Der blinde Fleck

Die kuriose Aufstellung bei der Bundespräsidentenwahl - einer gegen viele, die aber letztlich chancenlos sind - sorgt dafür, dass die Gefahr von rechts in Österreich derzeit unterschätzt wird.

von Anna Gasteiger © Bild: News/Ricardo Herrgott

Der langsam Fahrt aufnehmende Bundespräsidentschaftswahlkampf bringt den Zustand des politischen Systems in Österreich gut auf den Punkt: Der Vertreter des Systems vermag nicht wirklich zu begeistern, während von rechts und links, vor allem von rechts, Anti-Establishment-Kandidaten ins Scheinwerferlicht des Wahlkampfs drängen. Die man aber, gerade weil es so viele sind, nicht ernst nehmen muss, weil sie sich gegenseitig die Stimmen wegnehmen. Genial. Problem gelöst, ohne sich mit Grundsatzfragen auseinandersetzen zu müssen. In Österreich ist alles immer nicht so schlimm, außer es wird wirklich ganz schlimm, aber so schlimm, dass es ganz schlimm ist, kann es erfahrungsgemäß eigentlich gar nicht werden. Also: weitermachen wie bisher. Die Regierungskoalition hat zwar keinen richtigen Plan, wie sie die Teuerung bekämpfen will, aber immerhin ist sie an der Macht. Die SPÖ hat viele Pläne, wie sie die Teuerung bekämpfen will, von denen nach Meinung vieler Ökonomen kein einziger sinnvoll umsetzbar ist, aber immerhin hat sie Platz eins in den Umfragen. Und Alexander Van der Bellen wird schon wieder gewinnen. Herzliche Gratulation. Unterdessen steigen die Umfragewerte der FPÖ langsam, aber sicher wieder an.

Oft hört man jetzt die Einschätzung, die Freiheitlichen hätten sich qua ihres umstrittenen Parteichefs selbst aus dem Rennen genommen. Ob das nicht eher Wunschdenken ist? Ein blinder Fleck, unerklärlicherweise? Der Auftritt von Herbert Kickl im ORF-"Sommergespräch" vergangenen Montag war eine Offenbarung. Natürlich, Kickl hat nicht den Charme oder das gute Aussehen seiner Vorgänger, aber er hat sichtlich einen Plan, und zwar keinen, der für dieses Land gut wäre. Dieser Mann hält sich an keine Regeln, auch nicht an die eines zivilisierten Gesprächs, dieser Mann will die Regeln selbst machen. Und auf dem Weg dorthin ganz viel zerstören.

Das Problem: Er hat in vielem, was er sagt, recht. In vielem auch nicht. Un- und Halbwahrheiten sind mit klarsichtigen Analysen so eng verwoben, dass sie auf den ersten Blick nicht leicht zu unterscheiden sind. Aber Kickl spricht Probleme offen an, um die sich die anderen herumschwindeln. Der Krieg und die Sanktionen? Natürlich kommen jetzt viele ins Grübeln. Der Umstieg auf Erneuerbare? Wird äußerst schwierig, das sagen auch Experten. Es ist ein Fehler, Kickl diese Themen zu überlassen. Ein noch größerer Fehler ist es, nur seine Deutungen zeitversetzt und abgeschwächt zu übernehmen, das sollte nach Jahrzehnten des innenpolitischen Infights mit den Rechtspopulisten eigentlich endlich klar sein.

»Überall da, wo Machthaber nicht offen kommunizieren, schwindet das Vertrauen«

Die Muster sind während der Coronapandemie sehr deutlich geworden: Überall da, wo Machthaber nicht offen kommunizieren, sich hinter Phrasen verstecken, taktieren und offensichtliche Probleme wegreden, anstatt sich ihnen offen und intellektuell redlich zu stellen, bricht früher oder später Unzufriedenheit aus, und das Vertrauen schwindet. Können sie nicht? Wollen sie nicht? Egal, es reicht nicht mehr. Die rechten Verführer sind eine Gefahr, nicht mehr nur für Österreich, sondern für die ganze westliche Welt. Sie sollte genauso ernst genommen werden wie die anderen Gefahren, die unsere Gesellschaft derzeit bedrohen.