. Ich habe Sie mit dem Thema schon so oft gelangweilt, dass ich mich kurz halten will: Gemeutert wurde schon, als Wieland Wagner den Helden seines Großvaters die Hörner vom Helm amputierte. Gemeutert wurde über Chéreau und Berghaus (zu progressiv), über Schenk und Zeffirelli (zu konservativ), und heute sind sie alle Götter.

Oper ist leicht und schwer in einem zu inszenieren, weil der Regisseur vom Komponisten an der Hand geführt wird. Er hat einem weitgehend vorgegebenen Ablauf zu folgen, und er muss verstehen, dass es in erster Linie um die Partitur geht. Dort sind alle Wahrheiten, alle Gefühle, alle Seelenverheerungen verborgen. Setzt der Regisseur also das meist (aber nicht immer) inferiore Libretto mit Musikverstand um, ist es gleichgültig, ob das Ganze auf dem Mond, unter Ratten oder in einem Atomkraftwerk spielt. Freilich muss man – und da bin ich beim mir wichtigsten Thema – einem Kind eine Inszenierung vorher erklären. Aber gilt das nicht für jeden Opernbesuch? Oder würden Sie Ihr Kind ohne Vorbereitung in „Parsifal“ oder „Don Carlos“ absetzen, gleich, wer inszeniert hat?

»Theatertexte unterliegen keinen Schutzmaßnahmen, und das ist ein Unglück«

Anders ist die Situation im Theater. Texte unterliegen, wenn ihre Verfasser eine entsprechend lange Zeit unter der Erde sind, keinen Schutzmaßnahmen mehr. Ich war mit meiner (jetzt Germanistik studierenden) Tochter vor nicht langer Zeit im „Woyzeck“, der für sie das Höchste der Dramatik verkörpert. Am Akademietheater hatte in glänzender Besetzung Johan Simons inszeniert. Aber auch abgesehen von der erkennbaren Sprachunkundigkeit des bedeutenden Theatermannes hat mir der Kommentar post festum meiner Tochter zu denken gegeben: Wären auf der Bühne nicht bestimmte Namen gefallen, wäre sie nie auf die Idee gekommen, „Woyzeck“ gesehen zu haben.

Das Problem, das sich „postdramatisches Theater“ nennt, wurde mir seit den Wiedereröffnungen am 19. Mai wieder vielfach bewusst. Ich habe am Akademietheater den von einem italienischen Provinzler zu lärmender Langeweile zermantschten „Bunbury“ gesehen. Der neue Volkstheaterdirektor hat sich an „Endspiel“, „Theatermacher“ und seinem eigenen Hang zu ziellosen Spielereien überhoben.

Versöhnt haben mich die Wiener Festwochen. Ich habe da am Dienstag wie verzaubert, nach Gott weiß wie langer Zeit, wieder einen Brecht und sonst nichts gesehen. Die unsterbliche Wooster Group musste aus New York einrücken, um uns „Die Mutter“ zu zeigen, prinzipiell keines von Brechts Meisterwerken. Die Gorki nachgebildete Geschichte einer proletarischen Analphabetin, die zur kämpfenden Kommunistin wächst, nahm sich zuletzt schon grenznordkoreanisch aus. Aber in dieser Zeit, in der sich das soziale Unrecht ins Unermessliche verschärft, gewinnt das in der richtigen Hand plötzlich an Schönheit und Dringlichkeit.

Und dann kommen die Amerikaner und zeigen pures, erstklassig ge- und bearbeitetes, klug kommentiertes, mit Gesinnung, sozialem Mit leid und intellektueller Redlichkeit aufgeladenes Lehrtheater. Die Woosters?, werden Sie jetzt fragen. Die haben doch seinerzeit das postdramatische Theater erst erfunden, die zerschlagenen, durchdeklinierten Texte, das aktionistische Überdrehen, die Videos! Damals, als man weder die Giganten Castorf und Schlingensief noch ihre heutigen, inferioren Epigonenherden kannte? Stimmt. Aber gescheite Menschen sind lern fähig, und das gibt mir auch für das Theater Hoffnung.